Abstract [de]: Nicht zulasten zukünftiger Generationen handeln – das ist, was man für gewöhnlich unter Generationengerechtigkeit versteht. Doch der Begriff umfasst weit mehr. Was er bedeutet, ist immer auch abhängig von der Lebenserfahrung einer bestimmten Alters-Kohorte. Es ist daher sinnvoll, den Blick nicht ausschließlich auf zukünftige, sondern auch auf vergangene Generationen zu richten. Historische Gerechtigkeit in Form der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte wird so zu einem gleichwertigen Aspekt von Generationengerechtigkeit wie die aktuelle Frage nach einer gerechten Verteilung von Ressourcen. Auch nationalen und globalen Kategorien wird auf diese Weise die gleiche Bedeutung beigemessen. Ein umfassenderes Verständnis des in der Philosophie und Ethik relativ neuen Begriffs ermöglicht somit vor allem eines – den Verzicht auf Perspektivendominanz und den damit einhergehenden geweiteten Blick auf die Frage: „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“

Generationengerechtigkeit aus ethischer Perspektive – auch eine Frage des Kohorten-Effekts und der biographischen Lebensperspektive

November 2010

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Wenn wir von Menschen sprechen, die 2030 zwanzig Jahre alt sind, dann sind das die Neugeborenen von heute, dem Jahr 2010. Die Eltern dieser Neugeborenen sind in Deutschland rund 30 Jahre alt, also etwa 1980 geboren. Die Großeltern der jungen Eltern von heute hatten ihre eigenen Kinder im Lebensalter „Mitte Zwanzig“. Sie gehören also zur Generation der 50er Jahre. Jede dieser Alterskohorten hat eigene Erfahrungen gemacht, die ihren Blickwinkel prägen.

Wenn wir von Generationengerechtigkeit sprechen, ist es sinnvoll, den Blick sowohl nach vorn wie auch zurück zu wenden. Dabei ist Generationengerechtigkeit in der Philosophie und Ethik ein ziemlich neuer Begriff. Er wird besonders dort gerne verwendet, wo es um langfristige Folgen des Handelns und Unterlassens der heute lebenden Erwachsenengeneration geht und wo die Befürchtung besteht, heutiges Handeln gehe zu Lasten künftiger Generationen. Generationengerechtigkeit wird hier zu einem Teil der Verteilungsgerechtigkeit.

Da die Menschheit in den letzten hundert Jahren explosiv von 1 Milliarde auf 7 Milliarden gewachsen ist, geht es insbesondere um die Frage des demographischen Wachstums und- in Ländern wie Deutschland- um Fragen des demographischen Wandels. Dazu kommen klassische Fragen von Armut und Reichtum oder auch die Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns, etwa im Blick auf den Klimawandel, den zu lagernden Atommüll, die Überfischung der Weltmeere, die Abholzung des tropischen Regenwalds und vieles mehr.

Zur Generationengerechtigkeit gehört allerdings nicht nur der Blick in die Zukunft, sondern auch die Auseinandersetzung mit den vergangenen Generationen. Die mögliche Versöhnung mit der eigenen Familiengeschichte ist eine Grundvoraussetzung für ein glückliches und gesundes Leben, das dann seinerseits auf die nächste Generation ausstrahlt.

Umgekehrt gehört die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte zu den besten Qualitäten eines Volkes, einer Gesellschaft, eines Landes- und dies möglichst nicht nur aus dem Blickwinkel der Sieger. So gehen Australien und Neuseeland trotz mancher Mängel eher aktiv mit der Geschichte der Aborigines und der Maoris um, was man von Spanien im Blick auf Lateinamerika und den USA im Blick auf Indianerstämme vermutlich nicht so sagen würde. Auch in Deutschland ist vieles an Aufarbeitung der Geschichte, besonders zwischen 1933 und 1945, geschehen. Unsere Väter und Großväter, Mütter und Großmütter waren daran beteiligt, ob sie und wir es wollten oder nicht. Generationengerechtigkeit wird damit auch zur Frage nach historischer Gerechtigkeit, in Familiengeschichten und darüber hinaus.

Dabei können wir uns drehen und wenden, wie wir wollen: Wir können dem eigenen Blickwinkel nicht völlig entkommen und unterliegen auch hier wieder dem Effekt der kollektiven Kohorten-Erfahrung. Wir können allerdings den Blick weiten und lernen, andere Perspektiven als möglich, sinnvoll und gültig wahrzunehmen

Welche Rolle der Kohorten-Effekt bei der Wahrnehmung von Generationengerechtigkeit spielt, möchte ich an zwei Beispielen zeigen.

So wurde mein Vater 1927 geboren und war mit 15 Jahren stolzer Flakhelfer im 2. Weltkrieg. Unrechtsbewusstsein hatte er nicht, wie er heute erzählt. In meiner eigenen Kindheit in den 60er Jahren kam das Thema jedoch kaum vor. Ich bin 1956 geboren, und die Lehrer in unserer Schule haben uns erzählt, dass der Geschichtsunterricht deshalb 1914 endet, weil alles andere noch so frisch ist. Wir haben uns gewundert und dachten uns, dass die Geschichtswissenschaft offensichtlich zu allem, was frisch ist, nichts zu sagen hat. Zur Kohorten-Erfahrung meiner eigenen Generation gehört daher das Schweigen der Älteren, wenn wirklich oder scheinbar unpassende Fragen gestellt wurden.

