Ein Zwischenruf zu staatlichen Schuldenbremsen
Adolf Wagner on December 11, 2023
- „Grundeinstellungen“: Für ein ideales Funktionieren einer „Marktwirtschaft“ setzt die amerikanische Wirtschaftstheorie primär auf die denkbare „Plänekompatibilität“ der Marktmechanismen (mit bestimmten Erwartungen der Beteiligten). Die kontinentaleuropäische Wirtschaftstheorie dagegen erkannte frühzeitig die Bedeutung einer tatsächlichen „Strömesynchronität“ (mit wertstabilen Beständen), was die Einstellung zu Schulden sowie zu ihrer Begrenzung und Regulierung beeinflusst. Damit verbunden sind im kollektiven Gedächtnis hierzulande Hyperinflationen, die der Staat verursacht hat. Transaktionen, Kreisläufe, Stock Flow und Circular Flow sind die relevanten Stichworte zur Strömesynchronität. Vermischungen beider Grundeinstellungen zum System kommen selten vor, wie z. B diese: „Any IS/LM equilibrium is a momentary equilibrium that is liable to be disrupted both (a) for reasons relating to the disappointment of expectations and (b) for reasons stemming from stock flow inconsistencies” (J.Metcalfe/I.Steedman 1991).
- “Die Wiederentdeckung des Wirtschaftskreislaufs” findet man als ein umfangreiches Ergebnis der deutschen Nationalökonomik zwischen den beiden Weltkriegen in lehrgeschichtlichen Abhandlungen aufgezeichnet (so Karl Brandt, 1923-2010). Ehedem namhafte Nationalökonomen waren an der Kreislaufforschung beteiligt und auf Tübingen zentriert (so vor allem Hans Peter, 1898-1959, Erich Preiser, 1900-1967, Carl Föhl, 1901-1973, Wolfgang Stützel, 1925-1987, und Helmut Reichardt, 1922-2009). Durch den italienischen Fachkollegen Giorgio Gilibert nur gelangte Wesentliches der Tübinger Kreislaufforschung unter „Circular Flow“ in das Fachlexikon „The New Palgrave“. Gleichwohl wurde es in der US-Literatur nie befriedigend zitiert oder gar verständig aufgenommen (so Knut Borchardt, 1929-2023), was bis heute defizitär wirkt.
- Transaktionen und Kreisläufe: Abermillionen tagtäglicher Transaktionen des Mikrobereichs werden konzeptionell zu Makro-Transaktionen aggregiert, so dass eine Komplexitätsreduktion die ungefähre Übersicht ermöglicht. Von den vier dabei gängigen Darstellungsformen für Kreisläufe der Makro-Transaktionen bevorzuge ich die tabellarische Matrixdarstellung mit denkbaren Bestandsänderungen:
Von/an | T. 1 | T. 2 | T. 3 | T. 4 | Abgänge | Bestände |
T. 1 | X11 | X12 | X13 | X14 | X1. | DB1 |
T. 2 | X21 | X22 | X23 | X24 | X2. | DB2 |
T. 3 | X31 | X32 | X33 | X34 | X3. | DB3 |
T. 4 | X41 | X42 | X43 | X44 | X4. | DB4 |
Zugänge | X.1 | X.2 | X.3 | X.4 | X.. | DB. |
Anmerkungen: T.1 Haushalte, T.2 Unternehmungen, T.3 Staat, T.4 Ausland; Xij sind Stromgrößen je Periode, die den Transaktionen zwischen den Sektoren (T1, T2, T3 und T4) entsprechen sowie Eigenverwendungen darstellen (Elemente auf der Hauptdiagonale); DB sind Bestandsänderungen, feststellbar am Periodenende. Die Bestandsänderungen ergeben sich aus Zugängen minus Abgängen, z. B.: X.2 ‒ X2. = DB2.
Damit kann man „Kreislaufgleichgewicht“ verdeutlichen (sämtliche Bestandsänderungen der letzten Spalte sind Null, allen Transaktoren kann mit Einnahmen-Ausgaben-Gleichheit tatsächliche Budget-Disziplin bescheinigt werden). Doch auch einen praxisnahen „Gepufferten Kreislauf“ (mit irgendwelchen Bestandsänderungen durch Einnahmen-Ausgaben-Salden und Kreditbeziehungen) vermag man damit zu erläutern.
