Es gibt Zeiten, in denen das Zeitlose besonders aktuell ist. Das Interview mit Ulrich Müller

Es genügt nicht, Krisenentwicklungen in unserer Gesellschaft, der Demokratie oder weltweit zu beschreiben und zu beklagen. Ein erfahrener Praktiker der Politik, Ulrich Müller, der u. a. als Minister und langjähriger Abgeordneter in Baden-Württemberg gewirkt hat, hält den Krisen ein Konzept entgegen, das Lösungen sucht durch eine Verbesserung aller Aspekte, wie Politik gemacht wird. Die Veröffentlichung hat in Wissenschaft und Praxis positive Aufnahme gefunden. Wir sprechen mit Ulrich Müller über sein Buch. Wer ihn mit seiner Veröffentlichung noch näher kennenlernen möchte, sei auf ein Video-Podcast des Journalisten Tilman Baur verwiesen.

Ulrich Hemel: Sie haben Ihr ganzes Berufsleben in der Politik bzw. ihrem Umfeld zugebracht, um am Ende ein eher abstrakt-theoretisches Buch zu schreiben – passt das zusammen?

Ulrich Müller: Abstrakt ist an dem Text vieles, theoretisch ist er nicht, er zielt auf das Einhalten ungeschriebener Verfahrensregeln und damit auf die Verbesserung politischer Ergebnisse ab.

Ulrich Hemel: „Damit“ – wie hängt das zusammen – Verfahren und Ergebnisse?

Ulrich Müller: Die Bedeutung des „Wie“ in der Politik wird völlig unterschätzt. Wir sind Zeugen eines Anschauungsunterrichts, auf den wir alle gerne verzichten würden: Das System Trump, nicht nur seine Person, sondern auch die vielen Faktoren, die ihn so stark haben werden lassen, dass man mittlerweile um die Stabilität des Westens und die Demokratie in den USA fürchten muss. Wir erleben dort politische Unkultur in jeder Hinsicht. Wir müssen Trump, Musk und Co direkt dankbar sein für das mustergültig abschreckende Beispiel, welche Fehleinstellungen zu welchen Fehlern führen.

Ulrich Hemel: Und was zählt positiv formuliert für Sie zur Politischen Kultur?

Ulrich Müller: Eine Menge, es sind schließlich 688 Seiten entstanden. Aber ein paar Stichworte dazu, wobei das Interessante dann die Anwendung auf unterschiedliche Bereiche, Situationen, Probleme ist: Ganzheitlichkeit in der Situationserfassung wie in der Lösungsstrategie. Daraus leiten sich dann z. B. ab: Blick für das Wesentliche, Abwägen, Mäßigen, Proportionalität, Plausibilität, Flexibilität, Faktenorientierung, Ergebnisorientierung. Weiter gehört zur Politischen Kultur: Wahrhaftigkeit und verantwortliche Kommunikation, Stil-, Verfahrens-, Rechts- und ethische Fragen, Inhaltsorientierung (statt Personenfixierung), Vernunft, Klugheit, Qualität, Praktikabilität, Verantwortung, persönliche Kompetenzen.

Ulrich Hemel: Werden da nicht irreale Idealbilder gezeichnet, denen Politiker gerecht werden müssten, was aber eher nicht gelingen wird?

Ulrich Müller: In mehrfacher Hinsicht: Nein. Aber vorab ist es ja nicht falsch, zunächst einmal idealtypisch zu Papier zu bringen, was in der öffentlichen Debatte recht hilflos als der Wunsch nach mehr Zusammenhalt formuliert wird. Doch es geht um viel mehr: Diese Stichworte werden ausdifferenziert, sie gelten bei weitem nicht nur für Politiker, sondern für Journalisten, die wissenschaftliche Begleitung der Politik, politische Bildung, Verbände, jeden Bürger. Es geht um einen common sense, was zur politischen Kultur gehört. Es wird eine Reihe von Vorschlägen gemacht, um Elemente der Politischen Kultur zu institutionalisieren und dabei wird der Kommunalpolitik eine besondere Rolle als Modell und Vorreiter eingeräumt.

Ulrich Hemel: Werden auch Widerstände, Hindernisse, Dilemmata thematisiert, die der Anwendung von Ratschlägen für Politische Kultur entgegenstehen?

Ulrich Müller: Die ganze Abhandlung geht prinzipiell von solchen Herausforderungen aus, sie ist eher desillusionierend als zweckoptimistisch gehalten. Auch dazu einige immer wieder auftauchende Problemfelder: Die große Wirkung der digitalen Kommunikation, die zunehmende Komplexität des Geschehens, der eher schrumpfende Spielraum für eine populäre Wachstumspolitik, unsere globale Verantwortung und die Machtverschiebungen rund um den Erdball, der Werte- und Mentalitätswandel in unserer Gesellschaft.

