Abstract [en]: In the second part of his article “Hannah Arendt – Rethinking freedom. Dangers of self-destruction of democracies” published here, Dr. Bruno Heidlberger deals in detail with the Russian war of aggression in Ukraine and the failure of German foreign policy. Beginning with the fatal consequences the assumption of a teleological development of mankind in a positive direction, he traces the(mis)assessments and developments in Germany in a broad block of information.These were abruptly ended by Putin when violencereturned with him as a means of politics.Arendt’s books proved themselves through this , such as “Origin and Elements of Total Domination” or “About the Revolution” as still valid Thinking out how to design the applications that fit this century, with Hannah Arendt we could rethink freedom, says Bruno Heidlberger, and learn from strategic mistakes that are based, for example, on a purely economic concept of politics.

Abstract [de]: In dem hier veröffentlichten zweiten Teil seines Artikels “Hannah Arendt – Freiheit neu denken. Gefahren der Selbstzerstörung von Demokratien“, setzt sich Dr. Bruno Heidlberger ausführlich mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und dem Versagen der deutschen Außenpolitik auseinander. Beginnend mit den fatalen Folgen der Annahme einer teleologischen Menschheitsentwicklung in positiver Richtung, zeichnet er in einem breiten Informationsblock die (Fehl-)Einschätzungen und Entwicklungen in Deutschland nach. Diese wurden durch Putin jäh beendet, als mit ihm die Gewalt als Mittel der Politik zurückkehrte. Dadurch erwiesen sich Arendts Bücher, wie “Ursprung und Elemente totaler Herrschaft” oder “Über die Revolution”, als nach wie vor gültig. Wenn man die Freiheit als das Ziel der Politik und die Abwehr ihrer Gefährdungen nicht aus den Augen verlieren wolle, bleibe uns die Aufgabe, aus ihrem Denken heraus die für dieses Jahrhundert passenden Anwendungen zu gestalten. Mit Hannah Arendt könnten wir Freiheit neu  denken, so Bruno Heidlberger und aus strategischen Fehlern, die beispielsweise auf einem rein ökonomischen Begriff von Politik beruhen, lernen.


Februar 2023

Hannah Arendt – Freiheit neu denken. Teil 2

Gefahren der Selbstzerstörung von Demokratien

Inhalt

  1. Wie konnte es soweit kommen?
  2. Wirtschaft kann Freiheit zerstören
  3. Der Lauf ins offene Messer
  4. Wenn das Leben und die Ökonomie das höchste Gut sind, gehen Freiheit und Würde verloren
  5. The past is never dead, it is not even past – Geschichte und Lüge als Waffen der Repression und Aggression
  6. Die Zukunft des Westens

Wie konnte es soweit kommen?

„Wir haben es nicht gewusst, wir haben es uns nicht vorstellen können“, waren die häufigsten Sätze der Tage nach dem 24. Februar. „Nie hätten wir uns vorstellen können, dass einmal die Trümmer des Kiewer Fernsehturms auf das Gelände von Babyn Jar herabstürzen würden, wo im September 1941 über 33.000 Kiewer Juden ermordet wurden,“[i] sagte der Historiker Karl Schlögel in seiner Rede am 6. März 2022 auf dem Bebelplatz in Berlin. Die Fähigkeit des Menschen, drohendes Unheil zu verdrängen, ist groß. Wir waren zu verliebt in unseren Frieden, den wir für einen ewigen hielten, in unseren kleinen oder großen Wohlstand, zu sehr mit den alltäglichen Dingen beschäftigt und vergaßen die Welt um uns und ihre Geschichte. Es ist bequemer, in der Blase der eigenen Illusionen zu leben. Seit 1989 glaubte man Fukujamas Erzählung vom Ende der Geschichte, an die Mehrung des Wohlstands, an ein Gesetz des Fortschritts. Für Arendt ein abwegiger Gedanke. Zivilgesellschaftlich Aktive waren fokussiert auf Themen wie, Gender, Klima, Umwelt. Man verlor die nationalen und internationalen institutionellen Rahmenbedingungen aus dem Auge. Viele Jahre wurde der politische Feind links oder rechts verortet, aber nicht außerhalb des Landes; die Demokratie gar als Diktatur, die Presse als Lügenpresse, beschimpft. Besonders die ältere Generation glaubte das Licht des Friedens nach Russland tragen zu können. Sie trug schwer an Trauer, Scham und Schuld und sah in Russland immer noch den Befreier, unfähig, eine andere Perspektive einzunehmen – trotz Russlands Menschenrechtsverletzungen und Neoimperialismus. Putin war es mit seinen Troll-Fabriken und seiner Fünften Kolonne im Westen gelungen, Millionen von Menschen zu täuschen. Bis zuletzt glaubte man, wer Handel treibt, schießt nicht. Welch ein Irrtum!

Wirtschaft kann Freiheit zerstören

„Aber seit dem 24. Februar wissen wir, worum es wirklich geht: Er hat uns über Jahre in die Irre und an der Nase herumgeführt, begleitet von einem Netzwerk deutscher Unternehmer und Politiker, die, wie es Friedrich Merz formuliert, „ihren Verstand dem Geldverdienen untergeordnet haben“.[ii] Die politischen und wirtschaftlichen Eliten definierten die Freiheit einseitig als wirtschaftliche Freiheit und gingen einen deutsch-russischen Sonderweg, der ungute Erinnerungen an die geheime Zusammenarbeit zwischen der Reichswehr und der Roten Armee 1921, den Vertrag von Rapallo 1922 und an den Stalin-Hitler-Vertrag 1938 wachrief. Die kolonialen Ansprüche der Nationalsozialisten in Osteuropa und der koloniale herablassende Blick Deutschlands auf Osteuropa hinterließen ihre Spuren. Die Warnungen der Vereinigten Staaten und der osteuropäischen und baltischen Nachbarn wurden nicht ernst genommen. Nord Stream 2 wurde mit Russland vereinbart ohne die EU einzubeziehen. Diejenigen, die eine werteorientierte Außenpolitik einforderten, gar den Stopp der Gaspipeline, wurden als Hypermoralisten und realitätsfern verhöhnt. Von der Friedensdividende konnte man gut leben. Deutschland wollte wie eine große Schweiz sein, die mit allen gute Geschäfte macht, sich aber aus Konflikten heraushält. „Es haben zu viele die Gläser auf eine Welt erhoben, die draußen nicht mehr stattfand“.[iii]

Die deutsche Abhängigkeit vom russischen Gas hat tiefere Ursachen als Gerhard Schröders Männerfreundschaft mit Putin. Sie ist hat ihre Wurzeln, die weit in die Ära des Kalten Krieges zurückreichen. 1968 begrüßte Willy Brand den Bau westdeutscher Pipelines in der UdSSR mit Gas und Öl aus dem Osten zu finanzieren, trotz der Niederschlagung des Prager Frühlings durch russische Panzer. Der Einmarsch der Sowjetunion 1979 in Afghanistan oder die Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981 blieben ohne Konsequenzen. Die Amerikaner warnten vor einer Erpressung durch die Sowjetunion und einer „Finnlandisierung der Bundesrepublik“ – einer durch Moskau erzwungenen Neutralität. „Immer wieder hat die Bundesrepublik dabei trotz Drängen der USA die Moral zugunsten wirtschaftlicher Interessen zurückgestellt“,[iv] bemerkt Frank Bösch, Professor für Europäische Geschichte in Potsdam. Über die wachsende Bedeutung von Menschenrechten in der internationalen Politik sah man hinweg. Das betrifft auch die Geschäfte mit Libyen, Saudi-Arabien oder der islamischen Diktatur.

Die Nationalpazifismus zeigt hier seine egoistische Seite. Auch ein kaum verhohlener Antiamerikanismus. Peter Struck, der verstorbene SPD-Politiker, sagte 2007, man müsse „gleiche Nähe haben zwischen uns und Amerika einerseits, uns und Russland andererseits“.[v] Martin Schulz, der spätere Kanzlerkandidat und damalige Fraktionsvorsitzende der SPD im Europaparlament, sah das genauso. „Die EU hat im vorigen Jahr aus Russland Erdöl und Erdgas im Wert von 90 Milliarden Euro importiert. Russlands Militärbudget betrug im selben Jahr 62 Milliarden Euro“.[vi] Russland nutzt das Geld, um seine Wirtschaft gegen die Sanktion zu stabilisieren und seinen Krieg gegen die Ukraine weiter zu finanzieren. In seiner Rede im Deutschen Bundestag am 17.03.2022 betonte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj: „Wir haben immer gesagt, Nord Stream 2 ist eine Waffe; ihr habt immer gesagt, das ist Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft“. So sei diese Pipeline „zum Zement der Mauer geworden hinter der sich Deutschland nun wieder befinde“.[vii]

Es rächt sich nun, dass man meinte, materieller Wohlstand würde automatisch zu Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte führen, obwohl man schon frühzeitig gegenteilige Effekte wahrnehmen konnte. Die Lebensdauer autoritärer Regimes wurde verlängert. Das optimistische Konzept einer deutsch-russischen Modernisierungspartnerschaft „Wandel durch Verflechtung“ prägte gleichwohl die Russlandpolitik von Schröders SPD, aber auch von Merkel. „Anders als Schröder trat sie – ähnlich wie in Moskau – nicht mehr allein als Handelsreisende auf. […] Die deutsche Wirtschaft beschwerte sich über die Kosten von Merkels moralischer Außenpolitik, Außenminister Steinmeier zeigte sich verstimmt und äußerte, er sei ‚kein Krawallmacher‘“ (Bollmann, 305f.). Dennoch: „Wirtschaftsliberalismus und die sozialdemokratische Ostpolitik haben auf ungute Weise zusammengewirkt“,[viii] meint Ruprecht Polenz bis 2013 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses für die Union. „Merkel misstraute zwar nach wie vor Putins Absichten, sie betrachtete den Präsidenten aber als einen berechenbaren Politiker, der sich innerhalb seines Koordinatensystems zweckrational verhielt (468f).“ Kriegerische Konflikte machen unter rationalen Gesichtspunkten bei wirtschaftlich eng verflochtenen Volkswirtschaften keinen Sinn.

