Niki Popper: “Ich simuliere nur”


März 2023

Niki Popper: “Ich simuliere nur”

Von mathematischen Modellen, virtuellen Muttermalen und dem Versuch, die Welt zu verstehen

Jeder hat es in der Schule gelernt: Modelle bilden einen Ausschnitt der Welt, einen bestimmten Sachverhalt, eine Situation oder handelnde Personen nach. Die Welt wird ein bisschen nachgebaut! Diese Idee ist nicht neu. Abstrakte Modelle existieren seit der Antike. Für die breite Masse der Bevölkerung blieben bislang Prinzipien der Modellierung und deren theoretische Grundlagen weitestgehend im Dunkeln. Die Tatsache änderte sich mit der Corona-Pandemie entscheidend. Plötzlich traten Expert*innen aus dem Dunkel der wissenschaftlichen Institute und Klinken in das Licht der Öffentlichkeit. Manche von ihnen avancierten innerhalb kürzester Zeit zu Stars. Monatelang nahmen die medialen Diskussionen und Informationen über den weiteren Verlauf der Pandemie einen breiten Raum ein.

Neben den Virolog*innen ist während der Pandemie eine weitere Zunft in das Rampenlicht der Öffentlichkeit getreten. Die Rede ist von Modellierer*innen. Es handelt sich um jene Fachexpert*innen, die auf Basis von mathematischen Modellen Vorhersagen über den Fortgang der Pandemie machten. In diesem Feld hat Niki Popper die österreichische Regierung beraten und sich einen Namen gemacht. Sein vorliegendes Buch mit dem launigen Titel: „Ich modelliere nur!“, (aufgezeichnet von Ursel Nendzig; erschienen bei: Amalthea Signum Verlag, Wien 2022), gibt einen unterhaltsamen Einblick in die Gedankenwelt eines Modellierers. Dabei ist kein trockenes Fachbuch herausgekommen. Die Zielgruppe ist nicht vorrangig die Wissenschafts- und Expertengemeinschaft. Die interessierte Bürgerschaft und besonders heranwachsende Wissenschaftler*innen, sollen angesprochen werden. Erzählt wird sowohl die persönliche als auch ein Teil der akademischen Geschichte des Wissenschaftlers und Unternehmers. Der Blick richtet sich unter anderem auf Weggefährten und Lehrer, die Teil der beruflichen Erfolgsgeschichte waren und sind. So ist ein guter Mix zwischen theoretischen Einlassungen und erzählerischen Passagen, garniert mit pointierter Spitzfindigkeit, entstanden. Neben einer gewissen sprachlichen Lockerheit ist ebenso Tiefgang vorhanden. Fachfragen, Anwendungsfälle, Perspektiven über die Covid-Pandemie hinaus, werden betrachtet und deren Wirksamkeit diskutiert. Die Mission von Nikki Popper ist es, Mittel und Wege zu finden, um mit Hilfe von Modellen die Welt besser zu verstehen und schließlich den Gang der Dinge zu beeinflussen. Das Buch weckt Interesse. Der leichte Sprachduktus ermöglicht eine unterhaltsame Einführung in die Welt von mathematischen Modellen, zur Ergründung von Phänomenen, Krisen und Katastrophen. Es geht schlicht um die Vorhersage der Zukunft.

Es entsteht das Bild eines Menschen, der für sich einen spannenden Weg gefunden hat, kindliches Tüfteln mit dem Nadelöhr einer akademischen Karriere zu verbinden. Aus den Schilderungen spricht Zufriedenheit und Dankbarkeit für soziale, fruchtbare Verbindungen, welche erfolgreiche Forschung, Kreativität und Tatendrang befördern. Basiswissen aus der Fachdisziplin wird verallgemeinert, auf ein verständliches Level gehoben. Anwendungsbeispiele aus speziellen Betrachtungs- oder Forschungsfeldern dienen als praktische und plausible Erklärungen dafür, welcher Nutzen aus der Modellierung gezogen werden kann. Die Mission von Popper (nicht mit dem Philosophen Karl Popper verwandt) ist es, Dinge verständlich zu machen und Entscheidungen auf eine fakten- und datenbasierte Grundlage zu heben. Mit einfachen und verständlichen Prämissen wird deutlich, dass die Qualität eines erfolgreichen Modells im Wesentlichen von diesen zwei Faktoren abhängt: Im Kern gehe es um die zukünftig zur Verfügung stehenden Daten und das erarbeitete Systemwissen.

