Abstract [de]: Die Pflege älterer Menschen durch die Familie führt häufig zur Überforderung aller Beteiligten. Diejenigen, die direkt mit der Pflege ihrer Angehörigen betraut sind, haben oft große Probleme, Beruf und Karriere mit der neuen Herausforderung zu vereinbaren. Hier sind Gesellschaft und Politik gefragt. Innovative Konzepte, wie die hier nach dem Modell der Altersteilzeit entwickelte Familienpflegezeit, können Entlastung für Familien und Gesellschaft bringen, ohne dabei zu sehr auf die Staatskassen zu drücken.

Familienpflegezeit – Wege zur Entlastung von Familien und Gesellschaft

Januar 2014

get pdf: Familienpflegezeit

 

Nicht nur die Geburt eines Kindes, sondern auch die Pflege der eigenen Eltern im fortgeschrittenen Lebensalter stellt viele Familien vor enorme Herausforderungen. In vielen Kleinfamilien gibt es keinen direkten räumlichen Zusammenhang der Generationen mehr. Kommt der Pflegefall, beeinträchtigen organisatorische, emotionale und finanzielle Belastungen den Alltag des Familienlebens, aber auch die Leistungsfähigkeit im Beruf. Gesellschaftliche Unterstützungsleistungen für die Familien sind hier bislang nicht ausreichend, um wirklich entlastend zu wirken. Sie werden viel eher als „Tropfen auf den heißen Stein“ betrachtet.

Generell herrscht der Eindruck vor, gerade die Organisation von Pflegeleistungen sei besonders schwierig, finanziell besonders belastend und emotional hochgradig unbefriedigend. Wer mit alten Menschen umgeht, erfährt aber auch anderes: Ein passendes Umfeld trägt zu ihrer Lebenszufriedenheit bei und kann im Idealfall zu einer wirklichen Balance zwischen Geben und Nehmen führen.

Gesellschaftlich wird die Pflege älterer Menschen zu einem emotionalen Paradox, ganz besonders für viele pflegende Frauen. Einerseits wird von ihnen erwartet, dass sie sich um die eigenen alten Eltern (und womöglich auch Schwiegereltern) kümmern. Andererseits geht es um die Verwirklichung im Beruf, um einen Beitrag zum Familieneinkommen und gar nicht selten auch noch um die emotionale Stützung heranwachsender oder erwachsender Kinder in deren Familiengründungsphase.

Ein zweites Paradox ist der hohe gesellschaftliche Wert und das Paradox der Selbstbestimmung. Damit ist beim alten Menschen in der Regel gemeint, dass dieser möglichst lange in seiner vertrauten Umgebung bleiben sollte, auch wenn dort die räumlichen und praktischen Voraussetzungen für eine neue Lebenssituation gar nicht gegeben sind. Umgekehrt führt die Forderung nach Selbstbestimmung der einen häufig zur Belastung der anderen: Bei Familienfrauen im Alter von 45-60 wird Selbstbestimmung quasi von vornherein unterstellt, gleichzeitig aber auch Aufopferung zugunsten der älteren Generation nach wie vor erwartet. Als Folge daraus ergeben sich unerkannte Überlastungssituationen, aber auch ein zu spätes Eingehen auf neue räumliche und pflegerische Bedürfnisse der älteren Generation, etwa beim Übergang in ein stationäres Pflegeheim.

Wenn wir gesellschaftlich von einer Kultur des Wegschauens zu einer Kultur des Hinschauens gelangen wollen, dann ist es unerlässlich, neue Wege zu gehen und nach sinnvoller sozialer Innovation zu suchen.

Interessanterweise geht es dabei nicht immer um „teure“ Lösungen, sondern eher um ein moderates Umdenken in die Richtung der wirklichen Bedürfnisse von Betroffenen.

In diesem Zusammenhang lässt sich das Thema unter dem Stichwort der „Familienpflegezeit“ entfalten. Damit wäre im Idealfall die Freistellung eines pflegenden Angehörigen für den Zeitraum von bis zu einem Jahr, aber ohne unzumutbare finanzielle Einbußen gemeint

Hier bieten sich Lösungen an, die eine Analogie zu der in früheren Jahren bekannten und beliebten „Altersteilzeit“ an. Einer „aktiven“ Phase von drei Jahren folgte eine „inaktive“ Phase von weiteren drei Jahren, in denen das Beschäftigungsverhältnis fortbestand, aber ruhte. Theoretisch hätte der Arbeitnehmer in diesem Modell über sechs Jahre lang mit 50% seiner Bezüge auskommen müssen. Praktisch ergaben sich Einsparungen bei der steuerlichen Progression, zu denen Verhandlungsergebnisse zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern kamen. In der Regel konnte die Altersteilzeit mit 70 oder sogar bis zu 80% der vorherigen Nettobezüge ausgestaltet werden.