Im Nachhinein wird deutlich, Merkel war nicht in der Lage, Putins „Koordinatensystem“ zu lesen, obwohl seine neoimperiale und antiliberale Politik offen lag. Merkel setzte auf die kommunikative Vernunft. Allein im Krisenjahr 2014 gab sie zu 27 Gesprächen mit Putin öffentliche Erklärungen ab. „Sie sagen sich alles ins Gesicht“, berichten Mitarbeiter. „Gelegentlich brüllten sie auch“ (Bollmann, 468). Putin hat Merkel belogen: Er plane keine Annexion der Krim und die grünen Männer seien Soldaten auf Urlaub. In bewusster Missachtung der Kosten-Nutzen-Logik kam es am 2. März 2014 zum Einmarsch russischer Truppen auf der Krim. Merkel räumte ein, dass sie sich in Putin getäuscht hatte. Sie verurteilte zwar Putins Einmarsch als „völkerrechtswidrig“, ein militärisches Vorgehen lehnte sie im Umgang mit einer Atommacht ab (Bollmann, 473). Am 13. März, drei Tage vor dem Referendum auf der Krim, nahm Merkel in einer Regierungserklärung zum EU-Gipfel Bezug auf die Analogien zum Ersten Weltkrieg. Putin habe einen Konflikt um Einflusssphären vom Zaun gebrochen, wie wir ihn eigentlich aus dem 19. oder 20. Jahrhundert kennen, einen Konflikt, den wir für überwunden gehalten hatten (473).“ Am 6. Februar flogen Merkel und Hollande zu Poroschenko nach Kiew, danach besuchte sie Putin in Moskau, dann Obama in Washington. „Senatoren aus Washington erkundigten sich in scharfem Ton, warum Merkel partout keine Waffen an die ukrainische Regierung liefern wolle“ (478). Sie bezog sich auf ihre ostdeutschen Erfahrungen 1989 und auf die Zurückhaltung der USA während des Kalten Krieges. Waffenlieferungen könnten nicht dazu führen, „dass Präsident Putin so beeindruckt ist, dass er glaubt, militärisch zu verlieren, es sei denn – über es sei denn möchte ich nicht sprechen“ (478). Ein historisch fragwürdiger Vergleich. Merkel setzte weiter auf das Wort und eine Politik des langen Atems. Trotz der Annexion der Krim und der Inbesitznahme von Teilen der Ostukraine durch russische Separatisten wurde im September Nord Stream 2 unterzeichnet. Dies, obwohl die EU an einer „Energieunion“ arbeitete, um sich unabhängiger von russischen Importen zu machen. Mehrere Transitländer protestierten, auch die Ukraine. Polen und die USA lehnten ebenfalls ab. Ein folgenschwerer Fehler. Zudem: Wirklich benötigt wurde das zusätzliche Gas nicht. „Nord Stream 2 sei energiewirtschaftlich unnötig, umweltpolitisch schädlich und betriebswirtschaftlich unrentabel“,[ix] so Claudia Kaempfert. Ließ die pragmatisch denkende Kanzlerin sich zu sehr von ihrem ideologischen Koalitionspartner treiben? Oder hat sie sich gar zur Geschäftsführerin einer Old Economy machen lassen, einer Industrie, deren Anteil an der Wertschöpfung des BIP 2020 nur 26,19 Prozent betrug, die von billigen fossilen Brennstoffen abhängt, aber in der postindustriellen Gesellschaft keine Zukunft mehr hat? Sigmar Gabriel, der damalige Wirtschaftsminister, habe unglaublichen Druck gemacht. Die Wirtschaft, in der die Russlandlobby stark war und über den Ostausschuss der deutschen Wirtschaft sich Gehör verschaffte, wollte billiges Gas und lieferte Deutschland sehenden Auges einem Energiemonopolisten aus. Erst seit Kriegsbeginn ist das Genehmigungsverfahren gestoppt.

Der Lauf ins offene Messer

Das Konzept Egon Bahrs, Wandel durch Annäherung, war damals aus der Zeit gefallen, wie der Historiker Heinrich August Winkler und SPD-Mitglied 2016 kritisierte. „Die SPD sollte sich in der Russland-Politik in Realismus statt in Wunschdenken üben. Putin will die Revision der Grenzen Europas“. „Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und dem hybriden Krieg in der Ostukraine“ habe Putin „faktisch die Unterschrift Gorbatschows unter die Charta von Paris vom November 1990 zurückgezogen“.[x] Wirklich ernst genommen hat das niemand. Zwei Jahre nach Russlands Überfall auf die Ukraine forderte Außenminister Frank Walter Steinmeier, von 1999 bis 2005 Chef des Bundeskanzleramtes unter Gerhard Schröder, der wie kaum ein anderer für die deutsche Russlandpolitik steht, eine Lockerung der EU-Sanktionen. 2016 kritisierte er ein Nato-Manöver in Osteuropa als „Säbelrasseln“ und „Kriegsgeheul“. 2016 hielt Steinmeier eine Rede in Jekaterinburg, wo er sechs Jahre zuvor die Ehrendoktorwürde verliehen bekam. 2008 stellte er dort sein Konzept einer deutsch-russischen Modernisierungspartnerschaft vor. Seine Rede begann er mit: „Sehr geehrter Herr Außenminister, lieber Sergej, […]. Zu Beginn stellte er die Frage in den Raum: „Können wir einander lesen?“ In der deutschen Sprache bedeute das: „Sind wir in der Lage, dem anderen zuzuhören, effektiv miteinander zu kommunizieren, die Signale, die der andere sendet, richtig zu interpretieren? Können wir, kurz gesagt, einander verstehen?“ Steinmeier betonte, es gehe darum, trotz Ukraine-Krise „das Gespräch zu suchen, auch wenn es schwieriger geworden ist, und im Dialog zu bleiben – ernsthaft, respektvoll, kritisch, und vor allem: lösungsorientiert“. „Politik sollte sich niemals in Kategorien der Endgültigkeit bewegen – damit würde sie sich selbst zum Scheitern verurteilen, oder überflüssig machen“.[xi]. Lawrow hat Steinmeier nicht ernst genommen, er hatte sich schon über seinen Kollegen Westerwelle bei den Syrien-Gesprächen lustig gemacht. Konnte Steinmeier Putin lesen? Olaf Scholz hielt North Stream 2 wider besseren Wissens noch vor wenigen Wochen für ein „rein privatwirtschaftliches“ Projekt.[xii] Noch 2021 verteidigte und begründete Steinmeier den Bau der Pipeline mit der besonderen historischen Verantwortung für die deutschen Verbrechen gegen die Sowjetunion, was für die Ukrainer, die selbst Millionen Opfer zu beklagen hatten, einer schallenden Ohrfeige gleichkam. Eine „bittere Bilanz“, so fasst Steinmeier Deutschlands Fehler in der Russlandpolitik der letzten 20 Jahre zusammen. Seine Abkehr von Putin vollzog Steinmeier als die russischen Panzer an der ukrainischen Grenze standen, in der Rede nach seiner Wiederwahl am 13. Februar 2022.

