Abstract [en]: The Armenian velvet revolution was at first sight a surprise for all experts on Russia and her dealings with the succession states of the Soviet Union. Until nowadays the Kremlin was always prone to engage in the wheeling and dealing of bordering states which considered it to be a part of its sphere of influence. With the Armenian velvet revolution Russia presented a different side to the watching world: it would be up to the Armenians to solve an inner crisis.

The author points out two reasons which might be decisive for this standpoint:

  1. The world is watching and the soccer championship in Russia is coming up soon. The last Russia could bear would have been a public diplomacy setback now where the stage is set for something overwhelmingly positive.
  2. The approach of the newly elected Premier Nikol Paschinyan was not to irritate Moscow, but to assure the Kremlin not to change the quality of the Russian–Arminian relations. That sufficed as a guarantee.

The success of Mr. Pashinyan and his crew was due to a new concept of civil disobedience:

  1. Engage the civil society and abstain absolutely from any even reciprocal violence. Violence on the protesters side would have provided the regime with a pretext for a crackdown.
  2. Bring the life to a standstill by focusing on just one cause: Stop Mr. Sargsjan from getting Prime Minister just by a slogan: say not to Serj! Overwhelm by sheer numbers. The Armenian populace took up the idea, changed its tactic and succeeded.

There is no need to speculate about this revolution being a kind of blueprint for others to follow in the realm of the former Soviet Union. The success in Armenia provides hope and encouragement for this very small and beleaguered country on Europe’s Eastern border.


Juni 2018

Die „samtene Revolution“ in Armenien.

Wie Russland den armenischen „Maidan“ akzeptierte

get pdf: Die “samtene Revolution”. Wie Russland den armenischen “Maidan” akzeptierte

Inhalt

Zusammenfassung

Nach der Maidanbewegung in der Ukraine 2013-2014 war im postsowjetischen Raum lange nicht mehr von einem ernsthaften Versuch, einen Machtwechsel mittels einer Protestbewegung herbeizuführen, zu hören. Dieser Stillstand wurde im April 2018 unerwartet von der kleinen südkaukasischen Republik Armenien aufgehoben.

Innerhalb von drei Wochen zwang ziviler Ungehorsam Premierminister Serj Sargsjan, der bereits zwei Amtszeiten als Staatspräsident regiert hatte, seinen Rücktritt zu erklären. Am 8. Mai bekam Armenien einen neuen Premierminister – den Initiator und Anführer dieser Protestbewegung – Nikol Paschinjan. Dabei gelang der Machtwechsel in einer im postsowjetischen Raum beispiellosen Weise: ohne Spaltung und Konfrontation innerhalb der Gesellschaft und ohne jegliche Gewaltexzesse in der Auseinandersetzung mit den Machthabern, wofür die Revolution als „samtene“ getauft wurde.

Während der Protestbewegung verhielt sich Moskau unerwartet zurückhaltend. Der Kreml sendete neutrale Botschaften: Was in Armenien geschehe, sei eine innenarmenische Angelegenheit und man wünsche dem brüderlichen Volk eine Lösung herbeizuführen, die seinen Vorstellungen entspreche und ihm eine bessere Zukunft eröffne.

Das Erfolgsrezept der armenischen „samtenen“ Revolution lässt sich wie folgt beschreiben: Armenier hatten von ihren bisherigen Fehlern bei den insgesamt sechs misslungenen Versuchen – seit 1996 vier zivile Proteste und zwei bewaffnete Aktionen –, die an Legitimitätsdefizit permanent leidende, sich immer wieder reproduzierende politische Elite zu entfernen, gelernt: Den Machthabern durfte kein Anlass zum Gewalteinsatz gegeben werden. Auch das Beispiel der Ukraine hatte zu dieser Lektion wesentlich beigetragen und offensichtlich gemacht, was man noch tunlichst vermeiden sollte: Keine außenpolitischen,im Spannungsfeld zwischen Russland und der EU angesiedelten Themen zuzulassen, um Russland nicht zur Einmischung zu provozieren.

Russland seinerseits schien auch Schlussfolgerungen aus dem Ukraine-Desaster gezogen zu haben: Nicht immer auf einen alt bewährten Machthaber zu setzen, sondern durch eine ausgewogene Haltung dessen Herausforderer zur Aufrechterhaltung der bisherigen Vereinbarungen mit Russland zu bewegen. Hinzu kam auch, dass Armenien bereits Mitglied in allen von Russland initiierten Integrationsprojekten im postsowjetischen Raum war. Russland wusste allzu gut, dass die sicherheitspolitisch und wirtschaftlich auf Russland angewiesene kleine Republik nicht ohne weiteres vom russischen Orbit abgekoppelt werden konnte.

Ein weiterer Grund für die ausgewogene Haltung des Kremls war, dass Russland das Gastland der Fußballweltmeisterschaft 2018 ist, deren Beginn kurz bevorsteht. Man wollte eine Wiederholung des gegenüber Russland demonstrierten internationalen Missfallens bei der Winterolympiade in Sotschi 2014 wegen der Geschehnisse in der Ukraine vermeiden.

Zusammenfassend lässt sich feststellen: die armenische Revolution wurde zum richtigen Zeitpunkt mit den richtigen Methoden initiiert. Und nicht zuletzt: der abgesetzte Premierminister Serj Sargsjan zeigte ein gutes Gespür dafür, seine bisherigen Fehler und die seiner Vorgänger nicht zu wiederholen und seinen Rücktritt nicht unziemlich hinauszuzögern. So war ihm ein relativ würdevoller Ausstieg möglich.

Es bleibt abzuwarten, wie erfolgreich die neue Regierung Armeniens sein wird, doch eines darf man bereits als großen Erfolg festhalten: die Revolution hat das Fenster für spürbare Fortschritte in der Demokratieentwicklung und die Etablierung einer neuen, vom sowjetischen Erbe freien politischen Kultur im Lande geöffnet. Und diese Erfahrung könnte positiv demokratische Bestrebungen und Entwicklungen im postsowjetischen Raum beeinflussen.

