Abstract [de]

In einer Gesellschaft mit differenzierten Ausprägungen religiösen Bewusstseins ist die Frage nach der allgemeinen Anschlussfähigkeit, wissenschaftlichen Dignität und öffentlichen Relevanz von „Glaube und Religiosität“ nicht selbstverständlich. Einerseits sind nämlich Parallelwelten religiöser Bewusstseinslagen (Muslime in Kreuzberg, Zeugen Jehovas in Hamburg, Pietisten in Schwaben, Katholiken in der Oberpfalz) entstanden, die untereinander kaum in Kontakt treten. Sogar die Welt der ökumenischen Bewegung ist zwischenzeitlich zu einer Sonderwelt religiösen Bewusstseins geworden. Andererseits ist die Furcht vor einem „Streit der Religionen“ unterschwellig durchaus vorhanden, denn jede Religion und religiöse Lebenswelt setzt zunächst einmal das eigene Modell als das richtige (und vielleicht sogar als das einzig wahre) voraus. Daraus entsteht die Angst, in Szenen religiöser Intoleranz abzugleiten und die Neigung, genuin theologische Fragen auf Binnenzirkel einzuschränken, öffentlich aber eher zu vermeiden.

 

Juni 2010

Glaube und Religiosität: Eine theologische Reflexion

 

get pdf: Glaube und Religiosität

 

 

Einleitung

In einer Gesellschaft mit differenzierten Ausprägungen religiösen Bewusstseins ist die Frage nach der allgemeinen Anschlussfähigkeit, wissenschaftlichen Dignität und öffentlichen Relevanz von „Glaube und Religiosität“ nicht selbstverständlich. Einerseits sind nämlich Parallelwelten religiöser Bewusstseinslagen (Muslime in Kreuzberg, Zeugen Jehovas in Hamburg, Pietisten in Schwaben, Katholiken in der Oberpfalz) entstanden, die untereinander kaum in Kontakt treten. Sogar die Welt der ökumenischen Bewegung ist zwischenzeitlich zu einer Sonderwelt religiösen Bewusstseins geworden. Andererseits ist die Furcht vor einem „Streit der Religionen“ unterschwellig durchaus vorhanden, denn jede Religion und religiöse Lebenswelt setzt zunächst einmal das eigene Modell als das richtige (und vielleicht sogar als das einzig wahre) voraus. Daraus entsteht die Angst, in Szenen religiöser Intoleranz abzugleiten und die Neigung, genuin theologische Fragen auf Binnenzirkel einzuschränken, öffentlich aber eher zu vermeiden.

Es leuchtet ein, dass eine Stimme, die sich öffentlich nicht erhebt, kaum Chancen hat, öffentlich gehört zu werden. In Deutschland- nach der Wende 1989 insgesamt deutlich weniger christlich geprägt als zuvor- machen sich zwar die evangelische und katholische Kirche, aber auch der Zentralrat der Juden zum öffentlichen Sprecher religiöser Interessen. Das Dilemma wird dadurch allerdings noch tiefer: Denn niemand garantiert, dass z.B. der katholische Christ Peter Müller und die evangelische Christin Claudia Maier sich so ohne weiteres in den Lebensäußerungen der öffentlichen Sprecher wieder finden.

Faktisch haben sich daher viele Menschen in einer Lebenswelt eingerichtet, zu der entgegen den Erwartungen der Säkularisierungstheoretiker religiöse Vorstellungen sehr wohl dazu gehören, während die Frage nach der Identifikation mit dem christlichen Glauben insgesamt oder gar mit der evangelischen oder katholischen Kirche bestenfalls offen bleibt.

Eine erste Schlussfolgerung daraus lautet, dass Ausprägungsformen von religiö- sem Bewusstsein nicht mehr allein im Kontext institutioneller Gemeinschaften (Kirchen, Pfarrgemeinden, religiöse Vereinigungen, Orden u.a.) gesucht und erforscht werden sollten. Für die Theologie ist daran herausfordernd, dass sie entweder ihre Zielgruppe einschränkt und sich „nur“ auf die kirchlich-gläubig gebundenen Zeitgenossen bezieht, damit aber an Wirksamkeit verliert- oder dass sie ihren Reflexionshorizont erweitert, dann aber möglicherweise mit den „kirchen-treuen“ Gläubigen in Konflikt gerät. Es könnte ja der Eindruck entstehen, „kirchendistanzierte“ Religiosität sei im Vergleich zu „kirchlich gebundener Religiosität“ das sympathischere Lebensmodell!