War das aus damaliger Sicht eine gute Politik? Warum konnten Merkel und Steinmeier Putin nicht lesen? Warum hat man ihn nicht an seinen Taten gemessen? Oder war es nicht nur diese Unfähigkeit, der Mangel an cultural knowledge, die in diese fatale existenzielle Abhängigkeit führte, sondern „die Bereitschaft zur finanziellen oder moralischen Korruption“,[xiii] wie Christian Bangel fragt. Drei Personen standen im Zentrum: Schröder, Putin und Matthias Warnig. Letzterer, ein ehemaliger Stasi-Offizier und Teil einer von Putin gegründeten KGB-Zelle, als Putin noch in Dresden spionierte, den Putin zum Chef von Nord Stream AG machte. Nach 2014 war er die wichtigste Person für die deutsch-russischen Beziehungen. „Es war klar zu sehen: Wer Nord Stream 1 und Nord Stream 2 unterstützt, der bezahlt damit Putins Kriegsmaschine“, erklärt der dänische Journalist und Nord-Stream-Experte Jens Hovsgaard in seinem Buch Gier, Gas und Geld. Im November 2005 schied Schröder aus dem Amt des Bundeskanzlers. Zeitgleich nannte er Putin einen „lupenreinen Demokraten“ und nahm kurz danach Putins Angebot an, den Aktionärsausschuss von Nord Stream zu leiten. Steinmeier war für Putin jetzt die wichtigste Brücke in die deutsche Politik. Angela Merkel habe das Netzwerk Schröder-Steinmeier-Schwesig-Wiese-Putin gewähren lassen.[xiv] Merkel und Steinmeier hätten es besser wissen können. Ein folgenschwerer Fehler. Matthias Platzeck zog die Konsequenz und trat als Vorstandsvorsitzender des Deutsch-Russischen Forums zurück. Der Osteuropaexperte Stefan Meister sieht den Ursprung der falschen Russlandpolitik der Bundesregierung im Jahr 2008, spätestens aber 2014 hätte man lernen können und müssen. Das Festhalten der Regierung an ihrer Strategie „Wandel durch Handel“, nennt Meister „Realitätsverweigerung“. Dazu gehört auch, dass die Politik weder auf Osteuropaexperten hörte, noch dass man Putin ernstnahm. „Im russischen Staatsfernsehen wurde ganz offen gesagt: „Wir bauen Nord Stream 2 fertig und dann knallen wir die Ukraine ab“, berichtet die Russland­expertin Golineh Atai am 5. Mai bei Markus Lanz und fragte, in welcher Realität Politiker lebten, wenn sie nach Moskau kommen.

Im Ergebnis finanzierte diese Politik Putins Kriegsmaschine. Sie lieferte Deutschland und die Ukraine Russland aus und errichtete mit der Pipeline durch Europa eine neue Mauer. „Putin hat das Naturell eines Banditen. Und das seit Anbeginn seiner Karriere,“[xv] meint der russische Oppositionelle Michail Chodorkowski. „Diese Tragödie war absehbar. Die deutsche und europäische Politik hat viel zu lange die Augen vor der Gewaltpolitik des Kremls verschlossen“,[xvi] erklärt Marieluise Beck. Wir haben uns viel zu lange in eine selbstverschuldete Abhängigkeit eines Paria Staates, der jedwede Freiheit und Menschenwürde verachtet, begeben. Spätestens mit der Krim-Annexion hätte man mehr auf Abschreckung und auf eine andere Energiepolitik setzen müssen. Viel zu lange nach der Krim-Krise 2014 haben Deutschland und Frankreich völlig unrealistische Beschwichtigungs- und Anbiederungspolitik an Russland betrieben und immer wieder auf diplomatische Lösungen gepocht. Die eigentliche Herausforderung wurde nicht begriffen.

Aus damaliger Sicht hat man vernünftige Politik versucht. Für Frau Merkel gab es zum Gespräch keine Alternative. Sie hat mehr Gespräche mit Putin geführt als alle anderen Regierungschefs der Welt. Im Februar in Minsk 2015 verhandelte sie mit Putin zusammen mit Holland über 17 Stunden ohne Schlaf (479). Die Appeasement-Politik war mit dem 24. Februar 2022 gescheitert. „Wir hätten“, so der Politikwissenschaftler Joachim Krause, „in dieser Zeit sehr viel machen können, um das Risikokalkül Russlands zu beeinflussen. Und das ist nicht geschehen – und insofern kann sich Russland auf dieses Risiko einlassen und einen Krieg gegen die Ukraine anzufangen, das hätte man alles verhindern können, aber es ist nicht getan worden.“[xvii] Die deutsche Außenpolitik steht jetzt am Pranger. Die Ausladung von Steinmeier kommt wenig überraschend. Der ukrainische Botschafter gibt Angela Merkel eine Mitschuld am russischen Krieg gegen sein Land. „Wir haben Angela Merkel fast blind vertraut. Es gab ein riesiges Vertrauen in der Überzeugung, dass sie die Dinge besser einschätzen und regeln kann“,[xviii] sagt Andrij Melnyk. Merkel konnte Putin nicht lesen. Er hat sie, wie viele andere, getäuscht. Der KGB-Offizier Putin ist nicht nur abstoßend grausam wie Stalin und Iwan der Schreckliche. Lüge und Betrug sind ihm, wie seine Vorbilder, so wenig fremd, wie die plötzliche Überrumpelung durch Drohungen und Schmähungen. Auch Iwan vermochte es „Absichten so geschickt zu verbergen, dass diejenigen, die er hasste und deren Verderben er beschlossen hatte, es nicht merkten“ (Hellmann, 68). Der Journalist und Putin Kenner Nikolai Swanidse, der heute im russischen Menschenrechtsrat sitzt, hatte auch Schwierigkeiten Putin zu lesen: „Putin hat alle um den Finger gewickelt“, auch mich. Ein Geheimdiensttrick: „Putin spiegelt sein Gegenüber. Er begreift schnell, was sie hören möchten, und erfüllt die Erwartungen. Damals fiel kein Wort, aus dem man eine Neigung zum Totalitarismus hätte ableiten können“. Kurz: „Der Präsident benutzt Sprache, um seine Gedanken zu verstecken, nicht um sie zu äußern“, so Swanidse. „Interessant ist nicht, was er sagt, sondern was er tut“.[xix] Putin merkt schnell, wie unvorstellbar für uns Gewalt in der individualisierten und postheroischen Gesellschaft geworden ist. Solange er keinen Widerstand spürt, nutzt er die Möglichkeiten, auch mit Gewalt. Bei dem Petersburger Dialog 2013 meinte der außenpolitische Sprecher der Duma: „Wisst ihr Leute, die Sache ist eigentlich ganz einfach. Wir sind bereit, um ein Land wie Georgien Krieg zu führen. Ihr seid es nicht. Ende der Debatte“[xx].

Es ist ein Fehler zu glauben, mit einem Diktator und Kriegsverbrecher eine vertrauensvolle Basis aufbauen und wie mit einem Demokraten verhandeln zu können. Man ist machtlos, wenn man das Gegenüber falsch einschätzt, insbesondere dann, wenn der Andere glaubt, er handele im Auftrag der Geschichte. Tritt an die Stelle der UN-Charta die Metaphysik, ist der gemeinsame Boden der Wirklichkeit verloren. Jens Plötner, der Steinmeier fast immer bei Treffen begleitete und Ideengeber seiner Russlandpolitik, versteht sich als kühler Analytiker. Mit Ideologien und nationale Mythen, die man im 21. Jahrhundert überwunden glaubte, rechnete keiner, auch Plötner nicht. Gefangen in Habermas Paradigma des kommunikativen Handelns, bei dem die Akteure versuchen, ein gemeinsames Verständnis zu erreichen und Handlungen durch vernünftige Argumentation, Konsens und Kooperation zu koordinieren, statt strikt auf die Verfolgung ihrer eigenen Ziele zu setzen, wurde vergessen, was die Welt nur einige Jahrzehnte zuvor selbst erlebt hatte: Auch das Münchner Abkommen vom 30. September 1938 konnte the peace for our time nicht retten.

Nicht nur der Philosoph Ernst Cassirer hat auf die jederzeitige Rückkehr des Mythos hingewiesen, auch Hannah Arendt. Der Nationalsozialismus und der Stalinismus sind, wie der Putinismus, Verschwörungsideologien. Es gibt kein vernünftiges Handeln in einer irrationalen Welt. Im Vertrauen auf das gute Argument, im Vertrauen auf die Vernunft, „die gegebene Tatsächlichkeit meistern, nur für menschliche Zwecke einrichten und ändern zu können“, mit „diesem Stolz gerade, der in der abendländischen Tradition zumindest mit zu der Würde des Menschen gehörte, ist es in der totalitären Welt vorbei“, bemerkt Arendt in ihrem Werk Elemente und Ursprünge totalitärer Diktatur. „Der gesunde Menschenverstand, sich auf die Wirklichkeit so ausgezeichnet zu verstehen, ja für sie allein zuständig zu sein, ist diesem ideologischen Suprasinn gegenüber hilflos. Hier zeige „sich nachträglich, dass die Ideologien des 19. Jahrhunderts und die kuriosen Weltanschauungen des wissenschaftlichen Aberglaubens und der Halbbildung nur so lange harmlos sind, als niemand im Ernst an sie glaubt“ (EU, 939). Hinweise gab es genug. Der Überfall auf die Ukraine hat die Grenzen des Konzepts Wandel durch Handel und die des kommunikativen Handelns bei entgegengesetzten Wertesystemen, aufgezeigt. Irrationalsten und Verschwörungserzähler gibt es nicht nur in Russland, auch bei uns. Weltweit sind sie auf dem Vormarsch. Es sei nur an Trump, QAnon und die Querdenker erinnert. Umso mehr erhellt ein Hoffnungsstrahl unsere finstere Zeit, dass Freiheit und die Würde des Menschen und nicht Wirtschaft im Zentrum der Politik zu stehen hat. Das ist das Mindeste, was wir aus dieser Katastrophe lernen sollten. In einer vergleichbaren Situation, im Angesicht des drohenden Atomkrieges, bemerkte Arendt 1962: „So ist der Begriff der Freiheit, der lange Zeit zugunsten der Vorstellung, Ziel aller Herrschaft sei nicht die Freiheit, sondern die Wohlfahrt des Volkes, das Glück der höchsten Zahl, aus den politischen Diskussionen irgendwie verschwunden war, nun ins Zentrum der Staatskunst zurückgekehrt“ (ZVZ, 231). Putin hat unsere Illusionen am 24. Februar endgültig zerstört und uns die Alternative von Freiheit und Unfreiheit vor Augen geführt.