Nicht abwählbare Machteliten im postsowjetischen Raum

Die Geschichte der demokratischen Transformation in den Nachfolgestaaten der UdSSR, ausgenommen die baltischen Staaten, hat bis jetzt weniger Fortschritte aufzuweisen als man sich am Anfang dieses Prozesses erhofft hatte. Laut Bertelsmann Stiftung-Index sind fünf Nachfolgestaaten –Aserbaidschan, Kasachstan, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan – harte Autokratien, drei –Armenien, Russland, Weißrussland – gemäßigte Autokratien und vier –Georgien, Kirgisistan, Moldau, die Ukraine – defekte Demokratien[i]

Es wurden zahlreiche Reformen mithilfe der EU durchgeführt, die unter anderem auch auf die demokratische Gestaltung des Wahlprozesses abzielten. Doch mit der Zeit wurde offensichtlich, dass ein Machtwechsel in diesen Ländern im Sinne westlicher Tradition noch lange nicht in Sicht ist.

Die nach dem Zerfall der Sowjetunion durchgeführten ersten Wahlen in den Nachfolgestaatenwaren unter dem Aspekt freier Willensbildung und Abstimmung der Bürgerinnen und Bürger dem demokratischen Gedanken näher als die darauf folgenden. Dieses einmalige Fenster des Übergangs zu einem nachhaltigen demokratischen Wahlprozess wurde schnell geschlossen. Die Machthaber in diesen Ländern griffen zu allen Mitteln, um ihre Macht auf Dauer aufrechtzuerhalten. Clanwirtschaft, Korruption, abhängige Justiz, fehlende Presse- und Meinungsfreiheit, manipulierte Wahlen waren Hauptmerkmale dieser Regime.

Nach jeder Präsidentschafts- oder Parlamentswahl brachen in diesen Ländern Proteste unterschiedlicher Intensität aus. Die Opposition beschuldigte die politische Führung der Beeinflussung der Wahlen. In ihren Berichten rügten die internationalen Wahlbeobachtermissionen stets den Einsatz der administrativen Ressourcen zu Gunsten der zur Wiederwahl stehenden Staatsoberhäupter oder der von ihnen installierten Nachfolger, weiterhin staatlichen Druck auf die Wähler ausgeübt zu haben und Unstimmigkeiten bei der Stimmenzählung nicht aufklären zu wollen. All das deutete darauf hin, dass in diesen Staaten es praktisch nicht mehr möglich war, einen Machtwechsel durch Wahlen durchzuführen. Die Alternative für die Gesellschaften war und ist immer noch, einen Machwechsel durch Protestbewegungen zu erreichen. Allerdings scheinen dazu aus unterschiedlichen Gründen bei weitem nicht alle Gesellschaften fähig oder bereit zu sein.

Da die meisten der Nachfolgestaaten ein präsidentielles oder semipräsidentielles Regierungsmodell haben, in dem der Präsident über eine Machtfülle verfügt, die ihm einen übergroßen Einfluss auf alle Verfassungsorgane ermöglicht, werden die Präsidentschaftswahlen als die wichtigstenWahlen angesehen. Deshalb formierten sich die größten Protestwellen stets nach Präsidentschaftswahlen. Nicht wenige von diesen Demonstrationen wurden gewaltsam unterdrückt. Bei den umstrittenen Wahlergebnissen ergriff Moskau gewöhnlich für den Machthaber im jeweiligen Land Partei. Der Kreml konnte auf sie in seiner Politik der Wiederherstellung seiner Einflusszone im postsowjetischen Raum zählen und wollte es nicht riskieren, sich mit für die russischen Interessen unberechenbaren neuen Regierungen konfrontiert zu sehen. Mit seiner Unterstützung ermutigte – gewollt oder ungewollt – Moskau die autoritär regierenden Staatsoberhäupter, mit härteren Maßnahmen zur Unterdrückung der Protestbewegungen vorzugehen.

Drei Ausnahmen in diesem für den postsowjetischen Raum typischen Zustand waren Georgien 2003 mit der Rosenrevolution, Ukraine 2004 mit der Orangerevolution und Kirgisistan 2005 mit der Tulpenrevolution. Die ukrainische Gesellschaft musste in 2013 ein zweites Mal im Zuge des Euromaidan gegen die politische Führung vorgehen.

Als im April 2018 die Republik Armenien mit ihrer Revolution auf leisen Sohlen überraschte, zeigte sich der Kreml zurückhaltend-neutral und akzeptierte den armenischen „Maidan“ ohne jegliche Intervention.

Der Umstand, dass ausgerechnet in dem mit Russland militär-strategisch verbündeten Armenien die alte, russlandtreue politische Führung abgesetzt wurde und Russland sich nicht einmischte, erscheint auf ersten Blick kaum erklärbar zu sein. Doch wirft man einen Blick auf die Geschichte der innenpolitischen Turbulenzen seit der armenischen Unabhängigkeit 1991 und die armenisch-russischen Interessenlage, erkennt man die Zusammenhänge, die eine solche Entwicklung ermöglichten.

Die gescheiterten Versuche eines Machtwechsels

Seit seiner Unabhängigkeit waren in Armenien die Präsidentschaftswahlen 1991 die einzigen, die vorbehaltlos als demokratisch legitimiert akzeptiert wurden. Danach standen sie für nicht ausreichend demokratisch ausgetragene gesellschaftlich-politische Konflikte. Sie mündeten meist in eine Protestbewegung, die der politischen Führung vorwarf, die Wahlergebnisse mit unzulässigen Mitteln beeinflusst zu haben.