Schlimmstenfalls wird die Theologie generell irrelevant, weil sich weder die kirchlich gebundenen noch die kirchendistanziert religiösen Menschen von ihr hilfreiche Aussagen zu ihrem Leben erwarten. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Frage nach Glaube und Religiosität eine besondere Aktualität. Weil es allenthalben eine Renaissance von „Religiosität“ zu geben scheint und „Religiosität“ sowohl in der Religionssoziologie (Ch. Glock) als auch in der Religionspädagogik (H.F. Angel, U. Hemel) und Religionspsychologie (B. Grom, F. Oser) unter sehr unterschiedlichen Gesichtspunkten neu beleuchtet wird, weil umgekehrt aber aus systematisch-theologischer Perspektive kaum neuere Überlegungen bekannt geworden sind, werde ich im Folgenden besonders auf fundamentaltheologische Fragen im Umfeld von Glaube und Religiosität eingehen. Ziel ist das Nachdenken über Implikationen, das Aufwerfen von Fragen, das Formulieren von Hypothesen im Ringen um bessere Lösungen- nicht mehr und nicht weniger. Vorausgesetzt wird dabei eine dialogoffene, katholisch-theologische Weltsicht und ein auch religionspädagogisches Erkenntnisinteresse.

 

Religiosität: Grundlegende Fähigkeit und persönliche Ausprägung

Dass sich das Adjektiv „religiös“ sowohl auf „Religion“ als auch auf „Religiosität“ bezieht, ist in der Zwischenzeit gelegentlich zur Sprache gekommen. Seltener wird beachtet, dass sich „Religiosität“ als Begriff seinerseits auf ein Doppeltes beziehen lässt: auf eine grundlegende Fähigkeit und auch auf deren individuelle Ausprägung.

Religiosität als grundlegende, anthropologisch nicht hintergehbare Fähigkeit habe ich in einem früheren Kontext „fundamentale Religiosität“ genannt. Religiosität in diesem Sinne ist dann die Fähigkeit, zu einem integrierten Sinnzusammenhang des eigenen Lebens und der ganzen Welt zu gelangen, und zwar in der Weise, dass die eigene Person und die ganze Welt im Horizont einer transzendenten Wirklichkeit erlebt und gedeutet wird, die zumeist Gott genannt wird.

Im Sinn einer individuellen Ausprägung (die ich gelegentlich „religiöse Performanz“ genannt habe), ist Religiosität die individuell gelebte Art und Weise, religiöse Sinn und Handlungselemente in das eigene Leben zu integrieren. Religiosität in diesem Sinn hängt eng mit der differenziellen Persönlichkeitsentwicklung eines Individuums zusammen. Als hilfreich hat sich mir dabei der Rückgriff auf Dimensionen von Religiosität erwiesen. Unterscheidet man die Dimensionen -erstens- der religiösen Sensibilität mit der Lernaufgabe der Entfaltung religiöser Wahrnehmungsfähigkeit, -zweitens- der religiösen Inhaltlichkeit mit der Kernaufgabe der religiösen Bildung im Sinn der (kognitiven) Differenzierung religiöser Vorstellung, -drittens- der religiösen Kommunikation mit der Kernaufgabe der religiösen Sprach- und Dialogfähigkeit und – viertens- des religiösen Ausdrucksverhaltens mit der Kernaufgabe der Ausbildung der Fähigkeit zur Übernahme religiöser Rollen, dann lässt sich leicht begründen, dass jeder Mensch ein unter- schiedliches und differenziertes Profil von Religiosität aufweist und dass sich dieses Profil im Lauf des Lebens immer wieder verändert. Die Unterschiedlichkeit der Profile ist dann Ausdruck der Individualität jedes Menschen und lässt sich sowohl psychologisch („differentialdiagnostisch“) als auch theologisch im Sinn der Einzigartigkeit jedes Menschen deuten.

Das differentialdiagnostische Profil der Ausprägung von Dimensionen der Religiosität sagt allerdings noch nicht aus, wie wesentlich religiöse Themen für einen Menschen sind. Daher habe ich eine grundlegende -fünfte- Dimension postuliert, die ich den Horizont religiös motivierter Lebensgestaltung genannt habe. Messbar wird diese Dimension im Blick auf die Relevanz von Religiosität für den einzelnen Menschen. Es kann ja durchaus sein, dass jemand eine hohe religiöse Sensibilität und eine überragende religiöse Kommunikationsfähigkeit aufweist. Daraus folgt aber noch nicht automatisch, dass eine solche Person religiösen Themen im eigenen Leben einen besonderen Stellenwert einräumt. Jemand, der gelernt hat, hervorragend Klavier zu spielen, ist noch lange nicht gezwungen, der Musik ein Leben lang eine besondere Rolle im eigenen Leben einzuräumen. Und selbst jemand, dem sein religiöses Leben wichtig ist, ist nicht in jedem Fall ein im christlichen Sinn gläubiger Mensch. Daher müssen wir uns weitergehenden Fragen stellen: nämlich was Religiosität und Glaube unterscheidet.