Eine Familienpflegezeit muss nun nicht gleich auf sechs Jahre angelegt werden. Der Gedanke einer zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbarten Familienpflegezeit hat aber durchaus Charme. Denn vielen Familien würde es sehr wohl helfen, wenn sie einen solchen Rechtsanspruch für beispielsweise 12 Monate realisieren könnten. Ein zeitweiliger Einkommensrückgang kann überbrückt und kalkuliert werden- ganz anders als beim Dilemma, den Arbeitsplatz gleich ganz aufgeben zu müssen oder den Anforderungen der familiären Pflege nicht gerecht zu werden.

Darüber hinaus lassen sich flexible Lösungen finden. Beispielsweise wird es im Interesse der meisten handelnden Personen sein, über eine Teilzeitlösung für 1-2 Tage pro Woche im Arbeitsleben zu bleiben. Mit nur einem Arbeitstag pro Woche bleibt das Wissen des betreffenden Beschäftigten aktuell. Weil ein Tag 20% der Arbeitszeit ausmacht, wären also während eines Jahres nur noch 80% auszugleichen. Weil im einen Jahr voll gearbeitet wird, bedeutet dies bei der Betrachtung eines Zwei-Jahres-Zeitraums nur noch eine „Fehlzeit“ von 40%. Der Arbeitnehmer könnte folglich durch seinen „Eigenbeitrag“ die Pflegelücke schließen helfen.

Weitere rund 10%  Kompensation ergeben sich aus der steuerlichen Progression, so dass am Ende  nur noch etwa 30% ausfallen würden.

Selbst dieser Ausfallbetrag ließe sich noch senken, wenn das Thema der Familienpflegezeit zum Gegenstand von Tarifverhandlungen zwischen den Tarifparteien würde. Denn der Nutzen für Arbeitnehmer und damit das Motiv für einen gewerkschaftlichen Einsatz liegt auf der Hand. Doch auch die Arbeitgeber profitieren:  Die positive Mitarbeiterbindung für teilnehmende Betriebe wirkt sich auf die Arbeitgeberattraktivität von Branchen und Unternehmen auswirken, sofern diese unterstützenden Teillösungen zustimmen.

Aus einem solchen Modell hätte die Pflegeversicherung einen enormen Vorteil. Würde sich der Gesetzgeber dazu entschließen, aus Mitteln der Pflegeversicherung weitere 10% der Arbeitskosten aus der Zeit der Pflegefreistellung zuzuschießen, wäre dies ein Gewinn für alle: Die Pflegeversicherung könnte sich vorzeitige, teure Pflegefälle teilweise ersparen. Das Jahr „Familienpflegezeit“ dürfte für die betroffenen Familien überwiegend ausreichen, um eine sinnvolle und dauerhafte Lösung zu finden und praktisch zu organisieren. Und für die betroffenen Familienmitglieder (denn es gibt neben pflegenden Frauen natürlich auch pflegende Männer) ist die Sicherheit des Arbeitsplatzes bei einer überschaubaren und vorübergehenden Einbuße des Gehalts kalkulierbar und vorteilhaft.

Zusammenfassend stellen sich die Lösungsbausteine in der Gesamtrechnung wie folgt dar:

  • Theoretische Absenkung bei einem Jahr Freistellung für die „Familienpflegezeit“ über einen Zwei-Jahres-Zeitraum: 50%.
  • Kompensationsbeitrag der Pflegeversicherung: +10%
  • Entlastung durch die steuerliche Progression: +10%
  • Eigenbeitrag des Arbeitnehmers bei Teilzeit „1 Tag pro Woche“ (wo dies möglich ist): +20%
  • Möglicher Beitrag aus Tarifverhandlungen durch abeitgeberfinanzierte Kompensation: +10%

Nimmt man nur zwei dieser Bausteine in Anspruch, nämlich den Effekt der steuerlichen Progression und den vom Gesetzgeber hoffentlich gewünschten Beitrag der Pflegeversicherung, dann bliebe dem Arbeitgeber zumindest 70% seines Nettoeinkommens. Gelingt es, im Einvernehmen mit dem Arbeitgeber einen Tag pro Woche in Teilzeit zu arbeiten und kommt ein auszuhandelnder, von der Politik aber nicht vorzuschreibender Arbeitgeberbeitrag aus Tarifverhandlungen in Höhe von rund 10% dazu, dann entsteht über zwei Jahre hinweg gar kein Rückgang des Nettoeinkommens! Realistischerweise ist allerdings anzumerken, dass nicht überall Teilzeitlösungen in Frage kommen, so dass der typische Fall bei rund 70-80% des vorherigen Nettoeinkommens liegen dürfte!