- Budget-Disziplin: Die Elemente der Summenzeile kann man als die Budgets der beispielhaften vier
X.1 | X.2 | X.3 | X.4 |
(Makro-) Sektoren betrachten, die Teilen des Volkseinkommens und damit der materiellen Freiheit der Gruppen hinter den Aggregaten entsprechen. In einer Volkswirtschaft, die als eine solide Geldwirtschaft funktionieren und sich wiederholend erneuern soll, müssten im Idealfall alle beteiligten Wirtschaftseinheiten (Unternehmen, Konsumenten und staatliche Stellen) Budget-Disziplin praktizieren, d. h. ihre Ausgaben durch Einnahmen oder vorhandene Geldbestände decken. Kredite (als negative Bestandsänderungen) werfen die Frage nach einer alsbaldigen Tilgung auf; Ersparnisse (als positive Bestandsänderungen und Geldvermögenszunahmen bringen ein Anlageproblem mit sich). Beide zusammen können im Extremfall (ein Transaktor verfügt über sämtliche Bestände, ein anderer ist der große Schuldner) das Transaktionsgeschehen des Kreislaufs zum Erliegen bringen. Deshalb sind beliebig große Bestandsänderungen ernstlich zu hinterfragen.
- „Geschichtliches“ (I): In der Zeit um 1750 herum, als die französische Oberschicht angeblich der Opern, Komödien und Romane überdrüssig wurde und sich für ihr Getreide interessierte, beschäftigte sich auch der Leibarzt der Madame Pompadour Francois Quesnay (1694-1774) mit der Angelegenheit. Mit seinem „tableau économique“, für dessen grafische Darstellung er das Interesse des Königs Ludwig XV. fand, gelang ihm die erste Erklärung des damaligen volkswirtschaftlichen Systemzusammenhangs. Darin sieht man heutzutage den Anfang der wissenschaftlichen Nationalökonomik. Das Quesnay-Ergebnis in Worten: Die jährlichen Kapitalvorschüsse der französischen Grundeigentümer an ihre landwirtschaftlichen Pächter lassen sich über das Jahr hin mit den Ernten (und bei Berücksichtigung des Gewerbes) wiedergewinnen, so dass sie für das Folgejahr erneut verfügbar sind. Erkannt war damit die „Kreislaufmotorik“: Einnahmen werden durch Ausgaben erzielt! Oder: Ausgaben – vorweg – bewirken Einkommen und Beschäftigung!
- Antizyklische Finanzpolitik: Die Erkenntnis, mit kurzfristigen (!) Defiziten die Wirtschaft in Schwung zu bringen, war viel später wesentlich für John M. Keynes (1883-1946) wie auch für Carl Föhl (1901-1973), den Unternehmer, Tübinger IAW-Direktor und „deutschen Keynes“, sowie für andere, wenig bekannte kontinentaleuropäische Kreislauftheoretiker zentral. Es war die Zeit, in der man durch Kreislauf-Ungleichgewichte Aufschwung- und Wachstumsimpulse zu setzen suchte. Antizyklische Fiskalpolitik mit kreditfinanzierten staatlichen Impulsen im Abschwung und Steuerlasten zwecks Kredittilgung im Aufschwung schwebte Fachleuten vor, solange Aufschwünge und Abschwünge nach Zeit und Ausmaß als symmetrisch ansehen konnte.
- „Geschichtliches“ (II): Als der berühmte Keynes im Jahre 1936 sein Buch „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ verfasste, arbeitete er nach den Worten seiner bekannten Schülerin Joan Robinson (1903-1983) „an der theoretischen Grundlegung der Idee, die dem gesunden Menschenverstand schon immer einsichtig gewesen war: dass in einer Marktwirtschaft, wenn Arbeitskräfte und Produktionskapazität nicht ausgelastet sind, eine Erhöhung der Ausgaben in Form von Geld auch den Ausstoß in Form von Gütern erhöht.“ Ausgaben sichern und steigern die Beschäftigung – „ganz gleich, ob sie von der Regierung, von Privatunternehmen oder vom Publikum stammen; ganz gleich auch ob sie klug oder unklug gewählt sind“ (so Joan Robinson).
- „Evolutorische Ökonomik“: Im Rückblick auf die vergessenen kontinentaleuropäischen Kreislauftheoretiker – insbesondere Erich Preiser (1900-1967) – knüpfte Hans Christoph Binswanger (1929-2018) im Jahre 2013 mit seiner ungleichgewichtigen Wachstumstheorie am kreislauftheoretischen Kern an: Banktechnisch durch aktive Buchgeldschöpfung (verbunden mit „Phantasie und Energie“) vorfinanzierte unternehmerische Investitionen bewirken (nach den vielerlei Konzeptionen der Modellierung, verzeichnet bei Helmut Reichardt, 1922-2009), eine „Binswanger-Spirale“ des Wirtschaftswachstums.