Jede Initiative, jede Innovation, jedes große Projekt hat einen besonders fruchtbaren Ort, an welchem die notwendigen Rahmenbedingungen passen, ein Zusammenarbeiten besonders gedeihlich ist. Eine Art soziales Projekt ist neben den damit verbundenen Forschungsintentionen, die von Niki Popper mit Partnern gegründete „Drahtwarenhandlung“. Die Intention der Gründer war es, Arbeit, Wissenschaft und Leben miteinander zu  verbinden. Ein Ort, an welchem sich unterschiedlichste Persönlichkeiten mit den sie b sonders bewegenden, für unsere Gesellschaft relevanten Themen beschäftigen. An diesem Ort wird gelebt, gegessen, geforscht und das soziale Beisammensein genossen. Die Schilderungen machen die dort herrschende Atmosphäre greifbar. Das Bild einer Art Kommune von Gleichgesinnten entsteht. Ein Gegenentwurf zum üblichen Wissenschaftsbetrieb mit seinen hierarchischen Strukturen, der nicht unbedingt ein Ort für die Verwirklichung von Lebensträumen ist. In der „Drahtwarenhandlung“ scheinen die Akteure eine gute Balance zwischen Leben und Arbeiten gefunden zu haben. Wissenschaft als Abenteuer wird praktisch gelebt.

Der rote Faden des Buches arbeitet sich an der Frage entlang: Wie gelangen die Modellierer*innen zu einem robusten, belastbaren Modell? Dem Leser wird deutlich, wie schwierig es ist, ein Modell zu entwickeln, welches die geforderten Zwecke erfüllt. Bei aller Komplexität geht es jedoch um grundsätzliche Fragestellungen: Was will man erreichen, beschreiben, erfassen und schließlich beeinflussen? Nichts geht in der Wissenschaft ohne eine adäquate Methode. So werden grundlegende Modellierungsmethoden vorgestellt. Den Leser*innen wird erläutert, dass mit agentenbasierten Modellen (als Vertreter mikroskopischer Modelle) und System Dynamics (als Beispiel für makroskopische Modelle) eine grundsätzliche Unterscheidung von Modellen durch die Wissenschaft vorgenommen wurde. Eine weitere Differenzierung ergibt sich aus der Beantwortung der Frage, ob der Zufall eine Rolle spielt. Ob das Modell also stochastisch oder deterministisch sein soll. In diesem Zusammenhang kritisiert Popper, unser Denken in zu linearen Mustern. So würde die Welt jedoch nicht funktionieren. Er plädiert für die Betrachtung verschiedener Parameter. Ziel solle sein, zu erkennen, wie die einzelnen Parameter (z. B. Zeit, Volumina, Ort, Disposition, äußere Einflüsse etc.) einander bedingen und beeinflussen. Sein Appell: mehr Verständnis dafür, dass Entscheidungen und Aktionen sich nicht einmalig auf einen Mechanismus, eine bestimmte Situation auswirken. Es komme vielmehr darauf an, die Dinge von den Folgen her zu betrachten und in einen umfassenden Wirkungsmechanismus einzuordnen. Welche Mittel und Methoden kann die Forschung der Komplexität und Unübersichtlichkeit entgegensetzen? Eine Methode für die Lösung von vielschichtigen Problemen ist „System Dynamics“. Wesentliche Bestandteile dieser Modelle sind eingebaute Feedbackschleifen (Rückkopplungen). Ziel ist es herauszufinden, wie einzelne Parameter wirken und was beeinflusst wird. Diese Methode der Modellierung, Simulation, Analyse und Gestaltung von dynamischen Sachverhalten in sozioökonomischen Systemen, wurde von Jay W. Forrester am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den 1950iger Jahren entwickelt. Sie diente als ein Instrument bei der Erstellung des Berichts des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums. So pendelt das Buch zwischen einer historischen Einordnung der Disziplin, verbunden mit den entsprechenden Entwicklungsphasen, und der Herstellung von Bezügen zur praktischen Anwendung. Die Leserin*nen werden mit Erläuterungen zu Anwendungsfällen einzelner Modellierungsmethoden tiefer in die Materie eingeführt. Besonderes Interesse wecken die Ausführungen über sogenannte Agenten. Mit deren Hilfe Menschen, Unternehmen, aber auch jedes andere Lebewesen und sehr viele kleine Dinge, sogar Moleküle oder Zellen, dargestellt werden können. Niki Popper realisierte ein Projekt, bei dem Zellen eines Muttermals, Melanocyten, in einem Modell abgebildet wurden. Aufgabenstellung war es, herauszufinden, ob sich bösartige Zellen anders bewegen als gesunde. Die pointierten Beschreibungen der praktischen Anwendungen und des generierten Nutzens für die Gesellschaft sind spannend erzählt. Mit diesen Beispielen wird deutlich, wie Wissenschaft zu guten und richtigen Zwecken eingesetzt werden kann. Diesem Anspruch folgt auch das Verfahren der Adherence zur Überprüfung der Wirksamkeit von Therapien. Mit diesem Verfahren wird bestimmt, ob Therapien von Ärzten*innen und Patentien*nen gemeinsam umgesetzt werden.