Der 1991mit 80% Stimmenanteil gewählte erste Präsident Levon Ter-Petrosjan wurde in seiner umstrittenen Wiederwahl 1996 mit 51% Stimmenanteil im Amt bestätigt. Sein Herausforderer, Oppositionsführer Vasgen Manukjan erhielt 41% der Stimmen. Die Opposition erkannte die Wahlergebnisse nicht an und verlangte wenigstens in den Wahllokalen, wo extrem grobe Stimmenfälschungen vermutet wurden, eine Neuauszählung. Sollte diese den Verdacht bestätigen, dass das Ausmaß der Fälschungen unverhältnismäßig groß ist, so wären neue Wahlen anzusetzen. Doch die politische Führung kam den Vorschlägen der Opposition nicht entgegen, worauf tausende Menschen in die Nationalversammlung stürmten. Es kam zu Schlägereien, der Vorsitzende und seine Stellvertreter wurden verletzt. Es fielen auch Schüssedurch Sicherheitskräfte und Armeeeinheiten. Eine Verhaftungswelle ging durch das Land. Die „Macht“ übernahm wieder die Kontrolle.

1998 trat der politisch enorm geschwächte Präsident Ter-Petrosjan zurück. Der Grund des Rücktritts war jedoch nicht nur seine von der Öffentlichkeit in Frage gestellte Legitimität. Vielmehr ging es um seine Haltung im Bergkarabach-Konflikt[ii], die seine politischen Weggefährten, aber auch ein Großteil der Gesellschaft als zu kompromissbereit sahen.

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen 1998 wurde Robert Kotscharjan, der ein Jahr zuvor zum Ministerpräsidenten ernannt war, mit 59,5% Stimmenanteil im zweiten Wahlgang im Amt bestätigt. Sein Konkurrent, der frühere Generalsekretär der Kommunistischen Partei in der Sowjetrepublik Armenien, Karen Demirtschjan erhielt 41% der Stimmen. Die öffentliche Meinung nahm nur kurz daran Anstoß, dass bei den Wahlen durch administrative Ressourcen und Druck dem von der Regierung, insbesondere vom mächtigen Verteidigungsminister Wasgen Sargsjan favorisierten Kotscharjan „geholfen“ worden war. Der erfahrene Karen Demirtschjan verzichtete auf die Konfrontation und beruhigte die Gemüter seiner Anhänger.

Zur Entspannung der Situation trug auch der brückenbauende Schritt des Verteidigungsministers bei: In den darauf folgenden Parlamentswahlen 1999 bildete seine Partei (die Republikanische Partei Armeniens) ein Bündnis mit der von Karen Demirtschjan gegründeten „Volkspartei Armeniens“. Das Bündnis ging aus den Wahlen als klarer Sieger hervor und bildete die Mehrheit im Parlament. Der Verteidigungsminister wurde zum Premier ernannt, Karen Demirtschjan wurde Parlamentsvorsitzender.

Doch nach fünf Monaten, am 27. Oktober 1999 drang eine achtköpfige Gruppe mit Sturmgewehren in den Plenarsaal des Parlaments ein, wo gerade die Fragestunde der Regierung abgehalten wurde. Sie erschossen den Premierminister, den Parlamentsvorsitzenden, die beiden stellvertretenden Vorsitzenden, drei Abgeordneten und einen Minister. Drei Minister und fünf Abgeordnete wurden verletzt, die 91 Anwesenden im Saal als Geisel genommen. Der Anführer der Gruppe – ein junger Journalist, der auch politisch aktiv war – verkündete den Sieg „über diejenigen, die jahrelang das Blut des Volkes gesaugt und es nicht zugelassen haben, dass normale Wahlen stattfinden… Es war unvermeidlich, dass das Ende so kommen wird…[iii]“, so der Anführer der Gruppe.

Ihre Erwartungen, dass die Öffentlichkeit dies als Befreiung, als Heldentat schätzen und zur Unterstützung zum Parlamentsgebäude kommen würde, wurden nicht erfüllt. Die Gesellschaft war zutiefst schockiert. Wohl zustimmend, dass die politische Elite Schritt für Schritt die Macht monopolisiert, erteilte sie eine klare Absage an gewaltsame Mitteln des Machtwechsels. Gleichzeitig rief sie die politische Elite auf, diese Bluttat als akute Mahnung für Veränderungen im gesellschaftlichen-politischen Leben wahrzunehmen.

Nach dem 27. Oktober wurden die Karten im innenpolitischen Spiel erneut verteilt. Präsident Kotscharjan, der keine Partei vertrat, stärkte seine Position durch die Übernahme der faktischen Kontrolle über die Republikanische und andere Parteien im Parlament und stieg zur mächtigsten politischen Figur auf.

2003 wurde er im zweiten Wahlgang mit 67,5% Stimmenanteil wiedergewählt. Sein Herausforderer war der Sohn des ermordeten Parlamentsvorsitzenden Karen Demirtschjan. Außer seiner Partei  –der Volkspartei Armeniens –hatte Stepan Demirtschjan auch die Unterstützung anderer oppositionellen Kräfte. Er profitierte vom guten Ruf seines Vaters und genoss auch wegen dessen tragischen Tod verstärkt Sympathien in der breiten Bevölkerung, insbesondere bei der Generation, die noch die gute Versorgungsjahre Armeniens in der Sowjetzeit unter Demirtschjans Führung in Erinnerung hatte. Doch all das schlug sich lediglich in einem 32,2% Wahlergebnis nieder. Erneut ging die Opposition auf die Straße in fester Überzeugung, dass in Wirklichkeit Stefan Demirtschjan der Wahlsieger war und ihm dieser Sieg durch Wahlmanipulationen gestohlen worden war – wie einst seinem Vater im Jahr 1998. Ein Antrag auf Annullierung der Wahlergebnisse beim Verfassungsgericht lief ins Leere. Die Demonstrationen dauerten fast zwei Monate und wurden durch den Einsatz von Polizei und speziellen Sicherheitskräften niedergeschlagen.

Die Ära Serj Sargsjan

Der 2008 aus dem Amt scheidende Präsident Kotscharjan (laut Verfassung darf ein Präsident nur zwei Amtszeiten regieren) entschied sich für den Premierminister Serj Sargsjan als Nachfolger. Sargsjan ist, wie Kotscharjan selbst, gebürtiger Karabach-Armenier und Weggefährte seit der Zeit der Karabach-Bewegung 1988. Er hatte auch die Posten des Chefs des Nationalen Sicherheitsdienstes und des Verteidigungsministers bekleidet.

