Abstract [en]: This talk, held at the German National Symposium of Phlebology in Stuttgart in September 2017, shows that certain developments within civil society have a clear impact on the success of healing, especially in view of the communication and interaction between doctor and patient. As the medical expertise of doctors speaks in favor of an asymmetrical style of communication, the thesis of the paper is the establishment of real symmetry due to the common aim, patients’ improvement of health. Here, the patient’s expertise is the personal knowledge of his or her health situation. Combined with the medical expertise of doctors, both may join forces looking at the common health-related objectives. More research is needed for an empirical proof of concept of this specific kind of doctor-patient-interaction.


Oktober 2017

Arzt-Patienten-Beziehung: Medizin, Zivilgesellschaft, Sozialstrategie

oder: Customer Journey, User Experience und Sozialstrategie im Gesundheitswesen – welche Rolle spielt die Arzt-Patienten-Beziehung für die Betroffenen?

(Vortrag zur Arzt-Patienten-Beziehung gehalten am 23.09.2017 auf dem DGP-Jahreskongress 2017 in Stuttgart)

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

unser Thema ist das betriebliche Gesundheitsmanagement. Es geht also um Gesundheit im Kontext des Berufs, genauer: im sozialen Leben eines Betriebs, eines Unternehmens, eines Standorts. Wir sprechen also gleichzeitig von einer betriebswirtschaftlichen, einer im engeren Sinn sozialen und einer im engeren Sinn medizinischen Realität. In der Arzt-Patienten-Beziehung können alle drei Ebenen gleichermaßen betrachtet werden.

Arzt-Patienten-Beziehung: Subjektive Bewertungen und Patienten-Compliance

Medizin ist also nicht nur Medizin. Wenn wir das wissen, dann ist es hilfreich, den betrieblichen und sozialen Kontext medizinischen Wirkens als Stellgröße genauer in den Blick zu nehmen. Dabei geht es am Ende immer um eine Mischung aus objektivierbaren Befunden und subjektiven Bewertungen.

Solche subjektiven Bewertungen sind heute flächendeckender Teil der sozialen Welt. Bei Amazon heißt es: „Andere Kunden haben dieses und jenes gekauft“. Jede Web-Site sucht nach möglichst vielen, möglichst guten Bewertungen. Und diese Bewertungen sind in sich selbst in höchstem Maß subjektiv!

Subjektive Bewertungen bedeuten nicht, dass die Qualität einer Dienstleistung keine Rolle spielt. Nur wird diese Qualität eingebettet in einen Erlebens- und Erfahrungskontext.Sie ist also nicht mehr der einzige Erfolgsfaktor, sondern einer unter mehreren.

Für die Medizin sind solche Überlegungen zwar nicht neu. Sie werden aber nicht ausreichend beachtet. In der Kraftfahrzeug-Industrie spricht man heute von der „User Experience“, im Internet von der „Customer Journey“. Gemeint ist die sehr genaue Untersuchung der subjektiven Erlebnisse beim Nutzen eines Fahrzeugs oder bei der Nutzung einer Internet-Dienstleistung. Wie lange muss ich warten, bis sich der gewünschte Effekt einstellt? Wie leicht ist eine Seite zu bedienen?

Im medizinischen Bereich sind diese Parameter weitgehend fremd. Gesprochen wird vielmehr von der „Patienten-Compliance“. Dahinter steckt die richtige Einsicht, dass nur das Zusammenwirken von Arzt und Patient oder Patientin den optimalen Heilerfolg sichert. Ein Beispiel dafür ist die gut belegte Wirksamkeit des Tragens von Kompressionsstrümpfen bei bestimmten lymphologischen Indikationen.

Lassen Sie dieses Wort einmal auf sich wirken. „Compliance“ lässt sich ja mit „Regeltreue“ übersetzen. Es gibt also Regeln, die zu beachten sind. Ob die Regeln sinnvoll sind, erschließt sich dem Patienten oder der Patientin häufig nicht. Klar ist aber, dass eine Anforderung gemeint ist, die erfüllt werden soll oder muss.