Lange wurde „Freiheit“ als neoliberaler Ideologiebegriff missbraucht und war nicht primär als Grundbedingung von Demokratie ins Bewusstsein gerückt. Die liberale Demokratie gilt bis heute, vor allem bei der Linken, aber auch bei Teilen der Rechten, als neoliberale Ideologie des Kapitalismus, als trojanisches Pferd „der Reichen“, und weniger als freiheitliche Lebensform auf rechtsstaatlicher Grundlage. Den Zusammenbruch der Sowjetunion bezeichnete Putin als die „größte geopolitische Katastrophe des 21. Jahrhunderts“, für die Linke bedeute dies das Aus ihrer sozialistischen Träume. Lange stand die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus bei der deutschen Linken unter Verdacht. Unter dem Verdacht des Antikommunismus. Inzwischen erfährt, nicht nur Hannah Arendts Kritik am Totalitarismus jeder Couleur, wachsende Anerkennung. Wie existenziell der Unterschied zwischen Diktatur und liberaler Demokratie ist, gewinnt angesichts einer globalen Zunahme der Attraktivität autoritärer Tendenzen an Gewicht.

Wenn das Leben und die Ökonomie das höchste Gut sind, gehen Freiheit und Würde verloren

Der Frieden ist kein natürlicher Zustand. Er muss gestiftet werden, zur Not mit den Mitteln der Abschreckung. Es war eine große Naivität sich in Fragen der Energie, der Lebensader jeder Gesellschaft, von einem Despoten und Kriegsverbrecher abhängig zu machen. Für Arendt ist das Ziel der Politik Freiheit. Dann muss auch das Ziel jeder Politik, auch von Energiepolitik, Freiheit sein. Wir stärken damit nicht nur unserer Autonomie, sondern auch unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt, unsere Resilienz.

Freiheit, Menschenrechte und Menschenwürde sind keine Luxusfragen. Sie bilden das normative Fundament jeder Realpolitik. Das, was die Ukraine vom Westen Europas unterscheidet, ist nicht nur die Unmittelbarkeit, in der sich Freiheit und Sklaverei gegenüberstehen. Es ist auch die Möglichkeit der Gewalt. „Das Leben in dieser hoch komfortablen Welt, dieser warmen Badewanne des Daseins“, sagt der ukrainischen Schriftsteller, Jurij Andruchowytsch, das habe die Menschen im Westen beeinflusst und es ihm fast unmöglich gemacht, mit den Nöten seines Landes durchzudringen. „Es ist die Negation der Möglichkeit eines Krieges“. Neben dem öffentlichen Mitgefühl und der großen Hilfsbereitschaft werden auch Wohlstandssorgen reklamiert als sei die Politik gegenüber der Macht des Marktes genauso hilflos wie gegenüber Putins Panzer. Die Zumutungslosigkeit der Politik der letzten 16 Jahre scheint auch jetzt ihre Fortsetzung zu finden. Für manche in der SPD ist es immer noch schwer die Zeitenwende nachzuvollziehen. Der SPD-Politiker Ralf Stegner behauptete nach der dritten Kriegswoche, „es werde kaum eine militärische Lösung ‚zugunsten‘ der Ukraine geben“.[xxi] Hinter dem Ruf an die Ukrainer nach einem schnellen Ende verbirgt sich auch nationaler Egoismus unter dem Vorwand, das Leid zu beenden. Die Ukraine kämpft um Freiheit und Demokratie für die nächsten Generationen, während wir über Tankrabatte und die „Gefährdung des sozialen Friedens“ durch Gelbwesten reden.

Es ist diese Reduktion von Freiheit auf das Ökonomische, auf den „sozialen Frieden“, auf Wohlstand und auf das nationale Interesse, die Reduktion des liberalen Ideals auf einen technokratischen, selbstoptimierten Individualismus und des Einzelnen auf einen wohlstandsatten, politisch wenig engagierten Konsumenten, bei gleichzeitiger Ausblendung der Wiederkehr des „Bösen“, vor all dem hat Hannah Arendt in ihren Schriften gewarnt. Arendt macht in ihren Texten immer wieder deutlich, soziale Sicherheit und Wohlstand ist zwar die Voraussetzung von Freiheit, aber keine hinreichende Bedingung für ihren Erhalt. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Freiheit dem Versprechen von Wohlstand und Frieden zum Opfer gebracht wird. Hitler, Stalin, Putin, Xi Jinping. Wer ein bequemes Leben und materielle Güter der Freiheit vorzieht, kann seine Freiheit wie auch seine Würde verlieren. Die uralte Weisheit „Lieber den Tod als die Sklaverei“, bemerkt Arendt in ihrem Vortrag in Connecticut im Oktober 1961, „gründete auf der antiken Überzeugung, dass man aufhört, menschlich zu sein, wenn man ein Sklave“ werde. „Frei-zu-sein und Mensch-zu-sein waren einst identische Vorstellungen; eine Person, die nicht in der Lage war, alle ihre geistigen wie physischen Fähigkeiten zu gebrauchen, wurde nicht länger als Mensch betrachtet – und dies ungeachtet dessen, ob sie diese aufgrund einer bestimmten Zwangslage beziehungsweise Notwendigkeit, wie Armut und Krankheit, oder aufgrund menschengemachter Gewalt, wie Krieg und Sklaverei, verloren hatte“. Arendt bezweifelt, dass heute die Leute wirklich an Freiheit dächten, wenn sie den Slogan „Lieber tot als rot“ hören. Bei Freiheit schwebe ihnen vielmehr „eine Lebensweise und ein Lebensstandard vor, welche Ergebnis von Überfluss sind und selbst in einem Zustand der Freiheitsberaubung weiter bestehen und genossen werden können“ (Arendt, 1994, 229).

Schon Anfang der 40er Jahre betonte Arendt die Bedeutung des Kampfes für die Freiheit vor dem Hintergrund der Prüfungen des 20. Jahrhunderts, des Nationalsozialismus und des Kommunismus. Hitler stellte die Mehrheit der Deutschen mit sozialpolitischen Wohltaten, guter Versorgung und kleinen Steuergeschenken ruhig. „Den Deutschen ging es im Zweiten Weltkrieg besser als je zuvor, sie sahen im nationalen Sozialismus die Lebensform der Zukunft – begründet auf Raub, Rassenkrieg und Mord“,[xxii] notiert der Historiker Götz Aly. In dem Text „Ausrottung der Juden“, den Arendt 1942 für die deutsch-jüdische Zeitung Aufbau verfasste, forderte Arendt den Aufbau einer jüdischen Armee, machte aber auch deutlich, dass es nicht allein um „das Schicksal der Juden“ geht. Ihr Schicksal habe „immer klarer angezeigt“, wohin „die Reise“ gehe. Es habe Jahre gebraucht, bevor nicht nur Juden überfallen wurden, sondern auch Tschechen, Norweger, Holländer und Franzosen“. Auf diese Zusammenhänge weist die damals 36-jährige Arendt in ihrem Text mit drastischen Worten hin, wenn sie schreibt:

„Und es war einmal eine verruchte Zeit, als schwachsinnig gewordene Intellektuelle erklärten, das Leben sei der Güter höchstes. Gekommen ist heute die furchtbare Zeit, in der jeden Tag bewiesen wird, dass der Tod seine Schreckensherrschaft genau dann beginnt, wenn das Leben das höchste Gut geworden ist: daß der, der es vorzieht, auf den Knien zu leben, auf den Knien stirbt; dass niemand leichter zu morden ist als der Sklave. Wir Lebenden haben zu lernen, daß man auf den Knien noch nicht einmal leben kann, daß man nicht unsterblich wird, wenn man dem Leben nachjagt, und daß, wenn man für nichts mehr sterben will, man stirbt, obwohl man nichts getan hat.“ [xxiii]

Die Politik der Unfreiheit war nicht nur von Not getrieben, sie hatte auch ihren eigenen Reiz. Beide totalitäre Systeme versprachen Zusammengehörigkeitsgefühl und Gemeinschaft. Nicht Freiheit war es, was viele suchten, sondern Bindung, Führung und ideologische Verklärung. Schon Heidegger erörterte „drei Organisationsformen der Bindung“: „die Bindung an die Volksgemeinschaft“, an die Ehre und das Geschick der Nation“ und die „Bindung an den geistigen Auftrag des deutschen Volkes“.[xxiv] Für Arendt können nur die Menschen frei genannt werden, die sich unter Freien und Gleichen bewegen. „Der Sinn von Politik ist Freiheit, und ohne sie wäre das politische Leben sinnlos“, sagte Arendt in einem Vortrag am 22. Mai 1958 im Rahmen des Vortragszyklus Erziehung zur Freiheit in Zürich (Arendt, ZVZ, 231).