Zu diesem Zeitpunkt war die Opposition gespalten und handlungsunfähig. Es schien dem Plan einer reibungslosen Machtübergabe an Sargsjan nichts im Weg zu stehen. Doch unerwartet kehrte der erste Präsident Ter-Petrosjan auf die politische Bühne als Sargsjans Herausforderer zurück. Im Februar 2008 wurde mit 52,82% Stimmenanteil Serj Sargsjan als Wahlsieger erklärt. Levon Ter-Petrosjan erhielt 21,51% der Stimmen. Seine Anhängerschaft mobilisierte breite Bevölkerungsschichten, auch die unter sich zerstrittenen oppositionellen Kräfte. Sie gingen auf die Straße und forderten eine Überprüfungder Wahlergebnisse und Durchführung neuer Wahlen. Am 1. März wurde die Demonstration brutal niedergeschlagen und der Ausnahmezustand verhängt. Zehn Menschen wurden erschossen, einige Hunderte verletzt, mehr als hundert verhaftet. Es folgte ein langwieriger Gerichtsprozess, der am Ende allerdings nicht feststellen konnte, wer der Polizei und den Sicherheitskräften den Befehl erteilt hatte, auf Demonstranten das Feuer zu eröffnen.

Die Ereignisse von 1. März 2008 verunsicherten die armenische Gesellschaft zutiefst. Sie glitt in die Rolle eines passiven Beobachters, der sich damit abgefunden hat, keinen Einfluss auf die Entscheidungen im Lande nehmen zu können.

2013 stellte sich Serj Sargsjan zur Wiederwahl. Unter den Präsidentschaftskandidaten gab es keinen aussichtsreichen, der die monolithische Machtpyramide Serj Sargsjans herausfordern konnte. Man verglich diese Wahlen mit denen in den Sowjetzeiten, wo der Ausgang immer im Voraus feststand. Sargsjan erhielt 58% Stimmenanteil. Überraschenderweise belegte den zweiten Platz mit 37% der Stimmen der als Außenseiter geltende Kandidat Raffi Howhannisjan. Howhannisjan war in den USA geboren und aufgewachsen, 1990 nach Armenien gezogen und hatte 1991-1992 als erster Außenminister Armeniens amtiert. Monatelang dauerte die friedliche Protestbewegung an, welche die Wahlergebnisse in Frage stellte und einen letztlich erfolglosen Antrag zur Annullierung der Wahlergebnisse beim Verfassungsgericht stellte.

Howhannisjans unerwartet hoher Stimmenanteil wies im Grunde genommen darauf hin, dass die Armenier gesellschaftliche Veränderungen im Lande für sehr notwendig hielten und nur einem neuen Typus von Politiker, geprägt durch westliche politische und gesellschaftliche Kultur, dies zutrauten. Hinzu kam, dass die Wähler es nunmehr für möglich hielten, einen „Zivilpräsidenten“ zu haben, der eben nicht am Karabach-Krieg teilgenommen hatte, Armenien aber trotzdem durch alle derzeitigen Herausforderungen führen kann.

In Anbetracht des faktischen Kriegszustands mit Aserbaidschan aufgrund des Bergkarabach-Konfliktes und des durch den Völkermord belasteten Verhältnisses mit der Türkei wurde der Präsident als Garant der Sicherheit des Landes durch die Bevölkerung noch stärker wahrgenommen. Daher ist es kein Zufall, dass der politische Werdegang aller drei Präsidenten durch die Karabach-Bewegung und den danach ausgebrochenen Krieg geprägt ist.

Nach seiner Wiederwahl kündigte Serj Sargsjan große Veränderungen an: demokratische Entwicklung, Gerechtigkeit, Kampf gegen Korruption, Verbesserung der sozial-wirtschaftlichen Lage. Die Gesellschaft wurde auch in seiner zweiten Amtszeit enttäuscht. Die Machtvertikale wurde monolithischer, Oligarchenherrschaft, Vetternwirtschaft, Korruption, abhängige Justiz blieben weiterhin Hauptmerkmale der Regierungszeit von Sargsjan.

Das Fass zum Überlaufen gebracht

2015 initiierte Serj Sargsjan eine Verfassungsänderung, die das semipräsidentielle Regierungsmodell Armeniens im April 2018 auf ein parlamentarisches umstellen sollte. Die Begründung: dieses Modell würde mehr zur demokratischen Entwicklung des Landes beitragen. Die Reaktionen in der Öffentlichkeit waren größtenteils negativ. Die Menschen sahen die Wurzeln aller Übel in politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensbereichen nicht im „falschen“ Regierungsmodell, sondern im Fehlen des Interesses der politischen Führung, diese Missstände tatsächlich zu beseitigen.

Die Verfassungsänderungen statteten den zukünftigen Premier mit einer übergroßen Machtfülle aus, wohingegen die Befugnisse des Präsidenten stark beschnitten wurden. Deshalb glaubte die Öffentlichkeit, ein anderes Ziel hinter diesen Veränderungen erblicken zu müssen: die Vorbereitung für eine fortgesetzte Regierungszeit Serj Sargsjans, dessen zweite Amtszeit im April 2018 zu Ende gehen musste. Sargsjan sah sich veranlasst, Stellung dazu zu nehmen und versicherte, er würde nicht für den Posten des Ministerpräsidenten kandidieren. Am 6. Dezember 2015 wurde das Referendum über die Verfassungsänderungen abgehalten und den Veränderungen mehrheitlich zugestimmt. Die öffentliche Meinung über das Zustandekommen des Ergebnisses des Referendums zeichnete sich durch große Skepsis aus.