Die historische Einordnung der Disziplin und die systematische Differenzierung der Methoden stellen besonders für diejenigen einen besonderen Wert dar, welche im beruflichen Umfeld Anwendungsmöglichkeiten für Modellierungen sehen. Inhaltlich kann das Buch eine gute Argumentationshilfe bieten, um Überzeugungsarbeit zu leisten. Obwohl anspruchsvolle Themen und komplexe Zusammenhänge betrachtet werden, sind die Texte gut lesbar und verständlich. Der Leser wird nicht mit zu viel Theorie überfordert. Zusammenhänge werden pointiert vermittelt. Humor und Ironie beim Blick auf die eigene Zunft fehlen nicht. Zusammenhänge werden anschaulich mit Hilfe von Gleichnissen vermittelt. Distanz wird mit humorvollen Zuspitzungen hergestellt, wie z. B. in folgender Passage:

„… im Grunde lief es so, der Mensch beobachtete die Natur, machte Experimente und versuchte daraus Formeln abzuleiten, um Prozesse darin abzubilden. Die Gelehrten verwendeten also ihren Grips darauf, die Welt in Formeln zu packen, die die Dynamik in sich aufsaugen. Daraus entstand die Schönheit der Mathematik (für manche Menschen, für andere entstand einfach ein unerträgliches Schulfach).“

Was lässt sich an Erfahrungen und Erkenntnissen aus rund drei Jahren Corona Pandemie dem Buch entnehmen. Aus Sicht von Nicki Popper haben sich Modell-Rechnungen zur Beurteilung der Lage, zur Prognoseerstellung und zur Entscheidungsfindung nicht als optional, sondern als existenziell, herausgestellt. Popper betont, dass die „mögliche Evidenz als Ergebnis der Datenanalysen und […] der Modelle benötigt wird, um Entscheidungen treffen zu können“, … […] …, „Modellrechnungen während der Covid-Pandemie hätten deutlich gemacht, wie essenziell ein „vernünftiges Datenmanagement“ sei. Es bleibt also viel zu tun. Die Gefahren und Risiken werden nicht weniger. Wie wir gesehen haben, muss auch das pandemische Geschehen im Kontext der globalen geopolitischen Lagen gesehen werden.

Fazit

Ein interessantes und lesenswertes Buch. Die Zunft der Modelliere*rinnen, das eigene Wahrnehmen als Wissenschaftler*innen, werden ebenso selbstkritisch hinterfragt, wie Anforderung an demokratische Systeme formuliert. So hebt Niki Popper die Notwendigkeit hervor, dass die Entscheidungen und Auswirkungen von Modellrechnungen in der praktischen Umsetzung von demokratisch gewählten Vertretern getroffen werden müssen. Einzelnen Wissenschaftsdisziplinen und demokratische Instanzen müssten das Zusammenspiel verbessern und nicht erst in der Krise aufeinander angewiesen sein.