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte ganz in diesem Sinn:

„Wir haben nichts zu verlieren als unsere Freiheit und Würde. Das ist unser größter Schatz. […] Wenn ihr uns angreift, werdet ihr unsere Gesichter sehen, nicht unsere Rücken“. […] „Wir sind keine Sklaven und werden nie welche sein. Das ist unser Wille und unser Schicksal. Der Stolz auf unsere Streitkräfte ist grenzenlos. […] Liebe Bürger der russischen Föderation. Heute Nacht wurden Wohngebiete in Kiew bombardiert. Dies erinnert an 1941.“[xxv]

Putins Krieg erinnert uns daran, dass Freiheit notfalls auch bewaffnet verteidigt werden muss. Den Deutschen wurde die Freiheit zweimal geschenkt. Seit den 80er Jahren glaubte man mit „Dialog“ und „Bereitschaft zur Kommunikation“ den Frieden sichern zu können, im Alltag wie in weltpolitischen Krisensituation. „Lieber rot als tot!“ war eines der Schlagworte der Friedensbewegung sich der sowjetischen Bedrohung zu unterwerfen. Deutschland hat 2021 die Vereinigten Staaten von Amerika abgelöst und gilt laut Index des Global Soft-Power Index als führende Soft-Power-Supermacht der Welt. Jetzt ist plötzlich der Feind wieder zurück. Wir müssen uns vorwerfen lassen, zu lange von einem ewigen Frieden geträumt, nicht die richtigen Bücher oder überhaupt genügend Zeitung gelesen zu haben. Politik wurde weitgehend ausgelagert auf die Parteien, auf die Regierung. Zu lange, so der Soziologe Armin Nassehi, haben wir die Demokratie als eine Art Dienstleister wahrgenommen, „dem der Konsument das Vertrauen entzieht, wenn die Ergebnisse nicht stimmen“.[xxvi] Sichtbar wurde das in der Pandemie. Demokratie und Freiheit sind keine Geschenke, sie sind Lebensformen, eine Aufgabe, die immer wieder errungen und verteidigt werden muss, nach innen und außen. Liegt die Macht ohne jedwede demokratische Kontrolle nur in den Händen einer kleinen Elite, wie in Russland, geht Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zugrunde. Auch das kann man von Arendt lernen. Jeder muss nun Partei ergreifen, sagte Annalena Baerbock vor der UNO: „Unsere Wehrhaftigkeit entscheidet über unsere Sicherheit“. Es bleibt ein bitterer Nachgeschmack, dass es einen Krieg brauchte, bis Deutschland dazu bereit war.

The past is never dead, it is not even past – Geschichte und Lüge als Waffen der Repression und Aggression

Am 28. Mai 1975 schickte der 32-jährige Joe Biden, Mitglied des Ausschusses für auswärtige Beziehungen des Senats, einen Brief[xxvii] an Hannah Arendt. Er bat um die Zusendung einer Kopie des Vortrages, den sie am 20. Mai 1975 in Boston unter dem Titel Home to Roost[xxviii] gehalten hatte. Diese Rede dürfte den „Höhepunkt ihres öffentlichen Wirkens“ darstellen. „Ich glaube,“ teilt Arendt ihrer Freundin Mary McCarthy mit, „ich bekam noch nie so viele ‚Fan‘-Briefe für irgend etwas, was ich geschrieben habe“ (Arendt, 2000, 409).[xxix] Arendt starb unerwartet im Dezember 1975. Ihren Text kann man lesen als eine Warnung vor dem Niedergang der amerikanischen Republik – dem großen Experiment der Freiheit. Sie kritisiert das Eindringen der Methoden der Reklameexperten unter der Bezeichnung Public Relations in das politische Leben. Dies habe dazu geführt, sich mehr mit Images und Bildern als mit der Realität zu beschäftigen. Was die amerikanische Republik bedrohe, sei die Weigerung, Tatsachen anzuerkennen, so dass das Leben mit Theorien und Bildern das „Was ist“ überlagert und das Lügen zur Lebensweise werde. Mit der Präsidentschaft Trumps scheint Amerika für die letzten Jahrzehnte die Quittung erhalten zu haben mit lang andauernder Folgewirkung. „Ich fürchte, wir sind in einem Zustand kurz vor Ausbruch eines Bürgerkrieges“,[xxx] so Paul Auster in einem Interview im Juli 2021. Die Chancen, dass Trump 2024 die Wahlen gewinnt, sind gut. „The past is never dead, it is not even past”, zitierte Arendt den amerikanischen Schriftsteller William Faulkner. Die Geister der Vergangenheit kommen zurück, wenn man sich ihnen nicht stellt. Lügen und Fake News dringen im Zeitalter der digitalen Medien weltweit immer mehr in unseren Alltag und bedrohen die Demokratien. Putin stützt sich bei seinem Vorgehen offen auf eine Pseudorealität, primitive Desinformation und die Lüge; es wird Anspruch auf eine eigene Realität erhoben, um den öffentlichen Diskurs im Westen dauerhaft zu zerrütten. Wie die Russen haben sich die Europäer an die Lügenrhetorik gewöhnt. Für den deutschsprachigen Schriftsteller Boris Schumatskys werde unter Putin, was Stalin und Breschnew begonnen haben weitergeführt, nur die Methoden der Manipulation seien subtiler geworden bis zu einer Kriegseuphorie.[xxxi] Putins Lügen knüpft an sowjetische Tradition an.

So war Stalin bemüht, die Geschichte der Revolution ständig umzuschreiben. Es gab weder Trotzki noch die Konzentrationslager. Bis heute wird die Existenz des geheimen Zusatzprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt 1939 über die Aufteilung Osteuropas geleugnet. Die Diskussion über die Ermordung von 21.892 polnischen Kriegsgefangenen durch die sowjetische Geheimpolizei im April 1940 in Katyn, die meisten waren Reserveoffiziere, ist seit Putins Wiederwahl 2012 verboten.[xxxii] Die Täter werden bis heute in Russland gerichtlich nicht strafverfolgt.

Nach dem Ende der Sowjetunion gab es in Russland keine Aufarbeitung der Vergangenheit. Der Versuch von Memorial, Russland von den Lügen der Vergangenheit zu befreien, wurde durch den Kreml gestoppt. Die Kommunistische Partei und die Geheimdienste wurden nie für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen. „Warum sollen wir, die Nachfahren der Sieger, jetzt Reue zeigen, anstatt stolz auf unser Land zu sein, das den Faschismus besiegt hat?“,[xxxiii] erklärte einer der Staatsanwälte. Es war leicht, die alten Feindbilder wiederzubeleben, mit denen Putin heute seine Kriege begründet. Die Menschen haben aber keinen Begriff, was Nazis sind. Eine Nazis ist in ihren Augen der „Feind“ Russlands. Mit dem Überfall auf die Ukraine wurden die schlimmsten Geister der stalinistischen Vergangenheit freigesetzt. Dabei spielen Menschenleben keine Rolle. In der russischen Armee lebt noch der stalinistische Geist der sklavischen Unterordnung und der Menschenverachtung. „Was wir heute als russische Kultur verstehen, ist toxisch und xenophob.“ Die Situation im heutigen Russland sei „sogar noch schrecklicher“. „Die Menschen sehen sich selbst als Ressource. Sie entmenschlichen sich selbst.“ Das sei „typisch für totalitäre Staaten“,[xxxiv] sagt der ukrainische Philosophieprofessor Vakhtang Kebuladze. Ob Arendt Kebuladzes Einschätzung gefolgt wäre, ist fraglich. Sie plädierte dafür, „mit dem Wort ‚totalitär‘ sparsam und vorsichtig umzugehen“.[xxxv] Nach Arendt stellt der Terror das zentrale Wesen totaler Herrschaft dar. Terror und Vernichtung als Methode hat Russland vor allem in seinen Kriegen gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt.