 

Was unterscheidet Religiosität und Glauben?

Gläubige Religiosität kann nicht ohne den Kontext einer religiösen Gemeinschaft, speziell im Rahmen der großen Weltreligionen, verstanden werden. Wenn wir Glauben als die subjektive Identifikation mit dem Sinndeutungsangebot einer Religion im Zusammenhang mit einer religiösen Gemeinschaft verstehen, dann ist christlicher Glaube die persönliche Identifikation mit der Weltsicht der Christenheit, und zwar konkret in Verbindung mit einer konkreten Glaubensgemeinschaft in der katholischen, evangelischen oder orthodoxen Kirche.

Diese Verbindung nimmt allerdings höchst unterschiedliche Formen der Identifizierung und Distanzierung an, so dass ein näherer Blick auf die konkrete Ausformung von Glauben in jedem Fall von hoher Bedeutung sein wird. Beispielsweise könnte man begriffsanalytisch fragen: Ist Glauben nichts anderes als gläubige Religiosität? Wie bei vielen, auf Exklusivität drängenden Fragen lässt sich hier dann trefflich auf weitere Erkenntnisperspektiven verweisen. Immerhin ist der Glaube im christlichen Sinn unverfügbarer Gnade, ein Gottesgeschenk, das durch menschliches Handeln nicht bewirkt werden kann. Andererseits lässt sich problemlos einräumen, dass der Handlungs- und Geschenkcharakter göttlicher Gnade durchaus in der Gestalt der persönlichen, psychologisch nachvollziehbaren Identifikation von Herrn oder Frau X mit den Deutungsangeboten einer religiösen Gemeinschaft Ausdruck finden kann. Ob dann Herr oder Frau X nach ihrer Taufe oder nach ihrem Entschluss, bewusst christlich zu leben, ihre religiöse Kommunikationsfähigkeit innerhalb oder außerhalb einer christlichen Gemeinschaft zum Ausdruck bringen, ist durch eine Theorie von Religiosität als solcher nur bedingt aussagefähig: In beiden Fällen könnte die Dimension religiöser Kommunikation besonders hoch oder besonders niedrig ausgeprägt sein. Kann man aber die Ausprägung religiöser Dimensionen im Fall nicht-gläubiger und im Fall gläubiger Religiosität gleichermaßen messen, dann spricht dieser Umstand zwar für den Vorteil umfassender Anwendbarkeit einer mehrdimensionalen Theorie von Religiosität. Es fehlt aber zunächst einmal jede Trennschärfe zwischen gläubiger und nicht-gläubiger Religiosität. Und wenn man schon von gläubiger Religiosität redet, drängt sich sofort die Frage auf, ob es denn nicht-gläubige Religiosität überhaupt geben könne. Anders gesagt: Wenn es denn tatsächlich eine nachvollziehbare Trennlinie zwischen gläubiger und nicht-gläubiger Religiosität gibt, wie kann diese beschrieben werden? Die Lösung ergibt sich nicht auf der Ebene der Inhalte (in Analogie zur fides quae), sondern auf der Ebene der identitätsbestimmenden Identifikation (in Analogie zur fides qua).

Dies bedarf einer näheren Erklärung. Nehmen wir einmal an, Thomas und Alexander seien Zwillingsbrüder. Beide haben die gleichen Eltern, die gleiche religiöse Erziehung und den gleichen allgemeinen soziokulturellen Hintergrund inklusive schulischem Religionsunterricht auf gutem Niveau. An beider 18.Geburtstag kommt das Gespräch in der Familie auf religiöse Themen. Thomas äußert: „Ich bin froh, in dieser Familie aufgewachsen zu sein und die Chance erhalten zu haben, mich mit Religion und Christentum auseinanderzusetzen. Obwohl ich manchen Veränderungsbedarf in der Kirche sehe und mit manchen Äußerungen unseres Pfarrers nicht einverstanden bin, betrachte ich mich in der Zwischenzeit als Christ und möchte das später einmal auch an meine eigenen Kinder weitergeben.“ Alexander erwidert: „Das werde ich nicht tun. Ich glaube sehr wohl an Gott, kann und will mich aber nicht einseitig festlegen. Gott ist größer und anders als das, was die Kirche tut und sagt. Der Anschlag vom 11. September 2001 zeigt die große Gefahr des religiösen Fanatismus. Dagegen ist keine religiöse Institution gefeit. Ich weiß zwar, dass ich vom Christentum tief beeinflusst bin und bezeichne mich auch als religiösen Menschen, bin mir aber nicht sicher, ob ich mich Christ nennen kann und will. Ich bin aber sicher, dass Gott dafür Verständnis haben wird.“