Kritisch sei angemerkt, dass es einige Wiederholungsschleifen gibt. Kernfragen werden in unterschiedlicher Variation immer wieder erwähnt. Didaktisch sicher richtig, allerdings handelt sich nicht um ein Lehrbuch, sondern in weitestem Sinne um ein Sachbuch. Diese Wiederholungsschleifen schmälern für Leserin*nen den Wissensgewinn. Eine stringente Reflexion und Hinleitung zu den strukturellen und prozessualen Hemmnissen bei der Anwendung von Modellen wäre wünschenswert. So könnte das Zusammenspiel zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft intensiver reflektiert und in eine Perspektive für zukünftige Ereignisse eingeordnet werden. Im Bereich der kritischen Reflexion und aus Sicht eines Ineinandergreifens von Natur- und Gesellschaftswissenschaft bleibt das Buch unscharf.

Mögliche übergreifende Aspekte wären z. B., wie von Popper richtig hervorgehoben, die Problematik der Abgrenzung und Beschränkung einzelner Kompetenzen in den Berufsfeldern. So wird betont, dass Mathematiker*innen zwar über Formalisierungskompetenz verfügten, ihnen es jedoch häufig am Fach- bzw. Implementierungswissen mangele. Informatiker*innen wiederum hätten die Fähigkeit, Modelle zu programmieren. Ihnen fehle es häufig am Fachwissen und Wissen über die Modelle und die relevanten Zusammenhänge. Über derartige Aussagen könnte hinausgedacht werden. Was ist aus seiner Sicht von zukünftiger Relevanz? Wie kann man die Begrenzungen und Abgrenzung der Berufsdisziplinen universell überwinden? Wie muss die Ausbildung, das Handwerkszeug oder das Studium angepasst werden und welche Forschungsfragen sind damit verbunden? Betont wird, dass es zukünftig ohne die Verlinkung von Daten und Modellen nicht gehen werde. Wie diese Anforderung realisiert werden soll, bleibt jedoch offen. Auch die wachsende Bedeutung von Statistik, Visualisierung und Optimierung wird erwähnt, jedoch nicht ausgeführt und verständlich erläutert. Genügend Stoff für ein weiteres Buch!

Positiv hervorzuheben ist die ethische Positionierung von Niki Popper. Er vertritt die Auffassung, dass Modellierungen und die datengetriebene Deutung der Welt keine Allheilmittel seien. Die Allmachbarkeit und Allinterpretierbarkeit von Daten, um die Welt zu entschlüsseln, bezweifelt er. Eine Allmacht auf Grundlage von Daten lehnt er ab. Sein Appell sollte Gehör finden! Die Skizzierung eines Ethos für Modellierer ist zu erkennen. So werden Anforderungen an die nachfolgenden Modellierer*innen- Generationen formuliert. Sie müssten sich für das Fach begeistern können. Ihnen müsse klar sein, dass es sich um Sisyphusarbeit handele. Ohne Begeisterung gehe es nicht. Demut ist ebenso wichtig. Ein grundlegendes Ethos für die Arbeit des Modellierers gehöre unabdingbar zum Beruf. Popper kritisiert den Irrglauben, dass die Welt deterministisch sei, man sie nur betrachten, abbilden und daraus Prognosen erstellen könne. Darin sieht er eine Absurdität. Einer unsicheren Zukunft gegenüber seien wir aus seiner Sicht nicht tatenlos ausgeliefert! Modelle könnten im Idealfall nicht nur zeigen, wie die Zukunft aussehen könnte, der wir ausgeliefert sind, sondern sie könnten zeigen, wie das Potenzial aussieht, das in der Gestaltung der Zukunft steckt. Diesen Argumenten und der Haltung kann der Rezensent nur beipflichten. So wie das Brecht-Wort fordert „Ändere die Welt; sie braucht es“.


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