Abstract [de]: Der für die 18. Legislaturperiode abgeschlossene Koalitionsvertrag „Deutschlands Zukunft gestalten“ spricht auch das Konzept der Schutzverantwortung, der sogenannten „Responsibility to Protect“ (r2p) an. Die neuerliche Aktualität eines beinahe zehn Jahre alten Konzepts ist Anlass, dessen Entstehungsgeschichte zu skizzieren.
August 2014
Das Konzept der „Schutzverantwortung“ und die Koalitionsvereinbarung
Der Artikel wird mit freundlicher Erlaubnis der Zeitschrift „Europäische Sicherheit und Technik“ veröffentlicht.
Er ist in der dortigen Aprilausgabe 2014, Heft 4, S. 18 ff. abgedruckt.
Das Konzept der Schutzverantwortung bedarf nach dem Koalitionsvertrag weiterer Ausgestaltung wie einer „völkerrechtlich legitimierten Implementierung“. Damit wird die Frage nach der normativen Relevanz des Konzepts aufgeworfen. Bisher hatte die deutsche Außenpolitik das durch die UN-Generalversammlung am 26. September 2005 aus der Taufe gehobene Konzept „r2p“ nicht als einen wichtigen Punkt der UN-Reformagenda thematisiert. Das Konzept hatte zwar bei der Abfassung der beiden Libyen-Resolutionen des UN-Sicherheitsrates mit Pate gestanden. Bekanntlich hatte die damalige Bundesregierung aber durch ihre Enthaltung bei der Abstimmung über die Resolution des UN-Sicherheitsrats darauf verzichtet, die sich bietende Gelegenheit für eine politische Unterstützung des Konzepts wahrzunehmen. Erst der syrische Außenminister bezog sich – sicherlich zur Überraschung seiner Zuhörer – in einer am 30. September 2013 vor der Generalversammlung gehaltenen Rede wieder auf das Konzept der Schutzverantwortung und warnte vor dessen missbräuchlicher Inanspruchnahme. Zuvor hatte Präsident Obama in der UN-Vollversammlung das Spannungsverhältnis von Souveränität und Intervention angesprochen und festgestellt, dass Souveränität kein Schutzschild sein könne, hinter dem Tyrannen Morde begehen könnten. Sei die Welt angesichts eines Ruanda und eines Srebrenica wirklich so machtlos, so der amerikanische Präsident.
Die Doktrin der „humanitären Intervention“
Den eigentlichen Nukleus des Konzepts der „Responsibility to Protect“ bildet die völkerrechtlich sehr umstrittene Rechtfertigung eines seit dem 19. Jahrhundert diskutierten und die Souveränität eines Staates potenziell einschränkenden Rechtsgedankens: der sogenannten humanitären Intervention. Diese sollte im Falle schwerer, durch einen Staat begangenen Menschenrechtsverletzungen als Ultima Ratio zum Zuge kommen. Jüngstes und von Präsident Obama in der UN-Generalversammlung angesprochenes Beispiel ist der Bürgerkrieg in Syrien. Wegen der Lähmung des UN-Sicherheitsrats sah sich die britische Regierung Ende August 2013 veranlasst, ein mögliches Eingreifen unter Hinweis auf die Legitimität der sogenannten humanitären Intervention zu begründen. Die humanitäre Intervention beruhe auf drei Voraussetzungen, nämlich: 1. Überzeugende Beweise, dass eine außerordentliche humanitäre Notlage gegeben sei. 2. Keine praktikable Alternative zur Anwendung von Gewalt, wolle man Leben retten. 3. Die Anwendung von Gewalt dürfe nur im notwendigen Ausmaß erfolgen und müsse von Zeit und Rahmen her begrenzt sein.
Pro und Contra
Die Realisten in der völkerrechtlichen Diskussion um die Zulässigkeit der sogenannten humanitären Intervention halten das Souveränitätsprinzip hoch. Eine der gravierenden Nachteile einer Intervention wie der der NATO im Kosovo im Jahre 1999 ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrats sei etwa die weitere Aushöhlung der Autorität dieses UN-Organs. Die Idealisten prangern die nun sattsam bekannte Lähmung des einzigen UN-Organs, das Interventionen völkerrechtlich legitimieren könnte, an und fordern, dessen Handlungsunfähigkeit in Zeiten der Krise zu überwinden.