Ein zweites Beispiel. Zur Lebenserfahrung der 1980 geborenen Menschen gehört unweigerlich der 11.September 2001, der Irak-Krieg und alles, was mit dem Begriff „Krieg gegen den Terrorismus“ bezeichnet wird. Ebenso aber auch das Aufkommen des Internets, das Mobiltelefon und die Frage nach den Folgen von Klimawandel, nach energetischer Nachhaltigkeit und der eigenen Zukunft angesichts steigender Rentner- und sinkender Kinderzahlen.

Die Perspektive einer Kohorte prägt auch den Blickwinkel auf die Frage nach Generationengerechtigkeit. Was für die eine Generation selbstverständlich ist, ist es für die andere keineswegs. Will man nicht der Dominanz eines bestimmten Blickwinkels das Wort reden, dann müssen wir aus ethischer und philosophischer Sicht anerkennen, dass wir nicht ohne weiteres die Perspektive einer anderen Generation vorweg nehmen können.

Die Geschichte zeigt nämlich immer wieder: Was den einen selbstverständlich ist, zählt für die nächste Generation nichts. Was den einen zum blinden Fleck wird, kann für die nächste Generation entscheidend für die Beurteilung einer ganzen Zeit werden.

Der Verzicht auf Perspektivendominanz darf allerdings nicht zur billigen Ausrede dafür werden, dem Begriff der Generationengerechtigkeit den Sinn abzusprechen. Denn verantwortlich sind wir aus ethischer Sicht für das, was wir mit zumutbarem Aufwand tun oder unterlassen können. Ich möchte in diesem Zusammenhang einige wenige Punkte herausgreifen.

Zur Generationengerechtigkeit im Blick auf die heutigen Herausforderungen gehört beispielsweise der Umgang mit der Entwicklung der Bevölkerung sowohl in Deutschland wie auch in der Welt.

In Deutschland fehlen 2030 nach heutiger Berechnung 5 Millionen Arbeitskräfte. In einer globalisierten Welt gibt es eben zahlreiche Unternehmen, die exportieren und die Menschen hier in Deutschland auch dann brauchen, wenn unsere Bevölkerung zurück geht. Der einzelne junge Mensch 2030 wird daher in Deutschland ungeheuer wertvoll sein. Es ist hoch wahrscheinlich, dass die Ressource Bildung an Bedeutung noch weiter zunimmt.

Es wäre allerdings unfair, den Blick nur auf Deutschland und Europa zu lenken. Zur Generationengerechtigkeit gehört ja sofort die Frage nach dem Begriffsumfang: Ist nur die eigene Familie, die eigene Gesellschaft, Europa oder die ganze Weltgesellschaft gemeint?

Deutet man Gerechtigkeit mit dem Philosophen John Rawls als Fairness, dann liegt es nahe, Blickverengungen tribalistischer Art zu vermeiden, sich also tatsächlich der globalen Zivilgesellschaft zuzuwenden.

Damit ist gesagt, dass die globale Zivilgesellschaft, verstanden als die Gesamtheit aller heute lebenden Menschen, soweit sie nicht in der Form staatlichen Handelns oder- am anderen Ende der Skala- als kriminelle oder mafiöse Vereinigung organisiert sind- zum moralischen Akteur wird. Dies bedeutet im Blick auf die Bevölkerung beispielsweise, dass es einen Ausgleich geben muss zwischen Regionen mit Einwanderungs- und solchem mit Auswanderungsdruck.

Unser „Institut für Sozialstrategie“ spricht sich hier für die Registrierung solcher Bedürfnisse in einer „World Migration Organisation“ (WMO) aus, auch im Blick auf verbindliche Standards für die Anwerbung von Menschen aus anderen Ländern im eigenen Land.

Die globale Zivilgesellschaft ist andererseits auch im Blick auf die Generationengerechtigkeit lokal zu buchstabieren. Schauen wir uns den 20-jährigen Menschen in Deutschland im Jahr 2030 an, dann wird – so scheint es mir- folgendes deutlich: Er lebt nach wie vor in einem wohlhabenden Land, aber die Sozialsysteme ächzen und stöhnen, wie sie es heute noch lange nicht tun. Im öffentlichen Diskurs wird die Rolle Europas und der Regionen in Europa eine noch wichtigere Rolle spielen als heute. Die Frage nach Religion und Religionen wird neu gestellt werden, schon im Blick auf den zunehmenden religiösen Wettbewerb zwischen Christentum und Islam. Die Frage „Bleiben oder gehen“ wird für gut qualifizierte Menschen eine große persönliche Bedeutung erringen. Und über den individuellen Lebensentwurf hinaus wird sich die Frage erneut und in größerer Deutlichkeit stellen: In welcher Gesellschaft möchten wir leben?

Jungen Menschen dafür demokratische und sinnerfüllte Perspektiven zu geben, das ist ein ganz wesentlicher Teil von Generationengerechtigkeit, der noch allzu häufig übersehen wird.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit

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Posted by Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel

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