Würden wir nun -kontrafaktisch- annehmen, dass Thomas und Alexander in allen Dimensionen von Religiosität die gleichen individuellen Ausprägungen hätten und bei beiden sogar die Relevanz eines religiösen Lebenshorizonts gleich ausgestaltet wäre, dann wäre der einzige Unterschied zwischen ihnen tatsächlich derjenige, der sich in den beiden fiktiven Zitaten ausdrückt: Ihre fundamentale Religiosität wurde durch Prozesse religiöser Sozialisation entfaltet und führt bei beiden zu einem Akt religiöser Identifikation und somit -unter dem Strich- zu einem religiösen Bewusstsein. Beide sind gemäss ihrer Selbstaussage religiös im Sinn der Rückbindung ihres Lebenszusammenhangs an eine transzendente Wirklichkeit.

Aber nur Thomas bezeichnet sich als gläubig. „Gläubig“ verweist hier allerdings nicht auf die Trennlinie zwischen Menschen, die an Gott glauben und solchen, die es nicht tun. Alexander würde sich wohl auch wehren, würde ihn sein Bruder als „ungläubig“ oder „nicht-gläubig“ bezeichnen. Was beide unterscheidet, ist das Bekenntnis der Zugehörigkeit zu einer definierten Glaubensgemeinschaft (fides cum communitate).

Thomas kann von sich sagen „Ich bin Christ“. Alexander ist sich da nicht so si- cher. Er definiert seine religiöse Identität zwar durchaus im Kontext eines christlich-religiösen Umfelds, vollzieht aber für sich keinen Akt der expliziten Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft wie etwa der evangelischen oder katholischen Kirche.

Der Befund aus diesem Gedankenexperiment ist weitreichend. Erstens verweist er auf den doppelten Sinn des Wortes gläubig: Einmal als Ausdruck für einen wie immer gearteten Gottesglauben (den sowohl Thomas wie auch Alexander bejahen), zum anderen als Indikator von Zugehörigkeit im Sinn eines Bekenntnisses zu einer konkreten Glaubensgemeinschaft -und in diesem Sinn würde sich nur Thomas als „gläubig“ bezeichnen. Vielleicht würden die beiden Brüder die Differenz zwischen sich mit den Worten „kirchlich gläubig“ und „privat gläubig“ bezeichnen. Weiterhin ist die sprachliche Unterscheidung zwischen „gläubig“ als Ausdruck einer persönlichen Einstellung und „gläubig“ als Zugehörigkeitsbegriff von hohem theologischen Erkenntniswert. Es entspricht ja geradezu Jahrhunder- te langer theologischer Tradition, das Bekenntnis („Credo“) als entscheidenden Indikator der Zugehörigkeit zum katholischen oder evangelischen Christentum zu sehen.

Das Credo hat hier neben der propositionalen Seite (fides quae) und ihrem Expressiven Hintergrund persönlichen Engagements für eine bestimmte Weltsicht (fides qua) auch einen konstitutiven Bezug zu einer Gemeinschaft Gleichgesinnter (fides cum communitate), in der jedem Gläubigen auch der Wille zur Zugehörigkeit zu genau der gemeinten Glaubensgemeinschaft zu eigen ist. Der „private“ Glaube – auch der radikal individualistische Glaubensansatz eines überzeugten Pietisten- unterscheidet sich von diesem umfassenden Bekenntnis vor allem im fehlenden Bezug zu dieser Gemeinschaft Gleichgesinnter: Es kann sehr wohl sein, dass individualistische, gläubige Religiosität sich auf der Ebene dessen, was geglaubt wird, aber auch im subjektiven Vollzug des Glaubens durch nichts anderes von einem Credo im obigen Sinn unterscheidet als durch eine bewusste Distanzierung oder mindestens Skepsis gegenüber jedweder Glaubensgemeinschaft Gleichgesinnter. Privater Glauben – oder auch Religiosität ohne Rückbindung an ein Bekenntnis zeichnet sich dann als „fides sine communitate“ und somit als individualistische Aufgipfelung von Glaubensformen aus. Nun mag man allerdings vor dem Thema „Bekenntnis“ bis hin zum Sprachspiel des „Bekennens“ (und „Bezeugens“) zurückzucken. Da ist zum einen die Furcht vor fundamentalistischer Vereinnahmung. Zum anderen ist zu prüfen, ob der genannte Befund auch auf Weltreligionen wie Hinduismus und Buddhismus anwendbar ist. Zum dritten wird mit dem Thema „Bekennen und Bezeugen“ auch die theologische Wahrheitsfrage wieder salonfähig: WAS GENAU soll eigentlich bekannt und bezeugt werden? Auf welcher Grundlage? Und wie zutreffend?

 

Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft und privat-gläubige Weltsicht: Vor- und Nachteile

Wenn Glaube und Religiosität im Wesentlichen durch die Identifikation mit einer konkreten Glaubensgemeinschaft unterschieden werden, lassen sich einige Irrwege der Erkenntnis gut vermeiden.

Es ist zum Beispiel nicht richtig, dass gläubige Christen grundsätzlich mehr Interesse für ihre Religion aufbringen als religiös suchende Menschen, die den Schritt zum christlichen Bekenntnis nicht vollziehen. Die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft ist, so gesehen, noch kein Indikator für die Intensität religiöser Interessen, für die Tiefe religiöser Überzeugungen oder das Engagement in religiöser Praxis.

Dies gilt übrigens für den Kontext aller Weltreligionen. Auch für das Judentum sind klare Zugehörigkeitsregeln definiert (z.B. Abstammung von einer jüdischen Mutter). Im Hinduismus und Buddhismus werden dogmatische Fragen nach der Richtigkeit religiöser Vorstellungen zwar anders behandelt als im Christentum, aber die Trennlinie „Zugehörigkeit“ gilt gleichwohl. Sie wird allerdings häufig durch die Praxis des sozialen Lebens geprägt, u.a. bis heute noch in Form der Kastenzugehörigkeit.

Gerade aus theologischer Sicht ist es ausserdem unangemessen, der Frage nach der Wahrheitsfähigkeit theologischer Argumentation auszuweichen. Die Tradierung und Interpretation von Auslegungen des Christentums ist kein Ersatz für die Wahrheitsfrage: Entweder ist es wahr, dass es Gott gibt- oder nicht. Entweder ist es wahr, dass Gott sich in Jesus Christus offenbart hat- oder nicht. Dass es in solchen Zusammenhängen nur mehr oder weniger starke Plausibilitäten und keine voraussetzungslosen Beweise gibt, reicht als Umstand nicht aus, auf die Wahrheitsfrage zu verzichten. Christliches Bekenntnis speist sich ja gerade aus dem mutigen Delta zwischen intellektuell redlicher Erkenntnis und ganzheitlicher Bejahung einer religiösen Wirklichkeit inklusive eines Erkenntnis- und Lebensrisikos. Religiöser Dialog setzt ja geradezu ein Ringen auf der Grundlage eines eigenen Standpunkts voraus.

Logisch gesehen ist die Annahme einer religiösen Aussage (wie etwa des Glaubens an ein Leben nach dem Tod) die Option auf die Wahrheit einer hier und heute nicht entscheidbaren Aussage. Dabei gilt allerdings: Was hier und heute nicht entscheidbar ist, kann zu einem späteren Zeitpunkt sehr wohl entscheidbar (oder geradezu „evident“) sein.

Nun könnte man es ja als Vorteil ansehen, sich im Sinn eines gläubigen Bekenntnisses gerade nicht festzulegen. Viele Menschen dürften dies auch so empfinden.

Wenn wir auf unser Gedankenexperiment mit den Brüdern Thomas und Alexander zurückkommen, dann lässt sich der Zusammenhang relativ gut aufweisen: Thomas, der sich als Christ bezeichnet, stellt sich bewusst in den Kontext einer größeren Glaubensgemeinschaft, hier z.B. den der katholischen Kirche. Diese ist stets auch eine Gemeinschaft des gemeinsamen Suchens und Ringens nach zeitgültigen Auslegungsformen des Glaubens. Die Frage nach Gottesbildern und die Frage nach dem Wesentlichen in der Weitergabe des Glaubens an die nächste Generation wird in Rede und Gegenrede gestellt und je neu, aber auch immer wieder kontrovers beantwortet.

Und dort, wo Thomas bislang kein persönliches Interesse entwickelt hat (z.B. bei eschatologischen Fragen), dort partizipiert er am Erfahrungsschatz seiner Glaubensgemeinschaft. Damit ist ein Stück entlastender Delegation gemeint. Im strikt theologischen Sinn könnte man aber auch argumentieren, dass die Glaubensgemeinschaft der Kirche als Ganze für Thomas eine Garantenfunktion für die Wahrheit seiner religiösen Weltsicht übernimmt, weil umgekehrt die Kirche au den Beistand Gottes auf ihrem Weg durch die Welt vertrauen darf.

Umgekehrt wäre es problematisch, Alexanders Religiosität als defizitär zu bezeichnen. Vielleicht setzt er sich sogar intensiver mit einigen religiösen Fragen auseinander als sein Bruder Thomas. Er nimmt das Risiko einer subjektiven religiösen Weltsicht bewusst auf sich und verzichtet auf die mögliche „Garantenstellung“ einer konkreten Glaubensgemeinschaft im Blick auf ein religiöses Weltbild. Alexanders individueller Weg wird daher zwar nicht ohne weiteres an der entlastenden Funktion jahrhundertelanger kirchlicher Erfahrung mit Glaubensfragen partizipieren, er wird aber andererseits nicht mit gegenwärtigen oder vergangenen Fehlentwicklungen in der Kirche wie z.B. Kreuzzüge oder aktuelle Fälle sexuellen Missbrauchs durch Priester konfrontiert.

Der Unterschied zwischen einer Religiosität mit oder ohne Bekenntnis zu einer Glaubensgemeinschaft liegt damit in der persönlichen Bindung an andere Menschen, die ihr Leben im Wesentlichen nach dem gleichen religiösen Modell ausrichten. Genau dieser Zusammenhang ist mit der Unterscheidung zwischen „fides cum communitate“ und „fides sine communitate“ gemeint.

Dies muss nicht bis in die tiefsten Tiefen und höchsten Höhen der Selbstverpflichtung hineinragen, sondern hat meist einen eher partizipatorischen Charakter. So wie man sich beispielsweise an die Menschen am eigenen Wohnort, an einen Ehepartner, an einen Verein oder eine Firma bindet, so spielt die Dimensi- on der Selbstbindung und Hingabe auch in den religiösen Bereich hinein, ohne dass damit Intensität, Tiefe und Dauer der Bindung präjudiziert würden.

Was sich in den letzten hundert Jahren in Mitteleuropa deutlich verändert hat, ist der soziale Druck in Richtung auf solche Bindungen. Niemand wird heute gezwungen, für alle Zeit an einem Ort zu leben, sich für einen konkreten Lebenspartner zu entscheiden oder bei der gleichen Firma pensioniert zu werden, bei der jemand angefangen hat. Individualität und persönliche Lebensorientierung sind Lust und Last der Moderne. Gerade dann, wenn Menschen den Äusserungen von Kirchenleitungen Misstrauen oder Kritik entgegenbringen, wird sich der Trend zu einer individuellen, nicht kirchlich gebundenen Religiosität sowie zum privaten Glauben verstärkt zum Ausdruck bringen.

 

Theologische Reflexion über Religiosität

Nun könnte man fragen, ob es unter solchen Gesichtspunkten nicht am leichtesten wäre, auf eine theologische Reflexion über Religiosität zu verzichten. Sicherlich wird im Lauf der Erziehung eines Menschen dessen religiöse Kompetenz im Sinn einer umfassenden religiösen Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit entfaltet. Aber wäre nicht eine religionspsychologische und religionspädagogische Betrachtung des Themas völlig ausreichend?

Theologisch gesehen scheint dies jedoch nicht der Fall zu sein. Um diese Behauptung zu untermauern, empfiehlt sich aber ein Wechsel der Erkenntnisperspektive. Unbestritten ist nämlich in der Theologie, dass es keinen „Zwang zum Glauben“ geben darf und die Annahme des Glaubens – durchaus auch im Sinn eines Bekenntnisses zu einer Glaubensgemeinschaft- ein Akt freier Zustimmung, also auch Ausdruck menschlicher Freiheit sein muss.

Und wenn dies alles so ist, dann könnte man fragen: Wenn es –erstens- Gott gibt, und wenn dieser- zweitens- mit Menschen in Kommunikation treten will und dies nach christlicher Überzeugung in Form der biblischen Offenbarung getan hat, welche Bedingungen müsste dieser Gott dann beim Menschen schaffen, um eine freie Annahme von Glauben zu ermöglichen?