Am 17. Juli 2016 besetzte eine bewaffnete Gruppe der Protestbewegung „Gründungsparlament“ die Zentrale des staatlichen Wachdienstes, nahm die anwesenden sieben Polizisten als Geisel und verkündet den Anfang eines bewaffneten Widerstandes gegen das Regime von Serj Sargsjan. Die Gruppe verlangte Sargsjans Rücktritt und die Freilassung ihrer politisch verfolgten Freunde. Bei einem Schusswechsel wurden ein Mitglied der Gruppe und ein Polizist verletzt, der später seinen Verletzungen erlag. Vor der Zentrale sammelten sich Unterstützer der Gruppe. 51 Menschen wurden bei den Auseinandersetzungen verletzt, sowohl Demonstranten als auch Polizisten. Zwei Wochen verharrte die Gruppe im Gebäude. Dabei kam es immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Polizisten und den unterstützenden Demonstranten, von denen 60 in Krankenhäusern behandelt werden mussten. Beim Versuch der Sicherheitskräfte die Station mit Sturm zu befreien, wurden weitere vier Mitglieder der bewaffneten Gruppe und ein Polizist verletzt. Am 31. Juli legte die Gruppe die Waffe nieder und wurde verhaftet.

Auch dieser gewaltsame Versuch fand keine breite gesellschaftliche Unterstützung. Aber die Vorgänge sprachen wie 1999 beim Sturm auf das Parlament eine deutliche Mahnung an die politische Führung aus: ein „weiter so“ wird auch in Zukunft Gewaltausbrüche mit sich bringen.

Die Bilanz der zehnjährigen Regierungszeit von Sargsjan fiel verheerend aus. Die offiziellen statistischen Daten: eine fast vervierfachte Staatsverschuldung, unverändert gebliebene 30-prozentige Armut, 18-prozentige Arbeitslosigkeit (die Einschätzungen der unabhängigen Experten weisen höhere Prozentzahlen aus), niedrige Arbeitslöhne und Renten, geschätzte 36% Schattenwirtschaft (laut internationalen Währungsfonds), generell eine große Kluft zwischen Arm und Reich: 10% der Bevölkerung verfügt über 70% des Reichtums. Als Folge dieser Missstände wanderten in der Regierungszeit Sargsjans über 300 000 Menschen aus.

Serj Sargsjan schien aus dieser Bilanz Schlussfolgerungen gezogen zu haben. Bei den Parlamentswahlen im April 2017 trat er nicht mehr als Spitzenkandidat seiner Parteiliste an. Dies verstärkte Erwartungen, dass er doch darauf verzichten würde, in 2018 das Amt des Premiers zu übernehmen. Das Gesicht der regierenden Republikanischen Partei bei den Wahlen wurde Karen Karapetjan. Er war jahrelang als Geschäftsführer von Armrusgazard[iv] und danach in einem russischen Unternehmen in Moskau tätig gewesen. Mit dem Image eines dynamischen, für Veränderungen stehenden Managers genoss er eine gewisse Sympathie in der Öffentlichkeit und weckte Hoffnung auf Besserung.

Die Regierungspartei gewann die Wahlen, bildete eine Mehrheit im Parlament und bestellte Karen Karapetjan zum Premierminister. Karapetjan galt als von Russland favorisierter Kandidat und erhielt auch Unterstützung von vermögenden Russland-Armeniern, die milliardenschwere Investitionsprojekte unter seiner Regierung ankündigten. Serj Sargsjan und die Republikanische Partei deuteten an, sollte Karapetjan gute Ergebnisse bis 2018 erzielen, so könnte man sich vorstellen, ihn nach der Umstellung des Regierungsmodells im April 2018 wieder zum Posten des Premierministers zu nominieren.

Doch je näher der Fristablauf für die Nominierung rückte, desto klarer wurde, dass Sargsjan kandidieren würde. Und dies trotz des Umstandes, dass Karapetjans Regierung laut offiziellen statistischen Daten ein 7,5% Wirtschaftswachstum vorzuweisen hatte, das größte Wachstum seit 2012. Die Republikaner gaben zunächst nebulös, dann doch klarer zu verstehen, dass die Partei Serj Sargsjan allzu gern in Pflicht nehmen würde, den Premierposten zu übernehmen, dass sie keinen würdigeren Kandidaten als ihn sähen. Diese inszenierte Bitte um das Einverständnis sollte es ihm ermöglichen, sich von seinem vor drei Jahren gegebenen Versprechen, nicht zu kandidieren, lösen zu können.

Während die Republikanische Partei mit den letzten förmlichen Vorbereitungen beschäftigt war, um Sargsjans Übergang vom Posten des Präsidenten zum Posten des Premierministers geräuschlos zu organisieren, nahm in der zweitgrößten Stadt Armeniens ein Prozess seinen Anfang, der innerhalb von drei Wochen zum Ende der Ära Sargsjan führen sollte.

Der „Spielverderber“ Nikol Paschinjan

Am 31. März startete der Abgeordnete Nikol Paschinjan in Gjumri mit einigen wenigen Mitstreitern eine Fußmarschaktion „Mein Schritt“ gegen die zu erwartenden Ernennung Serj Sargsjans zum Premier.

Zur Person: Der 43-jährige Paschinjan war 1999-2012 Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung „Hajkakan Zhamanak“ (deutsch „Armenische Zeit“). 1999 wurde er aus politischen Gründen zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt, die wegen der Proteste der armenischen und internationalen Journalistengemeinschaft nicht vollgestreckt wurde. 2008 war er Mitglied des Wahlstabes des Präsidentschaftskandidaten Levon Ter-Petrosjan. Nach den Ereignissen am 1. März 2008 wurde gegen ihm ein Haftbefehlt erlassen. Er tauchte ab und stellte sich erst im Juli 2009 der Polizei. Er wurde zu siebenjähriger Haft für das Anzetteln von Unruhen in 2008 verurteilt. Paschinjan wurde international als politischer Gefangene anerkannt. In 2011 wurde er aufgrund einer Amnestie freigelassen.