„International Commission on Intervention and State Sovereignty“
Mit der Intervention der NATO im Kosovo scheint ein kritischer Punkt innerhalb der UN erreicht worden zu sein, weshalb UN-Generalsekretär Kofi Annan in der 54. UN-Generalversammlung im September 1999 folgende programmatische Frage stellte:
„…if humanitarian intervention is, indeed, an unacceptable assault on sovereignty, how should we respond to a Rwanda, to a Srebrenica – to gross and systematic violations of human rights that effect every precept of our common humanity?…”
Die kanadische Regierung nahm den Einwurf Kofi Annans auf und verkündete in der UN-Vollversammlung im September 2000, dass man eine „International Commission on Intervention and State Sovereignty“ (ICISS) einberufen habe. Der zu erstellende Bericht sollte alle rechtlichen, moralischen, operationalen und politischen Fragen behandeln, die sich aus der Problematik ergäben. Er sollte dem UN-Generalsekretär bei seiner Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den man die Mitgliedsländer der Vereinten Nationen einschwören könnte, eine Handreichung darstellen. Der Bericht der Kommissionsmitglieder wurde unter dem Titel: „The Responsibility to Protect“ im Herbst 2001 vorgestellt.
Das Konzept der „Responsibility to Protect“
Die von der ICISS erarbeiteten Kernbestandteile umfassen folgende Verantwortlichkeiten:
a) „responsibility to prevent“, die b) „responsibility to protect“ und c) „responsibilty to rebuild“. Bei der ersten geht es um die unmittelbaren Ursachen des internen Konflikts, die angemessen adressiert werden sollen. Bei der zweiten Verantwortlichkeit um mögliche Zwangsmaßnahmen wie Sanktionen oder im Extremfall um militärische Gewalt. Bei der dritten geht es um Wiederaufbau und Versöhnung der Konfliktparteien, sollten etwa die Folgen eines Bürgerkrieges bewältigt werden müssen. Die Kommission ergänzte diese Verantwortlichkeiten um eine Taxonomie, welche die Prinzipien aufführt, die im Falle einer militärischen Intervention beachtet werden müssten. Insbesondere weist sie die Autorisierung einer militärischen Intervention zu humanitären Zwecken dem UN-Sicherheitsrat zu. Sollte eine Mehrheit der Mitglieder des UN-Sicherheitsrats für eine entsprechende Resolution sein, so sollen die fünf mit dem Vetorecht ausgestatteten Mitglieder von dessen Gebrauch absehen, es sei denn, herausragende nationale Interessen sind berührt (3 D.). Bei Untätigkeit des Sicherheitsrats soll sich die UN-Generalversammlung oder eine Regionalorganisation der Herausforderung für Frieden und Sicherheit annehmen ((3 E., I & II). Der Report der Kommission schließt mit der Aufforderung an die UN-Generalversammlung, den Entwurf einer deklaratorischen Resolution zu entwerfen, welcher die Basiselemente des Konzepts enthält.
Annahme und Implementierung durch die Vereinten Nationen
Die UN-Generalversammlung nahm im Oktober 2005 in die „Resolution General Assembly 60/1. 2005 World Summit Outcome“ die Paragrafen 138 und 139 auf, welche die maßgeblichen, von der ICISS erarbeiteten Prinzipien inkorporierte.
Im Report „Implementing the responsibility to protect“ vom Januar 2009 stellte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon der UN-Generalversammlung eine „Drei-Säulen-Strategie” vor, welche die Ergebnisse der ICISS fortführen und gleichzeitig dem ihm dort gegebenen Auftrag entsprechen soll, Vorschläge zur Umsetzung in den beiden Organen UN-Sicherheitsrat und UN-Generalversammlung einzubringen. Die erste Säule legt die Verantwortung eines jeden Staates fest, für den Schutz seiner Bevölkerung zu sorgen. Die zweite Säule formuliert die Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft, strauchelnde Staaten zu unterstützen und aktive Konfliktprävention zu betreiben. Schließlich geht es bei der dritten Säule um die Konsequenzen, sollte ein Konflikt nicht beigelegt werden können.