An dieser Stelle greift eine explizit theologisch-anthropologische Argumentation. Damit Menschen frei zustimmen können, müsste Gott nämlich in ihnen die natürlichen Grundlagen für die Möglichkeit einer solchen Zustimmung schaffen. Genau dies: nämlich die Möglichkeit, nicht aber den Zwang zur religiösen Zustimmung wird mit dem Begriff der fundamentalen Religiosität ausgedrückt. Dabei ist es unbenommen, dass es für die Möglichkeit zu einer religiösen Selbst- und Weltdeutung biologische und soziale Voraussetzungen gibt, die unabhängig von theologischen Erkenntnisperspektiven existieren.

Wenn – wiederum in strikt theologischer Perspektive- es tatsächlich in Gottes Absicht stünde, dass seine eigene Selbstkommunikation (d.h. im christlichen Sinn seine Selbstoffenbarung) generationenübergreifend aufgenommen werden und im Sinn lebendiger Tradition wirken kann, dann muss es so etwas wie religiöse Lebens- und Erzählgemeinschaften geben, die im Sinn einer religiösen Sozialisation weitergeben, was ihnen selbst wichtig geworden ist. Wiederum ist es unbenommen, dass Formen religiöser Sozialisation in den verschiedenen Religionsgemeinschaften zum Gegenstand soziologischer oder erziehungswissenschaftlicher Analyse werden.

Wenn drittens die liebende Selbstoffenbarung Gottes auf einen liebenden und in Freiheit gesetzten Impuls der Menschen treffen soll, muss die Bedingung der Möglichkeit freier und ungezwungener Zustimmung gegeben sein. Dies gilt für die Bejahung einer religiösen Weltsicht ebenso wie für die Zustimmung zur Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft. Und wiederum gilt, dass die psychologischen Voraussetzungen und Implikationen eines Akts der religiösen Identifikation auch dann in sinnvoller Weise psychologisch, kognitionstheoretisch und generell humanwissenschaftlich erforscht werden können, wenn jemand sich den theologischen Voraussetzungen der abgeleiteten theologischen Argumentation nicht anschließen möchte.

Theologisch gesehen ist Religiosität damit die konkrete Ausprägung für die Bedingung der Möglichkeit, das Freiheitsgeschehen des Glaubens auf der Ebene des einzelnen Menschen zum Ausdruck zu bringen, und zwar inklusive der subjektiven Freiheit jedes Menschen, für sich selbst religiöse Sinngebung anzunehmen oder abzulehnen. Eine weitere Nuance des genannten Freiheitsgeschehens ist die Annahme oder Ablehnung eines gemeinschaftlichen Bekenntnisses im Sinn der Zugehörigkeit zu einer konkreten Glaubensgemeinschaft (fides cum communitate versus fides sine communitate). Dabei wird jedoch vorausgesetzt, dass Glaubensgemeinschaften mindestens sozialisationspraktisch immer schon prägender Kontext der verschiedenen Ausprägungen eines Privatglaubens sein werden.

Wenn religiöses Bewusstsein im genannten Sinn durch das Zusammenwirken fundamentaler Religiosität, religiöser Sozialisation und religiöser Identifikation zustande kommt, dann kann folglich die Genese religiösen Bewusstseins sowohl religionspsychologisch, soziologisch, historisch oder theologisch gedeutet wer- den.

Vorteilhaft an diesem Modell ist die Offenheit für mehrperspektivische Erkenntniszugänge. Immerhin schließt ja eine theologische Deutung religionspädagogischer Prozesse die psychische Funktionalität religiöser Lebensmodelle nicht aus. Und phänomenologische Studien zu Religiosität sind auch dann möglich, wenn jemand die theologischen Prämissen der Argumentation nicht teilt.

 

Schluss

Im Rahmen einer Analyse des zeitgenössischen Kontexts und des theologischen Hintergrunds von Religiosität lässt sich nicht nur die Vereinbarkeit eines differenzierten Religiositätsmodells sowohl mit theologischen als auch mit nichttheologischen, u.a. auch empirischen Erkenntnisperspektiven zeigen. Vielmehr wird auch deutlich, dass die Unterscheidung zwischen einer religiösen und einer gläubigen Weltdeutung über die Kategorie der Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft laufen kann, aber nicht muss: Nicht unbedingt religiöse Inhalte oder religiös motivierte Praxis, sondern das Bekenntnis zu einer konkreten religiösen Gemeinschaft bezeichnet den Unterschied zwischen einer „privat gläubigen“ und einer „an eine Glaubensgemeinschaft gebundenen“ Religiosität.