Schon 1939 rechtfertigte die Sowjetunion die dauerhafte Besatzung der baltischen und der Staaten Mittel- und Osteuropas mit dem stalinistischen Narrativ der Befreiung vom Faschismus. Ganze Generationen in Russland wurden im Glauben eines gerechten Krieges, des „Großen Vaterländischen Krieges“ erzogen, der viele andere Grausamkeiten verdeckte und im Nachhinein rechtfertigte und so verhinderte, der Vergangenheit ins Auge zu blicken. Ein einheitsstiftender Mythos, der den imperialistischen Charakter des russischen Feldzuges und den sowjetischen Totalitarismus leugnet. Die Ignoranz gegenüber der eigenen Geschichte tobt sich nun auf ukrainischem Boden aus.

1962 sagte Chruschtschow in Prag anlässlich eines Festessens, wäre die Rote Armee in Italien einmarschiert, hätte das Festessen beim Genossen Togliatti in Rom stattfinden können. Schon Stalin hatte in einem Gespräch mit dem Jugoslawen Milovan Djilas gegen Ende des Krieges erklärt, dass dort, wo die Rote Armee einmarschiere, das sowjetische System eingeführt werde.[xxxvi] Der Kalte Krieg hat niemals aufgehört. Auch Gorbatschow hielt am Mythos der russischen Befreiung fest. Die kommunistische Lügenpropaganda hatte auch im Westen verheerende Konsequenzen. Die Besatzung Ost- und Mitteleuropas spielt in den deutschen Geschichtsbüchern nur eine marginale Rolle. Verdrängte Geschichte, verdrängte Politik, führt zu Geschichts- und Realitätsblindheit und zum Schlaf der Vernunft. Sicher ist es Hitler und nicht Stalin zu verdanken, Stalin erst auf die weltgeschichtliche Bühne als Befreiungskämpfer gehoben zu haben. Bezahlt haben das die Staaten Mittel- und Osteuropas. Gleichzeitig konnte Stalin den Roten Terror der 30er Jahre gegenüber seinem Volk hinter der Erzählung vom „Großen Vaterländischen Krieg“, der ein imperialistischer Krieg war, verstecken und Russland als Opfer inszenieren. Machen wir wieder die gleichen Fehler? Russland nutzt heute die Legenden und unsere Illusionen und Hoffnungen für seinen Krieg, um die Einflusszonen der Vorkriegszeit in Osteuropa wieder herzustellen und den alten stalinistische Verschwörungsmythos eines vom Westen bedrohten Russland[xxxvii] in die Köpfe der Bevölkerung zu pflanzen. Putins faschistische Narrative zu Geschichte und Gegenwart werden in den kommenden Jahrzehnten weitere Millionen von Menschen in ihrem Denken und Handeln beeinflussen, besonders in Indien, Afrika und Lateinamerika. Was im 19. Und 20. Jahrhundert die Infanterie war ist heute der Informationskrieg.

Jede Lüge ist potentiell gewaltsam. In ihrem Essay Wahrheit und Lüge in der Politik aus dem Jahre 1964, verfasst im Anschluss an die Eichmann-Kontroverse, macht Arendt auf den Zusammenhang von Lüge und der Vorbereitung und Rechtfertigung von Gewalt aufmerksam. „Jedes organisierte Lügen“, so Arendt, tendiere „dahin, das zu zerstören, was es zu negieren beschlossen hat, wiewohl nur die totalitären Gewalthaber das Lügen bewusst als den Beginn des Mordens zu handhaben wissen“ (Arendt, 1994, 356). Auffällig in Putins Reden ist die Spiegelung westlicher Kritiken. Am 24. Februar bezeichnete er die USA und ihre europäischen Verbündeten als „Imperium der Lüge“[xxxviii] und Selenskyjs Regierung als faschistisch. Der frühere russische Staatschef Dmitri Medwedew setzte die Ukraine mit dem nationalsozialistischen Dritten Reich gleich, das das gleiche Schicksal wie das Dritte Reich erleiden würde.[xxxix] Wie Hitler in seiner Reichstagsrede 1939 behauptete, „das Judentum“ zettele einen Weltkrieg zur Ausrottung der arischen Völker Europas an, um einen Krieg zur Ausrottung der Juden vorzubereiten, so erklärte Putin, Deutschland sei in enger Koordination mit den USA an gefährlichen geheimen Bio-Laboren in der Ukraine beteiligt, um einen Anlass für einen eigenen Biowaffenangriff zu haben oder den Einsatz zu vertuschen. Der Unterschied, „zwischen traditionellen und modernen politischen Lügen“, zeigt Arendt, laufe im „Grunde auf den Unterschied zwischen Verbergen und Vernichten hinaus“ (356). Arendt warnte in The Human Condition (1958) vor den politischen Folgen der Verwandlung von Tatsachenwahrheiten in Meinungen, vor allem vor dem Lügen aus Prinzip. „Überall dort, wo es Terror gibt, kann Lüge als allgemeines Prinzip erzwungen werden, woanders nicht“.[xl] Wenn die Fakten sich auflösen, gehe, so Arendt, die „gemeinsame Welt in Stücke“ (Arendt, 2001, 72).[xli]

Russlands Präsident hat jener Brigade, die Völkermord und massenhafte Tötungen in der Stadt Butscha durchgeführt hat, den Ehrentitel einer „Garde“ verliehen. Die Auszeichnung wird mit „Heldentum und Tapferkeit, Entschlossenheit und Mut“ der Mitglieder während der „Spezialoperation“[xlii] begründet. Was für uns als völlig widersinnig erscheint, empfängt in der totalen Herrschaft eine „von uns niemals erwartete Stimmigkeit“. „Jede, auch die absurdeste Handlung und Institution“, notiert Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, bekomme ihren Sinn. „Über der Sinnlosigkeit der totalen Herrschaft“ throne

„der Suprasinn der Ideologien, die behaupten, den Schlüssel zur Geschichte oder die Lösung aller Rätsel gefunden zu haben. Sobald ihr Anspruch auf absolute und totale Geltung ernst genommen wird, entwickeln sie sich zu logischen Systemen, in denen nun jegliches zwangsläufig folgt, weil eine erste Prämisse axiomatisch angenommen ist. Damit liegt die eigentliche Verrücktheit dieser Systeme nicht zu sehr in der Prämisse selbst als in der zwangsläufigen Folgerichtigkeit, mit der aus ihr geschlossen wird, und in der um alle Realitätserfahrung unbekümmerten Konsequenz, mit der alle Folgerungen in die Wirklichkeit umgesetzt werden“ (Arendt, 1986, 939).

Die Zukunft des Westens

In dem 1961 gehaltenen Vortrag Revolution und Freiheit erklärte Arendt, dass „die Revolution das Hauptthema des Jahrhunderts bleiben“ werde (Arendt, ZVZ, 134). Noch immer gehe es um die politischen Prinzipien der beiden großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts, „der Geburtsort der modernen Welt“ (133). Das der Revolution innewohnende Ziel sei immer die Freiheit gewesen, ihre Haupthindernisse, die verschiedene Ideologien des 19. Jahrhunderts, Kapitalismus, Sozialismus und Kommunismus. 1989 gab Arendt recht. Die „Zukunft des Westens“, erklärte Arendt in ihrem Vortrag, hänge von zwei Faktoren ab: der Freiheit und der Überwindung der Armut (135). Zur Revolution gehöre beides: die Befreiung von der Notwendigkeit, damit Menschen sich in Würde bewegen können, und die Schaffung „eines politischen Körpers, der es ihnen erlauben“ werde „in Freiheit zu handeln“ (137). Wie alle Bücher Arendts kann man auch Über die Revolution als ein Buch der „Warnung“ lesen. Es ist ein auf den Begriffen von Pluralität, Solidarität und Freundschaft aufgebauter Republikanismus und aus dieser Perspektive betrachtet ein anspruchsvolles Modell von Bürgerschaft, ein normatives Gegenmodell zum Totalitarismus.

Nach der US-amerikanischen Politikwissenschaftlerin Judith N. Shklar könnten „normalen Menschen“ keine ständigen staatsbürgerlichen Höchstleistungen abverlangt werden. Aus diesem Grund sei diese „Staatsbürgerschaft für eine Herrenkaste“ so „homogen, exkludierend, staatspädagogisch und antiegalitär, dass sie für moderne pluralistische und liberale Demokratien letztlich ebenso ungeeignet“ sei wie die „Orientierung am Autoritätsglauben Roms“.  Diesem Einwand kann man zustimmen, wenn man auf eine verfassungsrechtliche Verankerung der Demokratie, auf stabile Institutionen und auf eine funktionierende Arbeitsteilung zwischen PolitikerInnen und Bevölkerung vertraut. Man kann Arendts Politikbegriff als idealistisch verwerfen oder aber als „Warnung“ vor dem Ableben der Demokratie lesen wie als Aufforderung zum bürgerschaftlichen Engagement. Mit dem Krieg in der Ukraine stellt sich die Frage nach der Widerstandsfähigkeit von Demokratien in ganz Europa. Der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev hält eine Gesellschaft nur dann für widerstandsfähig, wenn „die Macht in der Gesellschaft liegt und nicht einfach in den Fähigkeiten des Staates“.  Also auf viele Schultern, in vielen Händen, wenn sie sich ihrer eigenen Verwundbarkeit bewusst und leidensfähig ist. Neben dem Begriff der Pluralität und Öffentlichkeit ist es der Begriff der Macht, den Arendt ins Zentrum ihrer politischen Philosophie stellt. Aktuell beweist die Ukraine in ihrem Unabhängigkeitskrieg auf allen Ebenen der zivilen Gesellschaft durch ihre Leidensbereitschaft eine unerhörte Stärke und Macht. Sie ist gegenwärtig das machvollste Land in Europa und bildet zu Russland den Antipoden. Russlands Macht gründet auf Gewalt, die Macht der Ukrainer auf dem Freiheitswillen der Menschen.