Normativer Charakter des Konzepts
Das Konzept der Schutzverantwortung ist weder in der UN-Charta noch in sonstigen völkerrechtlichen Verträgen niedergelegt. Die 2005 durch die UN-Generalversammlung angenommene Resolution hat keine völkerrechtliche Verbindlichkeit. Das Gleiche gilt für das „Drei-Säulen-Konzept“ von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, das er in einem Report der Generalversammlung im Jahr 2009 vorstellte. Zwar wird die Auffassung vertreten, das Konzept der „Responsibilty to Protect“ sei als „modernste Ausdrucksform“ des völkerrechtlichen Solidaritätsprinzips mittlerweile ein in der Völkerrechtsordnung fest verankertes Prinzip. Doch das würde voraussetzen, dass es unter eine der in Art. 38 IGH-Statut genannten Kategorien fällt. Danach wendet der Gerichtshof u. a. das internationale Gewohnheitsrecht als Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung an wie auch die von den zivilisierten Staaten anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze. Auch angesichts der syrischen Tragödie wird man das Konzept der Schutzverantwortung kaum einer dieser Kategorien zuordnen können.
Noch weitere Fragen offen
Das Konzept der Schutzverantwortung ist zunächst politisch, nicht rechtlich legitimiert. Man darf sich in Erinnerung rufen, dass weder die USA noch China oder ein anderer einflussreicher Staat der Völkerfamilie eine rechtliche Handlungsverpflichtung bei der Annahme des Konzepts der Schutzverantwortung begründen wollten. Die angestrebte rechtliche Legitimation von Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft erfolgt bisher dadurch, dass der UN-Sicherheitsrat die Maßnahmen, die im Rahmen des Konzepts getroffen werden sollen, in einer Resolution legitimiert. Man darf deshalb feststellen, dass die völkerrechtliche Legitimation des Konzepts im engeren Sinn unter einer aufschiebenden Bedingung steht. Mit dem Report des UN-Generalsekretärs von 2009 erfolgte tatsächlich schon eine weitere Ausgestaltung des Konzepts. Nicht ersichtlich ist deshalb, was im Detail noch angestrebt werden könnte. Hier müssen die deutschen Vorschläge abgewartet werden.
Die Betonung der präventiven Säule schließlich verändert die austarierte Säulenstatik des Konzepts und könnte dessen Tragfähigkeit beeinträchtigen. Die Formulierung „insbesondere“ lässt offen, ob Deutschland die militärische Intervention als letzte Möglichkeit zur Abwendung einer drohenden humanitären Katastrophe zu akzeptieren bereit ist. Es scheint, dass die Forderung des Koalitionsvertrags letztlich mehr Fragen aufwirft als beantwortet.
Eine völkerrechtlich legitimierte Implementierung erfolgt mittels völkerrechtlicher Normen, die zunächst eine bindende Wirkung für die Unterzeichnerstaaten und bestenfalls für die gesamte internationale Gemeinschaft entfalten. Das rechtliche Instrumentarium hierfür ist vorhanden und bedarf lediglich der Inanspruchnahme. Ob allerdings der Versuch, eine völkerrechtliche Legitimierung des Konzepts herbeizuführen, überhaupt Aussicht auf Erfolg hat, hängt von einem Stimmungsumschwung innerhalb der UN und hier insbesondere unter den großen Fünf, nämlich den Vetomächten des UN-Sicherheitsrats ab. Ohne Einigkeit der USA, Russlands, Chinas, Frankreichs und Großbritanniens ist das Projekt kaum umsetzbar. Diese aber erscheint zum jetzigen Zeitpunkt und in Anbetracht der wieder zutage getretenen bipolaren Spaltung des UN-Sicherheitsrats in der Frage des Umgangs mit dem syrischen Bürgerkrieg doch eher unwahrscheinlich. Ruft man sich die langjährigen und vergeblichen Bemühungen um eine Reform des UN-Sicherheitsrats in Erinnerung, darf man feststellen: es spricht in dieser Legislaturperiode wenig für einen Erfolg diplomatischer Bemühungen Deutschlands in den Vereinten Nationen. Die Götter bräuchten heute Sisyphus nicht zu strafen, indem sie ihn einen Felsen einen Hang hinaufwälzen lassen. Heute würden sie – sehr zivilisiert – ihm die Aufgabe übertragen, das Konzept der Schutzverantwortung in den Vereinten Nationen völkerrechtlich legitimieren zu lassen.
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