Nun hat jeder von uns Erfahrungen mit Regeln und deren Beachtung. Es gibt Regeln, die wir von unseren Eltern lernen. Es gibt Regeln in der Schule. Es gibt Regeln im Beruf.

Jetzt lassen Sie uns einmal nach der „User Experience“ und der „Customer Journey“ von Regelbefolgungen fragen. Ich möchte dazu ein praktisches, gesundheitsbezogenes Beispiel verwenden. Dazu stelle ich die einfache Frage: „Wer von Ihnen hat noch nie eine Zigarette geraucht?“

Keine Sorge, mir geht es nicht um investigative Wahrheiten. Und es geht mir als Nichtraucher auch nicht um Werbung für das Rauchen. Ich möchte Ihnen vielmehr an einem einfachen Beispiel zeigen, dass die emotionale Landschaft rund um das Befolgen von Regeln sehr unterschiedlich sein kann.

Ist es nicht so, dass das Brechen von Regeln gerade in der Jugendzeit auch ein Akt der Befreiung von empfundener Bevormundung sein kann, ja geradezu ein kreativer Akt?

Und ist es nicht so, dass nur Streberinnen und Streber, die ein konformistisches und langweiliges Leben führen, sich an alle vorgegebenen Spielregeln halten? Wie aufregend können dagegen die erste Zigarette, der erste Kuss und dergleichen sein!

Meine Damen und Herren, hier geht es nicht um einen Feldzug gegen Regelbefolgung oder „Compliance“, sondern um das Bewusstmachen der emotionalen Landschaftrund um unser Thema. Dabei gilt es zu beachten, dass auch die besten Vernunftargumente ohne emotionale Verankerung unwirksam werden. Anders gesagt: Wer beim (begrenzten) Brechen von Regeln ein „Freiheitsgefühl“ empfindet, der wird sich schon mit dem regelmäßigen Anlegen von Kompressionsstrümpfen vermutlich schwerer tun als andere.

Die mentale Rahmenhandlung oder das emotionale Framing

Eine zivilgesellschaftliche Analyse sozialmedizinischer Wirksamkeit muss, anders ausgedrückt, die mentale Rahmenhandlung oder die „innere Landschaft“ des Patienten oder der Patientin in den Blick nehmen. Und auch der Arztbesuch kann unter dem Blickwinkel der User Experience oder der Customer Journey betrachtet werden.

Dabei geht es um einen ganzheitlichen Blick vom Empfang in der Arztpraxis bis zur Arzt-Patienten-Beziehung. Nicht nur die Kompetenzanmutung, sondern auch die erlebte Kommunikation ist ein Faktor für die innere und äußere Bereitschaft des Patienten zur Mitwirkung  und damit zum Therapieerfolg.

Dazu gehört – wie erwähnt – auch das sogenannte „Framing“, also der Rahmen für die Arzt-Patienten-Beziehung.

In einem konkreten Fall ging es um die Moderne Wundbehandlung mit Maden. Diese ist wirksam, aber bei einigen Patienten oder Patientinnen mit einer Ekelbarriere behaftet. Hier half ein verbales Framing wie folgt: „Menschen essen gerne Schokolade, Maden essen gerne Wundbeläge.“ Nun werden Sie fragen, „Ist es so einfach“? Und in vielen Fällen würde ich sagen: „Ja schon“, aber natürlich kommt es auf den Einzelfall an.

Arzt-Patienten-Beziehung: Symmetrische und asymmetrische Kommunikation in der Medizin

Bisher ist die asymmetrische Kommunikation zwischen dem medizinischen Experten und dem hilfesuchenden Patienten die Regel. Sie ist in der Asymmetrie der medizinischen Kenntnisse und der ärztlichen Erfahrung grundgelegt. Sie unterscheidet sich zunächst einmal nicht von der Asymmetrie, die ich in meiner Autowerkstatt erfahre. Der Unterschied ist nur: Bei jeder medizinischen Behandlung bin ich als Person mit Körper, Geist und Seele persönlich betroffen. Und das ist sehr wohl ein entscheidender Unterschied.