„1950 beschrieb Hannah Arendt im Vorwort zur ersten Auflage von The Origins of Totalitarianism“, notiert die amerikanische Politikwissenschaftlerin Anne Appelbaum, „das knappe halbe Jahrzehnt, das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verstrichen war, als eine Ära großer Unruhe, wohl wissend, dass sich das Geschehene wiederholen könnte: Nie war unsere Zukunft unberechenbarer, nie waren wir so sehr von politischen Kräften abhängig, denen man nicht zutrauen kann, dass sie den Regeln des gesunden Menschenverstandes und des Eigeninteresses folgen – Kräfte, die nach den Maßstäben anderer Jahrhunderte wie schierer Wahnsinn aussehen“.  Dieser Wahnsinn scheint, passt man nicht auf, Methode zu haben. Trumps Sturm auf das Capitol und Putins Überfall auf die Ukraine ist die bittere Erkenntnis, die wir aus dem Satz „The past is never dead, it is not even past”, ziehen müssen. Aber nicht nur das. Alle nur unzulänglich bearbeiteten Krisen der letzten Jahrzehnte, Klimawandel, Massenfluchten, Covid-19, Energiekrise, Generations- und Verteilungsgerechtigkeit und der Kampf gegen Rechts, haben die Schwächen Deutschlands und des Westens deutlich gemacht, aber keine so brutal wie der Überfall auf die Ukraine.

Joe Biden nannte in seiner Rede zur Lage der Nation am 2. März 2022 Putin einen Diktator. Den Krieg in der Ukraine bezeichnete er als Teil eines globalen Konflikts einer epochalen Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie. Der indische Philosoph, Wirtschaftstheoretiker, Nobelpreisträger und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels Amartya Sen warnt bereits 2020 in seiner Rede in der Paulskirche vor der „Pandemie des Autoritarismus“: „Die Welt ist heute mit einer Pandemie des Autoritarismus konfrontiert, so wie im Augenblick mit der pandemischen Erkrankung, die das menschliche Leben auf je unterschiedliche, aber zusammenhängende Weise in Mitleidenschaft zieht. […] Heute ist gesellschaftlich kaum etwas dringlicher geboten als globaler Widerstand gegen den zunehmenden Autoritarismus überall auf der Welt“.  Diese Phänomene sind für den britischen Historiker Timothy Garton Ash, Teil einer antiliberalen Konterrevolution, die seit Jahren in Gang sei und die nicht von allein wieder abebben werde. Ihre radikalen Ausläufer, sei es in Russland, Osteuropa, Türkei, China oder den USA, stellten sich offen gegen die freiheitliche Gesellschaftsordnung.

Am 28. April 1942 wandte sich Präsident Franklin D. Roosevelt über das Radio an die amerikanische Bevölkerung. Er warb dafür, abends das Licht auszumachen, auf den Straßen spritsparsam nicht schneller als 35 Meilen/h zu fahren, einen Spitzensteuersatz für 94 Prozent zu tolerieren, den Fleischkonsum stark einzuschränken, und all dies, um das Hitler-Regime durch energiesparende ‚Selbstversagung‘ zu bekämpfen: „Wenn wir am Ende dieses großen Kampfes unsere freiheitliche Art zu leben gerettet haben, wird all das kein ‚Opfer‘ gewesen sein“.  Was hätte Roosevelt, dessen Land sich bereits seit Dezember 1941 im Krieg gegen Deutschland befand, Deutschland geraten? Im Völkerrecht gibt es das Konzept der „Schutzverantwortung“, der responsibility to protect. Es geht aber nicht nur um unsere Verantwortung gegenüber der Ukraine. Die Ukraine ist seit 1989 das erste Land in Europa, das für europäischen Werte einen Verteidigungskrieg gegen eine autokratische Diktatur führt und damit auch unsere Freiheit verteidigt. Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen, weil sonst das Imperium weiterlebt. Die Ukraine darf nicht verlieren. Europa muss die Ukraine im Kampf um ihre Souveränität unterstützen ohne Kriegspartei zu werden. Europa muss seine Werte verteidigen, weil es sich sonst den dunklen Kräften der Vergangenheit ausliefert. Die Politik und die Wirtschaft haben der Freiheit der Menschen zu dienen. Wir müssen die Zivilgesellschaften stärken und unsere immer noch ökonomisch dominierte Lebensweise in Frage stellen, weil diese den Frieden und die Freiheit der Menschen weltweit bedroht. „Wir ziehen mit unserem täglichen Leben eine Spur der Verwüstung durch die Erde und kümmern uns da noch nicht drum“,  so Wirtschaftsminister Robert Habeck. Das Ende unserer fossilen Lebensweise ist ab sofort nicht nur eine klima-, sondern auch eine sicherheitspolitische Notwendigkeit.

Arendt hat mit Blick auf den Ersten Weltkrieg den Übergang von der Klassengesellschaft zur Massengesellschaft in ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft beschrieben und auch in der heutigen Welt „vor totalitären Tendenzen überall und nicht nur in totalitär regierten Ländern“ gewarnt. „So könnte diese zentrale Institutionen der totalitären Herrschaft leicht den Sturz aller uns bekannten totalitären Regime überleben“ (Arendt, 1998, 943). Wir leben in einer Zeit von Krisen und Umbrüchen. Der Nationalismus scheint auf dem Vormarsch. Erneut stehen Liberalismus und Demokratie auf der einen und der Autoritarismus mit seinen totalitären Zügen auf der anderen Seite. Ein neuer noch gefährlicher Kalter Krieg zeichnet sich ab. Putin und China wollen eine andere Weltordnung. Seit Jahren will China die Vormacht einer US-dominierten Weltwirtschaftsordnung überwinden. Ausdruck dafür ist die „Gemeinsame Erklärung“ von Wladimir Putin und Xi Jinping am 4. Februar zur Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Peking. Darin bekräftigten beide den „Trend zur Neuverteilung der Macht in der Welt“.  Timothy Snyder warnt: „Was in Russland bereits eingetreten ist, geschieht vielleicht auch in Amerika und Europa: die erste Etablierung massiver Ungleichheit, die Ersetzung von Politik durch Propaganda, die Übergang von der Politik der Unausweichlichkeit zur Politik der Ewigkeit“ (18). In Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand notiert Snyder: „Wenn niemand von uns bereit ist, für die Freiheit zu sterben, dann werden wir alle unter der Tyrannei umkommen“.  Wladimir Klitschko äußerst sich in der FAZ am 03.05.2022 zum Brief der 28: „Frieden um jeden Preis, aber um welchen Preis? Unsere Freiheit? Unsere Identität? Unsere Integrität? Das absolut Gute ist nicht der Frieden, sondern die Freiheit und die Gerechtigkeit. Und um sie zu verteidigen muss man kämpfen“. 

Ist der Westen dabei, sich selbst zu zerstören?  Sind die Demokratien des Westens noch zu retten? Für viele Menschen ist Freiheit selbstverständlich. Für sie zu kämpfen, wenn sie bedroht ist, betrachtet ein Großteil der Bürger:innen kaum als ihre Aufgabe. Dies sei die Aufgabe ‚der Gesellschaft‘ und ‚der Politik‘. Immer mehr Menschen haben eine passive Konsummentalität entwickelt. Im Mangel an republikanischer Verantwortung sieht Hannah Arendt eine der Hauptgefahren für den Fortbestand von Freiheit und Demokratie. Hannah Arendt gilt heute als Klassikerin der modernen politischen Theorie – eine Theorie, die aus den Erfahrungen von Totalitarismus, von Flucht und Staatenlosigkeit schöpft und bedeutsame Gefahren des 21. Jahrhunderts, mit denen wir es nach wie vor zu tun haben, reflektiert. Arendt ist aktuell, weil sie uns davor gewarnt hat, gleichgültig über diese Gefahren hinweg zu sehen. 

Alles ist möglich, auch in diesem Jahrhundert. Das Ende von Hitler und Stalin ändert daran nichts. Die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft bleiben aktuell. Arendts Denken ist aktuell, auch weil es sich einer Zuordnung in die klassischen politischen Lager entzieht und über diese produktiv hinausweist. Es bedarf einer Kunst Politik neu zu denken. Wir können hier von Hannah Arendt lernen.