Ulrich Hemel: Wenn man das so hört: Besonders vergnüglich scheint die Lektüre nicht zu sein?

Ulrich Müller: Die Themen sind ernst, die Darstellung ist trotzdem ziemlich locker. Man muss bedenken: Es geht nicht um Wissenschaft (es geht übrigens auch nicht um Autobiographie), sondern um eine Analyse mit Distanz und Unabhängigkeit, von einem, der weiß, wovon er spricht. Der Text hat viele kleine Abschnitte, ist teils umgangssprachlich, teils ironisch geschrieben. Er greift viele (Sprach)Bilder, Vergleiche, Redewendungen, Zitate auf, denn er wendet allgemeine Regeln von Bildung, Kultur, Ideengeschichte und Alltagserfahrungen auf die Politik an. Politik ist keine Geheimwissenschaft, sondern ein spezifischer und wichtiger Anwendungsfall für Methoden und Regeln, für Erfahrungen und Lösungen, wie sie auch im normalen Leben vorzufinden sind.

Ulrich Hemel: Vorhin erwähnten Sie eher beiläufig die globale Sicht der Dinge. Was kann man dazu genauer lesen?

Ulrich Müller: Der Blick für das Wesentliche führt zwangsläufig zur globalen Perspektive und zur globalen Verantwortung. „Wenn hinten in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen…“, so muss uns das heute beschäftigen. Außenpolitik wird immer wichtiger: In Sicherheitsfragen, in Allianzen (z. B. der EU), der Klimapolitik (die noch viel zu sehr kleinräumig angelegt ist), im Welthandel, der Entwicklungshilfe, der Vernetzung, der Gesundheit, den Regierungsformen. Pauschal gesagt: Sehr viele innenpolitische Themen haben – ohne dass es genügend allgemein bewusst ist – mittlerweile eine internationale, ja globale Seite. Und es gibt noch einen ganz praktischen Grund für den Blick über unsere Grenzen hinaus. Wir sollten vor dem eigenen Tun regelmäßig schauen: Wie gehen andere Länder mit einem Problem um und wie geht es ihnen damit? Wo steht Deutschland im Wettbewerb? Welche Chancen und Risiken können bzw. müssten wir ins Kalkül mit einbeziehen.

Ulrich Hemel: Für wen haben Sie dieses Buch geschrieben?

Ulrich Müller: Für alle, die in der Politik tätig sind oder sein wollen. Für jene, die mit der Politik zu tun haben und sie durchschauen wollen. Für die, die Politik Anderen erklären wollen im Bereich von Bildung und Medien. Für jeden verantwortlichen Bürger, der Politik und seine eigene Rolle in ihr als Staatsbürger und als gesellschaftlich Engagierter durchschauen will. Und schließlich für alle, die um Niveau, Stil, Verfahren und Ergebnisse unserer öffentlichen Debatten besorgt sind.

Ulrich Hemel: Da taucht sie nochmals auf – die Sorge um die Entwicklung in unserem Land und darüber hinaus. War dies das Motiv für Sie, sich und den Leser mit einem veritablen Wälzer zu quälen?

Ulrich Müller: Arbeit ist keine Qual, wenn man sie gerne tut, weil sie einen z. B. mit Erkenntnissen belohnt oder sie praktisch nützlich ist. Das Motiv war in der Tat die Krise, in der sich unsere Demokratie, unsere Gesellschaft, unser Land befindet. Der Untertitel drückt das Programm aus: „Verantwortlich handeln in verwirrenden Zeiten“. Damit ist auch gemeint, Ordnung in die Beobachtung von Entwicklungen und deren Behandlung zu bringen. Ordnung durch den Blick mit Abstand, Erfahrung, Tiefe und Orientierung an allgemein gültigen Prinzipien redlichen Verhaltens (das übrigens vom Nimbus befreit wird, zwar ethisch wertvoll, aber praktisch erfolglos zu sein). Ich wollte Orientierung aus dem gewinnen, was generell richtig ist. Es gibt Zeiten, in denen das Zeitlose besonders aktuell ist, das sind die Krisenzeiten, in denen business as usual nicht mehr reicht.

Ulrich Müller, Kompass Politischer Kultur, Untertitel: Verantwortlich handeln in verwirrenden Zeiten, Herder Verlag Freiburg, 688 Seiten, 30,- €, erschienen September 2024, ISBN 978-3-451-39791-2; auch als e-buch erhältlich, www.herder.de

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