Andererseits leben wir im 21. Jahrhundert. Und durch Veränderungen der Zivilgesellschaft wirken asymmetrische Kommunikationserfahrungen nicht sehr förderlich für die Patienten-Compliance. Der Patient weiß, dass es schwierig ist, einen Facharzttermin zu bekommen. Er weiß aber auch, dass es Alternativen gibt. Und er strebt nach symmetrischer Kommunikation auf Augenhöhe. Das gilt auch dann, wenn er weiß, dass diese fachlich kaum möglich sein wird.

Denn der Wissens- und Erfahrungsvorsprung des Arztes oder der Ärztin auf medizinischem Gebiet ist vorauszusetzen.

Umgekehrt gilt aber, dass Symmetrie in der Kommunikation und damit in der Arzt-Patient-Beziehung auch davon abhängt, wie wir die Situation bewerten. Schließlich ist jeder Mensch Experte darin, sein eigenes Wohlbefinden einzuschätzen. Der subjektive Erfahrungsschatz mit medizinisch relevanten Situationen ist dem einzelnen Patienten, der einzelnen Patientin als Mensch zugänglich, dem Arzt oder der Ärztin nicht.

Auch eine fachlich asymmetrische Situation kann also in der emotionalen Erfahrung neu codiert werden. Ich kann nämlich sagen: „Sie sind Experte für Ihre körperliche Erfahrung, ich bin Experte für Gefäßkrankheiten. Lassen Sie uns zusammen das Beste für Ihre Gesundheit tun.“

Eine solche Vorgehensweise ist weder künstlich noch unrealistisch. Denn es ist einfach wahr, dass der Arzt oder die Ärztin die genaue Befindlichkeit des Patienten mit seiner Lebensgeschichte nicht en detail kennt. Und es ist richtig, dass nur im Zusammenwirken beider Seiten der beste Heilerfolg erzielt werden kann. Damit sind wir aber, wenngleich auf einem kleinen Umweg, direkt bei der Compliance gelandet. Nur eben in einem freundlicheren, zugleich aber auch wirksameren Rahmen!

Therapieerfolg nach Kommunikationsanalyse: die Forderung nach Begleitforschung zur Verbesserung der Arzt-Patienten-Beziehung

Ein Kompressionsstrumpf, den man nicht anzieht, entfaltet keine Wirksamkeit. Die Nullhypothese dieses Papiers lautet wie folgt:

Eine symmetrie-orientierte Arzt-Patienten-Kommunikation fördert den Heilerfolg signifikant, weil diese die Patienten-Compliance verbessert.“

So wie zu einem Produkt in der physischen Welt die emotionale Begleiterfahrung im Sinn der „Customer Journey“ gehört, so gehört zur medizinischen Dienstleistung die Achtsamkeit für kommunikative und zivilgesellschaftliche Aspekte.

Gerade weil sich unsere Gesellschaft in die Richtung größerer Autonomie von Verbrauchern und Verbraucherinnen entwickelt, werden kommunikative Erwartungen auch auf den medizinischen Bereich übertragen.

Der Begriff der Zivilgesellschaft bezeichnet dabei alles, was weder Staat ist noch organisiertes Verbrechen. Akteure im medizinischen Feld sind, so gesehen, auch Akteure der Zivilgesellschaft.  Und Gleiches gilt für Betriebe. Gerade in Zeiten, bei denen das Thema „Arbeitgeberattraktivität“ oder „Employer Attractiveness“ immer wichtiger wird, wird ein sinnvoller Rahmen für das betriebliche Gesundheitsmanagement immer wichtiger!

Es wird also Zeit, dass im medizinischen Feld geeignete Kommunikations- und Sozialstrategien präziser formuliert und kompetent überprüft werden. Dies legt die Forderung nach sozialstrategischer und medizinischer Begleitforschung nahe. Gesucht wird – mit anderen Worten – ein Forschungssetting mit sozialwissenschaftlichen und medizinisch-phlebologischen Hintergründen.

Unabhängig davon gilt: Wenn die Null-Hypothese stimmt, ist die praktische Anwendung einer kommunikationssymmetrischen Interaktion mit Patientinnen und Patienten für alle Beteiligten von Nutzen – für die einen durch besseren Heilungserfolg, für die anderen durch aktive Weiterempfehlung!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Posted by Ulrich Hemel

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