Zum Autor:

Bruno Heidlberger, Dr. phil., ist Politikwissenschaftler, Studienrat für Politik, Philosophie und Geschichte mit Lehraufträgen an der TU Berlin, der MHB Brandenburg, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Freien Universität Berlin mit Lehrveranstaltungen zu E. Cassirer, zur Frankfurter Schule, Neue Rechte, Karl Popper, Hannah Arendt, Medizin Ethik. Seine Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem: Politische Philosophie, Philosophie der Aufklärung, kritischer Rationalismus, Wissenschaftstheorie und kritische Theorie der Gesellschaft. Er ist Verfasser von Essays und Rezensionen in philosophischen, psychologischen und politischen Fachzeitschriften. Jüngste Buchpublikation: Wohin geht unsere offene Gesellschaft? 1968’ – Sein Erbe und seine Feinde (Berlin 2019). Ende März 2023 erscheint sein neues Buch „Mit Hannah Arendt Freiheit neu denken. Gefahren der Selbstzerstörung von Demokratien.“ Dies ist der zweite Teil des gekürzten Auszugs aus dem 1. Kapitel, der in Aufklärung und Kritik bei der Gesellschaft für kritische Philosophie GkP im Heft 4/2022 erschienen ist.


[i] Karl Schlögel: Für eure und unsere Freiheit, Die Zeit 10.03.2022, S. 51.

[ii] Friedrich Merz: Wir müssen eingestehen, das wir uns geirrt haben, Die Zeit 31.03.2022, S. 11.

[iii] Carolin Emcke: Ungewissheiten, SZ 5./6. März 2022, S. 4.

[iv] Frank Bösch: Bedingt sanktionsbereit, Die Zeit, 02.03.2022, S. 21.

[v] Florian Gathmann, Dirk Kurbjuweit, Gerald Traufetter: Ein bisschen Boykott, das war‘s, Der Spiegel, 19.03.2022, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/angela-merkels-lasche-russland-politik-als-erblast-ein-bisschen-boykott-das-wars-a-926f134d-04fd-437e-9f9b-121abdee34ad.

[vi] Tobias Münchmeyer: Weltgeist in Blau-Gelb, FAZ 06.03.2022, S. 36.

[vii] Johannes Leithäuser: „Ihr wollt lieber Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft“, FAZ 17.03.2022, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/selenskyj-im-bundestag-ihr-wolltet-lieber-wirtschaft-17884053.html?GEPC=s5.

[viii] Peter Dausend, Tina Hildebrandt: Kann Deutschland diesen Krieg verkraften? Die Zeit 02.03.2022, S. 2.

[ix] Wer braucht eigentlich Nord Stream 2? DW, 08.09.2020, https://www.dw.com/de/wer-braucht-eigentlich-nord-stream-2/a-54854677.

[x] Heinrich August Winkler: Die SPD muss erkennen: Putin will die Revision der Grenzen Europas, 14.12.2016, https://www.vorwaerts.de/artikel/spd-erkennen-putin-will-revision-grenzen-europa.

[xi] https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/160815-bm-jekaterinburg/282744.

[xii] Die Linke forderte bei der Bundestagswahl 2021 den Austritt aus der NATO; die Grünen den Stopp von Nord Stream 2, weil das Projekt sich gegen die energie- und geostrategischen Interessen der Europäischen Union richte und die Stabilität der Ukraine gefährde.

[xiii] Christian Bangel: Untersuchungsausschuss jetzt! Die Zeit, 10.04.2022, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-04/russlandpolitik-gas-embargo-nord-stream-2-mecklenburg-vorpommern.

[xiv] Klaus Geiger: „Deutschland verhielt sich wie ein Ehebrecher und ging mit Putin fremd“, Die Welt, 10.04.2022, https://www.welt.de/politik/ausland/plus238045821/Nord-Stream-2-Deutschland-verhielt-sich-wie-ein-Ehebrecher-und-ging-mit-Putin-fremd.html.

[xv] Jochen Bitter, Martin Machowecz: Muss der Westen mitkämpfen? Die Zeit, 31.03.2022, S. 10.

[xvi] https://www.swr.de/swr1/swr1leute/menschenrechtlerin-marieluise-beck-swr1leute-100.html.

[xvii] Joachim Krause im Interview mit Christian Nagel: Politikwissenschaftler zu Ukraine: Deutschland hat Fehler gemacht, 25.02.2022, https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Politikwissenschaftler-zu-Ukraine-Deutschland-hat-Fehler-gemacht,krause414.html.

[xviii] Daniel Brössler im Interview mit Andrij Melnyk: „Ich bewege mich auf dünnem Eis, das weiß ich“, SZ, 13. April 2022.

[xix] Silke Bigalke, Sonja Zekri: In Putins Welt, SZ 12./13.02.2022, S. 13.

[xx] Interview mit Jens Sieger/Florence Gaub: Verharmlost Russlands Gesellschaft Gewalt? Die Zeit, 28.04.2022, S. 10.

[xxi] Anna Sauerbrey: Lieber aufgeben? Die Zeit, 24.03.2022, S.1.

[xxii] Götz Aly: Hitlers Volksstaat, Frankfurt am Main 2005, Klappentext.

[xxiii] Hannah Arendt: Die Ausrottung der Juden (19.6.1942). Aus: Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher. Beiträge für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung „Aufbau“ 1941-1945, Hrsg. von Marie Luise Knott, 2000 München, S. 66f.

[xxiv] Ralf Dahrendorf: Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, Bonn 2006, S. 28.

[xxv] Selenskyj. Ein Präsident im Krieg: Film von Dirk Schneider und Claudia Nagel, arte,

https://www.phoenix.de/sendungen/dokumentationen/selenskyj—ein-praesident-im-krieg-a-2718368.html

[xxvi] Armin Nassehi: Die Rückkehr des Feindes, Die Zeit 25.02.2022, https://www.zeit.de/kultur/2022-02/demokratie-bedrohung-russland-ukraine-krieg-wladimir-putin.

[xxvii] https://hac.bard.edu/amor-mundi/when-joe-biden-wrote-hannah-arendt-2020-08-06.

[xxviii] Der deutsche Titel lautet Zweihundert Jahre Amerikanische Revolution stammt von Marie Luise Knott.

[xxix] Zit. in: Hannah Arendt: In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II, München 2000.

[xxx] Paul Auster, in: Ute Büsing: Die Angst vor einem Bürgerkrieg, Tagesspiegel 25.07.2021, S. 23.

[xxxi] Boris Schumatsky: Die kleinen Diebe des großen Sieges, NZZ 09.05.2014, https://www.nzz.ch/feuilleton/die-kleinen-diebe-des-grossen-sieges-ld.795805.

[xxxii] Timothey Snyder: Der Weg in die Unfreiheit. Russland, Europa, Amerika, München 2018, S. 13.

[xxxiii] Maxim Trudoljubow: Die Rache der verdrängten Geschichte, 24.03.2022, https://www.dekoder.org/de/article/krieg-ukraine-erinnerung-aufarbeitung-vergangenheit.

[xxxiv]Vakhtang Kebuladze: „Russland ist ein Schatten der europäischen Zivilisation“: ntv.de, Interview, https://www.n-tv.de/politik/Russland-ist-ein-Schatten-der-europaeischen-Zivilisation-article23212866.html

[xxxv] Clemens Vollnhals: Der Totalitarismusbegriff im Wandel, APuZ 39/2006, S. 24.

[xxxvi] Vgl. Bruno Heidlberger: Jugoslawiens Auseinandersetzung mit dem Stalinismus, Frankfurt/Main, 1989, S. 19.

[xxxvii] Vgl. G.F. Kennan: Memoiren eines Diplomaten, Bd.1, Stuttgart 1968, S. 553 ff.

[xxxviii] Ulrich Schmid: Zweierlei Spiegelungen. Putins und Selenskyjs rhetorische Strategien, aus Ukraine-Analysen Nr. 266 vom 11.04.2022, S. 2–5, https://laender-analysen.de/ukraine-analysen/266/zweierlei-spiegelungen-putins-und-selenskyjs-rhetorische-strategien/.

[xxxix] Medwedew träumt von „offenem Eurasien von Lissabon bis Wladiwostok“, Welt dpa 06.04.2022, https://www.welt.de/politik/ausland/article238010209/Medwedew-will-offenes-Eurasien-von-Lissabon-bis-Wladiwostok.html.

[xl] Ursula Ludz: Hannah Arendt, Beiträge beim Podiums-Gespräch „Legitimität der Lüge in der Politik“ in Düsseldorf am 29. Mai 1975, S. 188, https://www.hannaharendt.net/index.php/han/article/view/448.

[xli] Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben, München 200112.

[xlii] Patrick Meyer: Nach Gräueltaten in Butscha: Putin zeichnet beschuldigte Soldaten mit Ehrentitel aus, Merkur, 19.04.2022, https://www.merkur.de/politik/putin-ukraine-kriegsverbrechen-butscha-russland-konflikt-soldaten-ehrentitel-news-infanteriebrigade-zr-91485568.html.


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Posted by Bruno Heidlberger