Paschinjan wurde in der letzten Legislaturperiode 2012-2017 mit der Parteiliste des oppositionellen Bündnisses „Allarmenischer Kongress“, in der viele Mitstreiter von Ter-Petrosjan vertreten waren, Abgeordneter. 2013 gründete Nikol Paschinjan die gesellschaftlich-politische Union „Bürgerlicher Vertrag“. Bei den Parlamentswahlen 2017 schloss sich seine Union dem Bündnis „Jelk“ (deutsch ‚Ausweg’), das mit neun Abgeordneten im Parlament die einzige Opposition darstellt. Paschinjan wurde zum Fraktionsvorsitzenden von „Jelk“ gewählt. Als er seinen Fußmarsch nach Jerewan startete, erhielt er jedoch nicht die volle Unterstützung seiner Fraktion. Nur zwei Abgeordnete ließen sich auf seine Idee ein, andere wiesen auf die früheren erfolglosen Protestversuche und die Gefahren hin, die hinter einem solchen Unterfangen stünden.

Innerhalb von 13 Tagen legte er mit seinem kleinen Team 200 km zurück, übernachtete in Zelten im Freien, traf sich mit Einwohnern vieler Dörfer und Städte. Er rief sie auf, für eine bessere Zukunft ihren Schritt gegen die Verstetigung des Regimes von Sargsjanund der Republikanischen Partei zu machen, der Angst und Hoffnungslosigkeit den Rücken zu kehren. Seine Formel war: „Sollten meine Mitstreiter lediglich fünf Personen sein, unternehmen wir eben eine Aktion, die dieser Zahl entspricht, sollten wir Hunderte sein, dann das dem entsprechende. Sollte allerdings unsere Zahl hunderttausend erreichen, dann verspreche ich euch, dass wir einen Machtwechsel erzwingen[v]“.

Paschinjan setzte sich als oberstes Ziel, die Wahl Serj Sargsjan zum Premierminister zu verhindern und so die Voraussetzungen für die Durchführung neuer Parlamentswahlen zu schaffen, die ohne jegliche Beeinflussung den Willen des Volkes zum Ausdruck bringen sollten. Dementsprechend sollte eine neue Regierung mit neuem Premierminister gebildet werden.

Nach seiner Ankunft in der Hauptstadt am 13. April setzte er in allen Stadtteilen den Fußmarsch fort, rief die Bevölkerung zum friedlichen zivilen Ungehorsam, zu Streiks und zu Aktionen des Protestes in der ganzen Republik.

Das Endpiel

Am 15. April nominierte die Republikanische Partei auf einer Parteisondersitzung Serj Sargsjan zum Premierkandidaten. Sargsjans Kritiker sahen sich bestätigt: Die öffentliche Empörung war enorm. Paschinjans Protestbewegung erfuhr einen großen Zulauf.

Das Parlamentsgebäude, wo am 16. April Sargjans Kandidatur offiziell gestellt wurde, war durch einen Drahtzaun und Spezialeinheiten abgeriegelt. Die Polizei setzte gegen friedlichen Demonstranten Wasserwerfer ein. Es gab Verletzte sowohl unter den Demonstranten als auch unter den Polizisten. Ein symbolisches Bild, das in der Bevölkerung Erinnerungen an den tragischen 1. März 2008 wach rief, als Sargsjan das Amt des Präsidenten ebenso hinter einem Drahtzaun, umgeben mit den Polizeieinheiten antreten musste.

Am 17. April wurde Sargsjan mit 77 “für” und 17 “gegen” Stimmen im Amt bestätigt. Bis der neu gewählte Premier in den nächsten Tagen die Schlüsselminister seines Kabinetts ernennen konnte, standen auf dem Platz der Republik bereits zehntausende Menschen. Die Hauptplätze der anderen armenischen Städte waren ebenso mit Demonstranten besetzt.

Von Anfang an hatte Nikol Paschinjan nur ein einziges Thema, was sich in den Slogan „Mach Deinen Schritt, sag Serj ab“ niedergeschlagen hatte. Sein ständiger Appell an Menschen war, dass alle Aktionen mit offenen Händen, ohne jegliche Erscheinung von Gewalt durchgeführt werden müssen. Falls die Polizei eingreifen sollte, so war Paschinjans Forderung an Demonstranten, sollte man sich nicht einmal wehren.

Kein außenpolitisches Thema war in seinen kurzen Reden zu hören, die hauptsächlich organisatorische Hinweise für die Protestaktionen in der ganzen Republik enthielten. Durch sein Charisma gelang es ihm, den Menschen enormen Mut, Entschlossenheit und festen Glauben an ihrem Sieg einzuimpfen. Mit einer einzigen Botschaft – Serj Sargsjan und die Republikanische Partei dürfen nicht weiter regieren – entfachte er im ganzen Land einen beispiellosen Proteststurm. Behördengebäude, Autobahnen, Straßen wurden blockiert: man saß einfach auf den Straßen, man streikte, Hochschulen, Schulen standen leer, fast alles kam zum Erliegen. Die treibende Kraft des zivilen Ungehorsams war die junge, nach der Unabhängigkeit geborene Generation, auf die Paschinjan von Anfang an gesetzt hatte. Zunächst vorsichtig-zögernd, aber bald mit vollem Einsatz schloss sich auch die ältere Generation dem Protest an.

Einen Vermittlungsversuch unternahm der im März 2018 neu gewählte Präsident Armen Sargsjan. Er kam zum Platz der Republik und vereinbarte mit Paschinjan ein Treffen mit Serj Sargsjan. Das Treffen fand am 22. April in einem Hotel am Platz der Republik statt. Serj Sargsjan zeigte sich überrascht von der Anwesenheit der Presse, wofür Paschinjan gesorgt hatte. Serj Sargsjan verließ den Saal des Treffens nach wenigen Minuten, als Paschinjan wiederholte, dass es nicht um einen allgemeinen Dialog gehe, wie Sargsjan erwartet, sondern um die Vereinbarung der Bedingungen seines Rücktritts und der friedlichen Machtübergabe im gesetzlichen Rahmen.