Bewerten wir diese innovative Lösung monetär, dann liegt eine Hochrechnung nahe, die von einem durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommen von 2000 bis 3000 Euro monatlich ausgeht. Pro Jahr sind dies 24.000 – 36.000 Euro, in zwei Jahren folglich 48.000 – 72.000 Euro. Je „ein Baustein“ der Familienpflegezeit in Höhe von 10% der Einkommenskompensation hätte also einen monetären Wert von 4.800 – 7.200 Euro. Nimmt man hier einen Mittelwert, kommen wir auf 6000 Euro.

Nun müssten wir noch in Erfahrung bringen, wie viele Menschen von der Lösung Gebrauch machen würden. In Deutschland gibt es derzeit rund 2,4 Millionen Menschen mit Pflegebedürftigkeit, davon etwa ein Drittel in stationären Pflegeheimen. Das bedeutet, dass 1.6 Millionen Menschen durch pflegende Familienangehörige und/oder ambulante Pflegedienste betreut werden. Setzen wir diese Zahl von 1,6 Millionen Pflegebedürftigen ins Verhältnis zu den rund 40 Millionen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen in Deutschland, dann ergäbe sich ein Verhältnis von 1:25, d.h. auf 25 Arbeitnehmer entfiele eine pflegebedürftige Person, die nicht im stationären Pflegeheim lebt.

Bei den Pflegefällen gibt es selbstverständlich Menschen, die alleine leben. Außerdem sind nicht alle Erwachsenen in Familien, die häusliche Pflege leisten, erwerbstätig. Dass der Verzicht auf die Erwerbstätigkeit zumeist Familienfrauen trifft, ist hier eine zusätzliche gesellschaftliche Herausforderung, für die die Pflegeteilzeit auf mittlere Sicht einen Lösungsbeitrag liefert!

Nehmen wir aufgrund dieser Hintergründe an, dass etwa 100.000 bis 200.000 Menschen pro Jahr von der Familienpflegezeit Gebrauch machen, dann würde dies für den von der Pflegeversicherung aufzubringenden 10%-Baustein pro Person die oben geschätzten 6000 Euro kosten. Insgesamt ergäben sich Kosten in Höhe von 600 Millionen bis 1.2 Mrd. Euro.

Verglichen mit den Kosten anderer sozialpolitischer Maßnahmen sind diese Beiträge eher bescheiden, vermutlich aber hoch wirkungsvoll!

Für den Staat ist eine solche Lösung also nicht zwangsläufig teuer. Denn neben dem schwer zu messenden Beitrag zur sozialen „Kohäsion“, zum Zusammenhalt der Generationen und zum sozialen Frieden kommt allenfalls der Steuerausfall aus der Steuerprogression in Betracht, weil ja das Bruttoeinkommen der Betroffenen für die Zeit von beispielsweise zwei Jahren zurückgeht.

Da viele Betroffene heute ihren Arbeitsplatz aufgeben und im Blick auf den Fachkräftemangel wichtige Ressourcen nicht mehr erwerbsproduktiv zur Verfügung stellen können, „gewinnen“ Staat und Gesellschaft andererseits den Erhalt der Arbeitskraft jener Personen, die sich nun mit einem geringen Ausmaß emotionaler und finanzieller Überlastung der Pflege ihrer älteren Angehörigen widmen können! Dies zeigt aber auch, dass sinnvolle soziale Innovation zu kreativen und menschenwürdigen Lösungen im sozialen Zusammenleben beitragen kann!

Alle Rechte vorbehalten.
Abdruck oder vergleichbare Verwendung von Arbeiten des Instituts für Sozialstrategie ist auch in Auszügen nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung gestattet.
Publikationen des IfS unterliegen einem Begutachtungsverfahren durch Fachkolleginnen und -kollegen und durch die Institutsleitung. Sie geben ausschließlich die persönliche Auffassung der Autorinnen und Autoren wieder.

Posted by Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel

Leave a reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert