Binnenkolonialismus: Was Grönland und die elektronische Patientenakte miteinander zu tun haben?

Dr. med. Stefan Streit

[ENG] The colonial powers defended their property rights with laws made specifically for this purpose and often also with state and armed force, while human rights in the colonies were trampled underfoot. Lawyers, scientists and doctors regularly played a very inglorious role in colonial history. And now we come to Denmark and Greenland. Very few people think of Denmark when they think of colonialism. Yet Denmark’s colonialism is a logical intermediate stage between the spice colonialism of Europeans in Southeast Asia and the future data colonialism in the Western world. We will return to the latter at the end of the text. Let’s start with the Danish

[DE] Die Kolonialmacht verteidigen ihre Eigentumsrechte mit eigens dafür gemachten Gesetzen und gerne auch mit Staats- und Waffengewalt, während die Menschenrechte in den Kolonien mit Füssen getreten wurden. Juristen, Wissenschaftler und Ärzte spielten in der Kolonialgeschichte regelmäßig eine sehr unrühmliche Rolle. Und nun kommen wir zu Dänemark und Grönland. Bei Kolonialismus denken die wenigsten an Dänemark. Dabei ist der Kolonialismus Dänemarks ein logische Zwischenstufe vom Gewürz-Kolonialismus der Europäer in Südostasien und dem zukünftigen Datenkolonialismus in der westlichen Welt. Zu letzterem kommen wir am Ende des Textes noch einmal zurück. Beginnen wir mit dem dänischen Übergangskolonialismus.

Ein Stillschwiegen, also fehlender Widerspruch, legitimiert die Forderung nach einer Erhöhung der Kontoführungsgebühren von Banken nicht. (1) So sieht es der Bundesgerichtshof in seinem Urteil von 2021. Für eine Erhöhung der Kontoführungsgebühren muss eine ausdrückliche Zustimmung her. Sie erinnern sich noch an die viele Post, die sie in den letzten Jahren von Ihren Banken in dieser Sache bekommen haben, oder? Dabei geht es hier um eher geringe Beträge. Im Urteil des Bundesgerichtshofs in dieser Sache lag der Streitwert bei 192 Euro! (2)

Dagegen reicht für die Krankheitsdaten der gesetzlich-krankenversicherten Patienten ein Stillschweigen, damit die gesamte Krankengeschichte der Datenökonomie zur Verfügung gestellt wird. Und dass, obwohl Anonymisierung in Anbetracht der Künstlichen Intelligenz (KI), die mit diesen Daten trainiert werden soll, nur als fiktiver Schutz, ohne überprüfbare Wirksamkeit, gelten kann. Und obwohl die elektronische Patientenakte (ePA) im Dezember 2024 gleich auf vielfache Weise gehackt wurde. (2a) Das alles das kümmert niemanden. Hauptsache die Wirtschaft läuft.

Interessant ist, dass für die banale Erhöhung von Kontoführungsgebühren höchstgerichtlich eine ausdrückliche Zustimmung erforderlich ist, während für die Quasiveröffentlichung der eigenen Krankengeschichte in der ePA ein Stillschwiegen ausreichen soll, nur weil es dazu ein Gesetz gibt.

Man muss sich fragen, wie es zu so unterschiedlichen juristischen Beurteilungen kommen kann? Ein relevanter Grund für extreme juristische Inkongruenzen dieser Art war in der jüngeren Vergangenheit stets der Kolonialismus.

Das wiederkehrende Muster: Die Kolonialmacht verteidigen ihre Eigentumsrechte mit eigens dafür gemachten Gesetzen und gerne auch mit Staats- und Waffengewalt, während die Menschenrechte in den Kolonien mit Füssen getreten wurden. Juristen, Wissenschaftler und Ärzte spielten in der Kolonialgeschichte regelmäßig eine sehr unrühmliche Rolle. Und nun kommen wir zu Dänemark und Grönland. Bei Kolonialismus denken die wenigsten an Dänemark. Dabei ist der Kolonialismus Dänemarks ein logische Zwischenstufe vom Gewürz-Kolonialismus der Europäer in Südostasien und dem zukünftigen Datenkolonialismus in der westlichen Welt. Zu letzterem kommen wir am Ende des Textes noch einmal zurück. Beginnen wir mit dem dänischen Übergangskolonialismus.

Grönland wurde 1953 in Dänemark eingegliedert, die Grönländer wurden damit zu Dänen. (3) Mit folgendem Narrativ setzte die dänische Regierung ihre Kolonialisierung Grönlands fort: Da es immer wieder zu unerwünschten Schwangerschaften, bei minderjährigen Mädchen auf Grönland, durch Geschlechtsverkehr mit vorübergehend eingereisten Dänen kam, legte die Dänische Regierung ein Programm zur Geburtenkontrolle auf. Zwischen 1966 und 1970, implantierten dänische Ärzte bei mindestens 4500 Mädchen ab dem Alter von 12 Jahren eine Spirale ohne eine Rücksprache mit deren Eltern. (4)

Diese Praxis verfolgte die dänische Regierung bis 1975, wobei nach 1970 keine systematischen Aufzeichnungen dazu existieren. (4) 1969 fragten die Ärzte, die die Spiralen legten, den in Grönland verantwortlichen Chefarzt, „ob es denn überhaupt legal sein sei, junge Mädchen unter 18 Jahren ohne Zustimmung der Eltern über Empfängnisverhütung zu beraten.“ (4)

Dieser stieß darauf hin sofort ein Gesetzgebungsverfahren an, damit die bisherige Praxis unverändert weitergeführt werden konnten. Das dänische Parlament änderte das Gesetz so, dass 15 jährige Mädchen in Grönland von Ärzten ohne Wissen und Zustimmung der Eltern zur Empfängnisverhütung beraten werden durften. (4) Ob das Einbringen der Spirale bei diesen jungen Frauen legitim war? Das war kein Thema! Es ging nur um die Rechtmäßigkeit der Beratung! Wie diese Beratung dann wohl ausgesehen hat? Ob man darüber aufgeklärte, dass man eine Spirale einsetzen würde, die auf Grund der Größe nur für Frauen nach einer Geburt geeignet waren? Und dass das Einsetzen der Spirale schmerzhaft sei? Und dass zukünftig jede Regelblutung sehr schmerzhaft sein könnte? Und dass sie wahrscheinlich kein Kinder bekommen würden, weil diese, viel zu große Spirale, Verletzungen verursachen würde?

Wenn man den Betroffenen glaubt, handelte es sich um einen staatlich angeordneten instrumentellen Übergriff auf die jungen Grönlanderinnen dieser Zeit. Eine Betroffene schildert, „sie habe sich nur nicht zur Wehr gesetzt, „weil wir so erzogen wurden, dass wir zu gehorchen haben. Wir waren Kinder. Die Dänen hatten uneingeschränkt das Sagen. Und ein dänischer Arzt war so was wie der liebe Gott.““ (4) In der wissenschaftlichen Begleitung dieses Programms ist vom freiwilligem Einsetzen der Spirale die Rede. Die Wissenschaftler haben nichts gesagt!

Bleibt die Frage, warum wollten die Dänen, dass es nicht zum Bevölkerungswachstum in Grönland kommt? Hier mein Tip: Die 34.000 Grönländer von 1961 konnten ökonomisch nicht autonom sein, die 35.000 von 1965 auch nicht, aber bei einem ungebremsten Bevölkerungswachstum, wären irgendwann aber die Zahl von 300.000 oder 400.000 Grönländern erreicht worden. Das wäre die gleiche Einwohnerzahl, wie die von Island gewesen und die Isländer kommen gut allein klar. Und das hätte dann für Dänemark bedeutet: „Ade ihr schönen Bodenschätze.“ Dann doch lieber ein Spiralen…

Seinerzeit fanden die Dänen diese Maßnahmen vollkommen in Ordnung. „1970 brüstete sich der damalige Grönlandminister Arnold Normann mit der außerordentlich erfolgreichen Kampagne im Folketing, dem dänischen Parlament: Man habe es geschafft die Geburtenrate in Grönland seit Mitte der Sechzigerjahre zu halbieren, und dazu habe „vor allem die Verwendung der Spirale beitragen.“ (4)

Es kolonisierten die Festlanddänen die grönländischen Dänen, also die Bewohner des eigenen Landes nach dem Ende der Kolonialzeit. Die Industrienationen in Nordamerika und Europa setzen diese Strategie offensichtlich konsequent fort: Kolonialisierung der eigenen Bevölkerung! Diesmal nicht mit der Spirale, sondern durch das Digitale.

Die Legitimation der Datenökonomie im europäischen Gesundheitsdatenraum ruht allein auf der Illusion, die Menschen hätten ja „Nein“ zur elektronischen Patientenakte (ePA) sagen können. Allerdings ist die Aufklärungskampagne zur elektronischen Patientenakte genauso erbärmlich, wie die seinerzeit bei den Grönländerinnen, bevor ihnen ohne Auftrag die Spirale in die Gebärmutter gestoßen wurde. Und im Bild zu bleiben, ist auch die ePA für die meisten Deutschen einige Nummern zu groß und wird später zur Bauchschmerzen und veränderten Lebensläufen führen. Auch bei der deutschen ePA wird die Geschichte von der Freiwilligkeit erzählt. Man könne doch „nein“ sagen. Wie die jungen, grönländischen Mädchen, wissen die meisten Deutschen gar nicht, dass und wozu sie hätten nein sagen können. Auch hier wird man später behaupten, sie hätten durch Nichtstun zugestimmt. Wie seinerzeit in Grönland, macht das deutsche Gesundheitsministerium ein Gesetz, dass unterstellt 15-jährige Jugendliche seien eigenverantwortlich in der Lage, die Tragweite ihrer Entscheidung abzuschätzen. (5)

Das ist eine Farce. Die Sachverhalte um die elektronische Patientenakte (ePA) ist so komplex, dass selbst die meisten Erwachsene, die sonst fest mit beiden Beinen auf dem Boden stehen, vollkommen ratlos werden, wenn sie damit konfrontiert sind. Wenn Sie andere Meinung sind schauen sie sich die Quelle Nummer 7 und 8 an, dann wissen Sie was ich meine. Die meisten Deutschen werden bis 15.1.2025 nicht „nein“ sagen, genauso wie seinerzeit die jungen Grönländerinnen nicht „nein“ gesagt haben. Sowenig wie die Grönländerinnen wussten, was es heißt eine Spiral eingesetzt zu bekommen, sowenig ahnen die Deutschen was es bedeutet, wenn ab 15.1.2025 permanent ihre Krankheitsdaten in die elektronischen Patientenakte (ePA) fließen. Später, wenn ihnen die eigenen Krankheitsdaten zum Schaden gereichen und sie selbst, und vielleicht auch ihre Kinder, Lebensträume nicht verwirklichen können, dann wird es ihnen genauso ergehen wie den Grönländerinnen. Scham- und Schuldgefühle werden sie, leise und unsichtbar werden lassen.

Das persönliche Schicksal, der Benachteiligung Einzelner, auf Basis eigener Krankheitsdaten, ist als Narrativ an die Stelle der kolonialen Ausgrenzung über sichtbare Körpermerkmale getreten. Legitimiert wird all das mit dem Mythos der Eigenverantwortung. Es ist heute nicht mehr die Hautfarbe, die Herkunft oder die Religion, mit der diese neue Kolonialisierung gerechtfertigt wird. Der zukünftige, digitale Binnenkolonialismus der europäischen Bevölkerung wurzelt in der dokumentierten Abweichung von der Norm.

Bei der geplanten Datenökonomie im Gesundheitsdatenraum droht dieser Datenkolonialismus für die Teile der Bevölkerung die gesetzlich versichert, arglos, bildungsfern und/oder vielleicht nur etwas glücklos sind. Ist der eigene Krankheitsdatensatz erst einmal kompromittiert und von den künstlichen Intelligenzen aufgesogen, wird er zum unveränderlichem Persönlichkeitsmerkmal. Neben der Zuweisung zur sozialen Unterschicht durch das Merkmal „arm“, kommt es zukünftig zur Zuweisung in die neue Kaste der „informationell Exkludierten“ wegen der eigenen Krankengeschichte. Man muss kein Hellseher sein, um zu erahnen, dass die Merkmale „arm“ und „informationell exkludiert“ gehäuft die selben Personen betreffen werden. Die Spaltung der Gesellschaft wird durch die sich gegenseitig potenzierende Wirkung von „arm“ und „informationell exkludiert“ eine ganz neue Dimension erreichen. Armut gibt es, weil die Armen auf Gewalt verzichten, um das zu ändern. Das deshalb, weil sie noch etwas zu verlieren haben. Menschen die „arm“ und „informationell exkludiert“ sind, haben möglicherweise nichts mehr zu verlieren. Wer eine Ahnung von der sozialen Wucht dieses Problems bekommen möchte, erinnere sich bitte an die Berichterstattung über den Mord am Krankenversicherungs-Chef Brian Thompsen. Vornehm formuliert liest sich das so: „Die Reaktionen in der Bevölkerung hat nach Ansicht der New York Times „die tiefsitzende Wut der Amerikaner auf die US-Krankenversicherungsbranche“ gezeigt.“ (8a)