Nach einigen Stunden wurden Paschinjan, zwei Abgeordnete und einige Aktivisten festgenommen. Die Prozedur sah vor, dass den Abgeordneten im Parlament durch eine Abstimmung die Immunität entzogen werden sollte. Doch dazu kam es nicht. Bereits am Abend und darauf folgenden Tag strömten von allen Richtungen der Republik große Menschenmengen nach Jerewan. Der gesamte Verkehr kam zum Erliegen, das öffentliche Leben geriet in Stillstand. Am 23. April standen allein auf dem Platz der Republik und in den naheliegenden Straßen in Jerewan über zweihunderttausend Menschen, die absolut friedlich „Mach Deinen Schritt, sag Serj ab“ skandierten. Ein Teil der Friedenstruppe der Armee verließ die Kaserne und schloss sich den Demonstranten an. Die Polizei griff nicht mehr ein. Am frühen Nachmittag wurden Paschinjan und die zwei Abgeordneten frei gelassen. Nach weniger als zwei Stunden erklärte Serj Sargsjan seinen Rücktritt. Die Demonstranten skandierten bereits „Nikol Premier“…

In den darauf folgenden Tagen misslang auch der vorsichtige Versuch der Republikanischen Partei, den früheren Premier Karen Karapetjan als Nachfolger Serj Sargsjans zum Premier aufzubauen. Die armenische Gesellschaft hatte den Durchbruch beim fünften Anlauf des zivilen Protestes seit 1996 geschafft und ließ der seit 1999 regierenden Republikanischen Partei keine Chance, diese Kombination auszuprobieren.

Die Fraktion „Jelk“ im Parlament nominierte Nikol Paschinjan zum Kandidaten für den Premierposten. Weitere Fraktionen versicherten ihre Zustimmung bei der Wahl. Insgesamt brauchte man 53 „Ja“-Stimmen für die Wahl Paschinjans. Sie besaßen zusammen nur 48 Stimmen. Es hieß, die regierende Partei müsste einsehen, dass die Mehrheit der Gesellschaft sie abgerufen habe und der Situation Rechnung zu tragen sei: der Wahl von Paschinjans zum Premier ihren Beitrag zu leisten, damit das normale Leben in Armenien schnellstmöglich zurückkehren könne.

Beim ersten Wahlgang am 1. Mai stimmte die Republikanische Partei nicht für Paschinjan, wie sie vor Tagen signalisiert hatte. Der öffentliche Druck wuchs weiter, der zivile Ungehorsam gewann nochmals an Intensität. Den Republikanern wurde klar: es gibt keinen anderen Ausweg. Beim zweiten Durchgang am 8. Mai standen wieder hunderttausende Menschen auf dem Platz der Republik und verfolgten die Sondersitzung im Parlament auf großen Bildschirmen. Paschinjan wurde zum Premier gewählt.

Russland akzeptierte den armenischen „Maidan“: Eine Ausnahme oder doch ein Umdenken?

Für die Armenier grenzte es fast an ein Wunder, dass Moskau eine neutrale Haltung gegenüber der „samtene Revolution“ einnahm. Der Kreml nahm in unterschiedlichen Phasen der Protestbewegung mehrmals in gleicher Weise Stellung: Moskau verfolge sehr aufmerksam die Ereignisse, die eine innenpolitische Angelegenheit Armeniens seien, und hoffe, dass eine friedliche, verfassungskonforme Lösung gefunden werden könne.

Allerdings schickte der Kreml sicherheitshalber eine Delegation der Staatsduma nach Jerewan, die vor Ort sich ein Bild machen sollte.

Rechtzeitig signalisierte Paschinjan in seinen Reden, dass zwar die Außenpolitik nichts mit dem Protest zu tun habe, jedoch angesichts des Umstandes, dass das Regime von Sargsjan die russisch-armenischen Beziehungen bei einem Machtwechsel als gefährdet darstellen würde, halte er es für notwendig, Folgendes zu versichern: Armenien würde allen bisherigen internationalen vertraglichen Vereinbarungen, darunter auch den mit Russland abgeschlossenen nachkommen. Er betonte, dass Armeniens Mitgliedschaft in der GUS, im Vertrag über kollektive Sicherheit in der GUS, in der Eurasischen Wirtschaftsunion nicht in Frage gestellt wird, denn das könne mehr Schaden anrichten, als Nutzen bringen.

Von Paschinjan das zu hören, war gewöhnungsbedürftig. Denn in seiner langjährigen Karriere als Chefredakteur und sechsjähriger Tätigkeit als Abgeordneter hatte er unermüdlich Russlands Armenienpolitik und die Treue der armenischen politischen Führung zu Russland kritisiert. Gerade mal vor sieben Monaten hatte seine Fraktion „Jelk“ einen Gesetzentwurf über den Austritt Armeniens aus der EAWU ins Parlament gebracht, der, wie zu erwarten war, mehrheitlich abgelehnt wurde. Zwar glaubten die Abgeordnete von „Jelk“ von vornhereinnicht an einen Erfolg, doch hieltensie es für notwendig, durch den Gesetzentwurf nochmals auf die Nachteile dieser Mitgliedschaft wie die verbesserungsbedürftigen Aspekten der armenisch-russischen Beziehungen aufmerksam zu machen.

Als am 8. Mai Nikol Paschinjan zum Premier gewählt wurde, war Wladimir Putin der erste, der ihm gratulierte. Somit akzeptierte Moskau endgültig den „Maidan“ in Armenien. Doch dafür gab es auch andere Gründe als Paschinjans beruhigende Worte über den Verbleib Armeniens in Russlands Integrationsprojekten.

Wochen vor dem Beginn der Fußballweltmeisterschaft in Russland wollte Moskau nicht unnötig das Risiko eingehen und sich in Armenien für einen vollends diskreditierten Machthaber einsetzen. Wenn nicht generell, dann wenigstens im Falle Armeniens setzte sich im Kreml offensichtlich ein Umdenken durch: statt der alten Macht zur Hilfe zu eilen und Moskaus ohnehin stark geschädigten Ruf in der Öffentlichkeit dieses Landes und im Ausland weiter zu ruinieren, sollte man durch eine ausgewogene Haltung den Herausforderer der alten Macht zur Aufrechterhaltung der Beziehungen und Vereinbarungen mit Russland bewegen.