Religiöses Bewusstsein bis hin zum religiösen Glauben im Sinn der fides quae undder fides qua kann daher mit oder ohne den Akt der Zustimmung zur expliziten Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft stattfinden.

Damit wird aber auch die Grenze subjektiver Formen von Religiosität gekennzeichnet. Diese beziehen sich regelmäßig auf den sie umgebenden religiösen Kontext. Religiosität erweist sich damit als ein vielschichtiges individuelles und kollektives Phänomen. So wie es einen persönlichen Stil von Religiosität gibt, so gibt es zweifelsfrei auch kollektive Religiositätsstile. Ein Beispiel dafür sind die unterschiedlichen Lebensformen katholischer Orden, etwa in Unterscheidung zwischen Franziskanern, Benediktinern oder Jesuiten.

Forscht man auf diesem Weg weiter, so gibt es zweifelsfrei auch ausgestorbene Formen von individueller und kollektiver Religiosität (wie z.B. die altägyptische Religion oder die Zelebration von Menschenopfern bei den Inkas) oder geradezu religiöse Zeitstile- wie z.B. die Reliquienverehrung des frühen Mittelalters oder der Frömmigkeitsstil des katholischen Barocks. Und vielleicht ist es zeittypisch für die Gegenwart, relativ deutlich den Aspekt der subjektiven Genese und der individuellen Zurechenbarkeit der eigenen Religiosität in den Vordergrund zu rücken.

Das Interesse an der Unterscheidung zwischen Religiosität und Glaube hängt dann ein Stück weit auch an solchen zeitgenössischen Kontextbedingungen.

Wenn man beispielsweise Formen christlicher Religiosität (wie z.B. eine Wallfahrt) unter dem Sammelbegriff „Religiosität“ zusammenfasst (=Sammelbegriff erster Ordnung), dann ist im Hintergrund zu beachten, dass „Religiosität“ im allgemeinen Sinn in Abstraktion von den konkreten Formen christlicher, islamischer, hinduistischer und sonstiger Religiosität sozusagen ein „Sammelbegriff zweiter Ordnung“ ist. Auf der Ebene der Phänomene ist daher der konkrete örtliche und zeitliche Kontext beobachteter Religiosität mit zu berücksichtigen.

Wenn dies tatsächlich so ist, dann stehen eine Reihe hoch spannender Forschungsaufgaben bevor. Gibt es zeitübergreifende Konstanten individueller und kollektiver Religiosität? Sind Ausprägungen von Dimensionen der Religiosität „kontextunabhängig“ nachweisbar? Wird es in absehbarer Zeit einen Pendelschlag in Richtung der Wiederentdeckung der „Entlastungsfunktion“ kollektiver Religiosität geben? Gibt es Wirkbedingungen religiöser Erziehung, die nachweisbar auf ein stabileres Selbstbild und emotionale Balance hinführen als andere? Wenn ja, ist die Funktionalität religiöser Erziehung hin auf eine „ausbalancierte Persönlichkeit“ überhaupt so wünschenswert? Welche Rolle spielt die Deutung religiöser Inhalte beim Tradierungsprozess? Gibt es so etwas wie Meilensteine religiöser Erziehung, die zeit- und kontextunabhängig sind? Welche biologischen Prozesse befähigen Menschen zur psychischen Leistung, einen Sinnzusammenhang im eigenen Leben zu konstituieren?

Fragen über Fragen. Aber manchmal ist es hilfreich, eher Fragen zu stellen, als Antworten zu geben.

 

 

Literatur

H.F. Angel, Religiosität im Kopf? In: Katechetische Blätter 127, 2002, Nr.5, 321-326 B. Grom, Religionspädagogische Psychologie des Kleinkind- Schul- und Jugendalters, Düsseldorf/Göttingen 1981

U. Hemel, Religionspädagogik im Kontext von Theologie und Kirche, Düsseldorf 1986

Ders., Ziele religiöser Erziehung, Frankfurt/M. u.a. 1988

Ders., Art. „Religiosität“, in: Lexikon der Religionspädagogik, hrsg. von N.Mette und F. Rickers, Neukirchen-Vluyn 2001, Sp.1839-1844

F. Oser/P. Gmünder, Der Mensch- Stufen seiner religiösen Entwicklung, Zürich 1984R. Polak (Hrsg.), Megatrend Religion? Neue Religiositäten in Europa, Ostfildern 2002M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 5.Aufl. 1980H.-G.Ziebertz/W.Simon (Hrsg.), Bilanz der Religionspädagogik, Düsseldorf 1995

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Posted by Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel

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