Klar es geht um sehr viel Geld: Der Krankheitsdatenwert, also das zu verteilende Vermögen, beträgt allein für Deutschland, zwischen einer halben Billion und vier Billionen Euro, auf eine Basis von 400 bis 2.000 Euro pro Krankheitsdatensatz. Dazu kommt die Wertschöpfung, also das Einkommen aus der Datenökonomie. Schon für 2022 rechnete man mit 42 Milliarden Euro (9), die bei erwarteten Wachstumsraten vom bis zu 10 Prozent pro Jahr, bis 2032 auf gut 100 Milliarden Euro anwachsen dürften. (10) Das war vor Chat GPT und berücksichtigt nicht Wachstumssteigerungen, die auf heute nicht bekannte Innovationen zurückgehen und noch hinzukämen!

Noch mal im Klartext. Es wird Menschen geben, die wegen ihrer Krankheitsdaten benachteiligt werden und gleichzeitig zusehen müssen, wie IT-Firmen genau diese Krankheitsdaten als ihr Eigentum beanspruchen, um dann Lizenzgebühren für die Nutzung von künstlicher Intelligenz in der Krankenbehandlung von den vorher Benachteiligten zu verlangen.

Es ist erkennbar, das aktuelle Konzept des digitalen Binnenkolonialismus stellt unsere Gesellschaft vor ganz neue enorme Herausforderungen, die wir mit einem einfachen weiter so wie bisher nicht bewältigen werden können. Die in der Vergangenheit von der EU-Kommission geplante Datenökonomie, wird die von Erdöl und Stahl getriebene Ökonomie nicht umstandslos ersetzen. Ohne eine Anpassung sozialer Übereinkünfte ist zu befürchten, dass die Transformation in die digitalisierte Gesellschaft durch ganz archaische Gewalt zum Stillstand kommt. Wenn man das verhindern möchte, dann muß der Binnenkolonialismus aufgegeben werden! Denn natürlich ist Wertschöpfung in einer Datenökonomie möglich, allerdings nur wenn Partizipation und Inklusion sichergestellt sind. Verzichtet man darauf Digitalisierung als Kolonialisierungsinstrument zu verwenden, dann kann die digitale Transformation ganz von selbst in Partizipation und Inklusion münden. (Details dazu siehe Quelle 11)

Dr. med. Stefan Streit

Quellen:

(1) BGH (Az.XI ZR 26/20) von 2021 https://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&nr=118834&pos=0&anz=1 zuletzt

(2) Bundesgerichtshof stärkt Rechte von Bankkunden von Oliver Klasen in Süddeutsche Zeitung vom 20.11.2024 auf Seite 14

(2a) https://media.ccc.de/v/38c3-konnte-bisher-noch-nie-gehackt-werden-die-elektronische-patientenakte-kommt-jetzt-fr-alle

(3) https://de.wikipedia.org/wiki/Gr%C3%B6nland

(4) Wir waren noch Kinder vom Alex Rühle in Süddeutsche Zeitung vom 29.10.2024 auf Seite 3

(4a) https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/faqs-zur-epa-fuer-alle-2315618

(5) https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/gesetze-und-verordnungen/guv-20-lp/gesundheitsdatennutzungsgesetz.html

(6) https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/fdp-organspende-herztod-100.html

weitergehende Informationen zur Komplexität der elektronischen Patientenakte:

(7) https://media.ccc.de/v/gpn22-389-elektronische-patientenakte-epa-made-in-germany-digitalisierung-in-der-medizin-HYPERLINK „https://media.ccc.de/v/gpn22-389-elektronische-patientenakte-epa-made-in-germany-digitalisierung-in-der-medizin-2024“ 2024

(8) https://media.ccc.de/v/gpn21-167-digitalisierung-in-der-medizin-elektronische-patientenakte-epa-quo-vadis-

(8a)https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/156306/Mord-an-UnitedHealthcare-Chef-befeuert-Debatte-ueber-US-Krankenversicherungen

 9) https://www.mckinsey.de/news/presse/2022-05-24-42-mrd-euro-chance

(10) https://digital-strategy.ec.europa.eu/en/library/european-data-market-study-update THE EUROPEAN DATA MARKET MONITORING TOOL KEY FACTS & FIGURES, FIRST POLICY CONCLUSIONS, DATA LANDSCAPE AND QUANTIFIED STORIES D2.9 Final Study Report- Executive summary SEITE 6

(11) https://tube.tchncs.de/w/wFK6mgmTxDUiAkoT5B69xm

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