Im Falle Armeniens waren die Gemüter in Moskau auch deswegen einfacher zu beruhigen, weil Armenien bereits Mitglied in allen von Russland initiierten Integrationsprojekten im postsowjetischen Raum ist und der Kreml sich deshalb politisch nicht gefährdet sah. Darüber hinaus liegt es auf der Hand, dass eine Kündigung der Mitgliedschaft in den oben genannten Organisationen unrealistisch ist: Die starke sicherheitspolitische und wirtschaftliche Abhängigkeit Armeniens von Russland ist ein Riegel, auf dessen Wirksamkeit sich Moskau immer verlassen kann.

Einige Eckdaten: Russland hat in Armenien eine Militärbasis, deren Nutzungsdauer im Jahr 2010 bis 2044 verlängert wurde. Die 289 km lange Grenze Armeniens mit der Türkei und die 37 km mit Iran werden durch russische Grenztruppen geschützt. Russland ist Armeniens Hauptlieferant von Rüstungsgütern. Wegen des Bergkarabach-Konfliktes und der nicht normalisierten Beziehungen mit der Türkei wird die russische Präsenz in Armenien als unerlässlich gesehen.

Mit ca. 4 Mrd. US Dollar ist Russland der größte ausländische Investor in Armenien. Große Teile des Finanzsektors, der Telekommunikation, der Energiewirtschaft sowie das Eisenbahnnetz sind in russischer Hand. Russland ist Armeniens Erdgaslieferant mit Monopolrechten, die ihm 2013 vertraglich zugesichert wurden. Auch die in 2007 als Alternative zum russischen Gas gebaute Iran-Armenien Gaspipeline ist seit 2013 zu 100% in Besitz von Gazprom. Russland liefert auch Kernbrennstoff für das armenische AKW „Mezamor“.

95% aller Arbeitsmigranten aus Armenien gehen nach Russland, dies macht ca. 18% der Bevölkerung Armeniens aus. In Russland ist die größte armenische Diaspora mit über zwei Mio. Armeniern (in Armenien selbst wohnen 3 Mio. Menschen). Die privaten Transfers aus Russland – nur Banküberweisungen – machen ca.80% des gesamten Transfervolumens aus dem Ausland aus.[vi]

Unter diesen Umständen dürfte Moskau keinen Zweifel gehabt haben: sollte auch ein scharfer Russland-Kritiker in Armenien zur Macht kommen, so wird er auch die Einsicht mit ins Amt des Premiers nehmen, dassmit Worten die Russlandpolitik Armeniens leichter zu revidieren ist als mit Taten.

Ausblick

Ob die neue Regierung Armeniens erfolgreich sein wird, bleibt abzuwarten. Doch einen unumstrittenen Erfolg haben der Premier Paschinjan und sein Team bereits vorzuweisen: Ihre „samtene“ Revolution hat das Fenster für reale, zeitnah spürbare Fortschritte in der Demokratieentwicklung und die Etablierung einer neuen, vomsowjetischen Erbe freien politischen Kultur im Lande geöffnet.

Aus der armenischen „samtenen Revolution“ könnte auch ein Mehrwert entstehen: ihre Erfahrungen können Anregungen für die nach mehr Demokratie strebenden Gesellschaften und nicht zuletzt Einsichten für deren autoritär regierenden Machteliten im postsowjetischen Raum anstoßen.


Anmerkungen

[i] BTI Transformation-Index: unter: https://www.bti-project.org/de/daten/rankings/status-index/, abgerufen: 11.05.2018.

[ii] Der Berg Karabach Konflikt: 1921 beschloss das Kaukasus Büro der Kommunistischen Partei, das vorwiegend armenisch bevölkerte Region Bergkarabach als Autonomes Gebiet Aserbaidschan zuzuschlagen. Im Zuge der Glasnostpolitik Michail Gorbatschows riefen Armenier in Bergkarabach 1988 Moskau auf, das Gebiet Armenien anzuschließen. Es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Armeniern und Aserbaidschanern. 1991 hielten Karabacharmenier ein Referendum über die Unabhängigkeit des autonomen Gebietes von Aserbaidschan ab, dessen Ergebnisse von der Zentralregierung Aserbaidschans nicht anerkannt wurden. 1992 brach zwischen den Konfliktparteien ein regulärer Krieg aus. Armenier in Bergkarabach erhielten Unterstützung durch Armenien. Bergkarabach mit sieben umliegenden  aserbaidschanischen Territorien wurden im Verlauf der Kampfhandlungen unter armenische Kontrolle gebracht. 1994 Waffenstillstand, aber kein Friedensvertrag.  Ein Verhandlungsprozess zur Beilegung des Konfliktes verläuft seit 1994 im Format der Minsker Gruppe der OSZE, ohne dem entscheidenten Schritt zu einer Lösung näher gekommen zu sein.

[iii] Die Textwiedergabe der Liveübertragung der Parlamentssitzung, unter: http://www.aravot.am/2014/10/27/509895/, abgerufen:02.06.2018.

[iv] Die geschlossene Aktiengesellschaft Armrusgazard wurde 1997 auf der Basis der sowjetischen Armgazard gegründet, woran Gazprom 45% Anteil erhielt. 2013 besaß Gazprom bereits 100% der Aktien.

[v] Teilnehmer des Fußmarsches kamen in Jerewan an, unter: https://www.azatutyun.am/a/29165494.html, abgerufen: 16.05.2018.

[vi] Das statistische Amt Armeniens, unter: www.armstat.am; Sargsjan, Laura, 22.06.2016: Das Sicherheitskissen Armeniens Finanzen erlebt schwierige Zeiten: unter: https://armeniasputnik.am/economy/20160622/3966680.html, abgerufen: 25.05.2018.


Siehe auch:


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Posted by Irina Ghulinyan-Gerz

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