- Schuldenbremse: Für die öffentliche Hand ist in Deutschland eine bestehende „gesetzliche Schuldenbremse“ zu beachten (mit Verfassungsrang). Sie soll allzu ausgabenfreudige Parlamentarier im Bundestag und in den Landesparlamenten bei Kreditfinanzierungen zur Mäßigung bringen. Erreicht werden soll damit so etwas Ähnliches wie eine „Budget-Disziplin, begrenzt auf die Wirtschaftszeit der Gegenwarts-Generation“, so dass intergenerative Verteilung diskutierbar wird.
- Argumente für die Beibehaltung: Für eine Beibehaltung der gesetzlichen Schuldenbremse für den Staat sehe ich mehrere gute Gründe grundsätzlicher und empirischer Art:
- Im kollektiven Gedächtnis hierzulande stehen vernichtende Hyperinflationen mit übergroßen Staatsschulden in Verbindung. Insofern trägt eine gesetzliche Schuldenbremse in Deutschland zum „Systemvertrauen“ im Sinne von Niklas Luhmann (1927-1998) bei.
- Die Eigenschaften, um gewählt zu werden, entsprechen nicht den wünschenswerten Eigenschaften für ein sachkundiges Wirtschaftshandeln der Gewählten (so Manfred Wulff, 1933-2022). Man kann deshalb nicht erwarten, dass sich die Parlamentarier bei ihrem Bemühen zurückhalten, mit kostspieligen Projekten ihre Wiederwahl zu stützen. Nicht zufällig zitiert man den britischen Premier Winston Churchill (1874-1965) mit dem Seufzer, Parlamentarier zu Einsparungen zu bewegen, sei so aussichtslos, wie wenn man einen Mops dazu bringen wollte, sich einen Wurstvorrat anzulegen.
- In Mehr-Parteien-Koalitionsregierungen gibt es zwar – mengentheoretisch – einen überlappenden Kernbereich gemeinsamer Ziele, aber auch weite Randbereiche von Einzelinteressen sowie nicht zuletzt den Zeitdruck der bemessenen Regierungszeit. Daraus folgt – rein theoretisch – ein weit gefächerter und zeitlich gedrängter Handlungsdruck.
- Theoretisch und tatsächlich durch die tagespolitische Lage kommt in Deutschland derzeit Vieles an Drängendem zusammen: Ausufernde Europa-, Entwicklungshilfe- und Kriegslasten sowie zeitlich gedrängte Klima- und Energiepolitik.
- Maßgebliche Teile der Parlamentarier sind – ungeachtet negativer Befunde der empirischen Wirtschaftsforschung – von Gleichheits- und Angleichungsmöglichkeiten durch Subventionen besessen – so etwa in der deutschen Regionalpolitik Ost/West oder mit Blick auf durchschnittsgerichtete Armutsmaße im Indivualbereich. Dafür wird gelegentlich der Philosoph Benjamin Constant (1767-1830) mit der erstaunlichen Ansicht zitiert, die „Vervollkommnung des Menschengeschlechts“ dränge seit Urzeiten zum Fortschritt mit dem Ziel Gleichheit hin.
- Das Untersuchungsziel „Intergenerative Verteilungs-Gerechtigkeit“ hat wohl auch damit zu tun (so Elisabeth Liefmann-Keil, 1908-1975). Es soll dabei gleichsam eine Generative Budget-Disziplin auf die etwa 25 Jahre umfassende wirtschaftliche Aktivitätszeit (der Gegenwarts-, der Folgegeneration und der weiteren denkbaren Folgegenerationen) gelingen. Derlei „Angleichung“ für Genrationen in völlig unbekannten Lebenswelten zu kalkulieren, halte ich nach nationalökonomischen Befähigungen für völlig ausgeschlossen (nicht nur wegen Kriegen, Konflikten und Naturkatastrophen).
_________________________________________________________________________________________
Alle Rechte vorbehalten.
Abdruck oder vergleichbare Verwendung von Arbeiten des Instituts für Sozialstrategie ist auch in Auszügen nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung gestattet.
Publikationen des IfS unterliegen einem Begutachtungsverfahren durch Fachkolleginnen- und kollegen und durch die Institutsleitung. Sie geben ausschließlich die persönliche Auffassung der Autorinnen und Autoren wieder.