Abstract [de]: Die ungeheuer schnelle Veränderung aller Lebensverhältnisse im Zug der digitalen Transformation stellt uns vor die Frage nach der Zukunftsfähigkeit der Christlichen Soziallehre. Denn der Verlust von Relevanz und Plausibilität christlicher Sinnangebote in Europa betrifft ja nicht nur religiöse Überzeugungen und die geringer werdende Teilhabe an liturgischen Angeboten, sondern auch die wahrgenommene Kompetenz von Kirche und Theologie in Fragen des guten Zusammenlebens in der Gesellschaft.

Der Beitrag erschien zuerst in Grüne Reihe Nr. 488, Herausgegeben von der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle.


März 2022

Kirche und Gesellschaft

Ist die Christliche Soziallehre in einer digitalen Welt zukunftsfähig?

Inhalt:

  1. Plausibilität und Resonanz Christlicher Soziallehre heute
  2. Digitale Transformation als neue Herausforderung Christlicher Soziallehre
  3. Digitale Personalität und digitale Menschenwürde: Was trägt die Christliche Soziallehre zur Bewältigung der digitalen Transformation bei? (I)
  4. Digitale Subsidiarität und digitale Fairness: Was trägt die Christliche Soziallehre zur Bewältigung der digitalen Transformation bei? (II)
  5. Digitale Solidarität und digitales Gemeinwohl: Was trägt die Christliche Soziallehre zur Bewältigung der digitalen Transformation bei? (III)
  6. Schluss: Der Beitrag zukunftsfähiger Soziallehre zum Zusammenhalt in einer digitalen Welt

1.     Plausibilität und Resonanz Christlicher Soziallehre heute

Ort der Reflexion darüber war über Jahrzehnte die Christliche Sozialethik.[1] Deren Wortmeldungen finden in einer Zeit großer, nicht zuletzt digital wirksamer Umbrüche in unserer Gesellschaft aber kaum noch Widerhall. Man könnte fragen: Was soll auch Neues gesagt werden? Dass Fragen der Umweltethik an der Zeit sind, haben auch andere ge- merkt, trotz der wohlwollenden Aufnahme von „Laudato Si‘“ und „Fratelli Tutti“ des amtierenden Papsts Franziskus.[2]

Dass Fragen der internationalen Ordnung kontrovers diskutiert werden, ist alles andere als eine Überraschung. Ob jedoch kirchliche Wortmeldungen auf diesem Feld einen Mehrwert an Erkenntnis und Einsicht bringen, ist nicht sicher. Die speziell von Papst Franziskus geäußerte Kritik an einigen Auswüchsen des internationalen Finanzwesens mag zwar z. B. in einigen Punkten berechtigt sein, zeichnet sich aber nicht durch- gehend durch ausreichende Sachkunde aus, so dass ihr Impuls in den entscheidungsrelevanten Kreisen eher zu verpuffen scheint.[3]

So gesehen, scheint es um die Zukunftsfähigkeit der Christlichen Sozial- lehre schlecht bestellt zu sein. Wenn sie fachlich bisweilen zu kurz greift, keine neuen Impulse gibt und allenfalls bestehende Konsenspositionen bekräftigt, dann hat sie ihre frühere Rolle verloren.

Darüber hinaus wäre zu fragen, worum es genau geht: Um christliche oder um katholische Soziallehre, um nationale Gesellschaften oder um die globale Zivilgesellschaft. Ich spreche mich an dieser Stelle für den Begriff der Christlichen Soziallehre in globaler Ausrichtung aus.

Joseph Höffner ist zwar in seiner Rolle als Kardinal von Köln jüngst Gegenstand von Kontroversen geworden. Sein Werk zur christlichen Gesellschaftslehre aus dem Jahr 1962 bleibt aber ein Meilenstein in der gedanklichen Bewältigung des Zusammenbaus und Zusammenhalts moderner Gesellschaften, auch deshalb, weil Höffner Fachkunde durch eine Doppelausbildung zum Volkswirt und Theologen hatte, die selten und aufwändig darzustellen ist.[4]

Nicht nur aus ökumenischen, sondern auch aus sachlichen Erwägungen heraus halte ich die von Joseph Höffner gewählte Bezeichnung „christliche Sozialethik“ für besser als die Redeweise von katholischer Soziallehre. Denn diese ist ja nicht konfessionell gedacht, sondern um- fassend. Das drückt das Wort „katholisch“ zwar vom Wortsinn her aus, aber in vielen Fällen wird der Zusammenhang anders wahrgenommen. Auch in ökumenischer Gesinnung scheint mir der Begriff der „Christlichen Soziallehre“ sinnvoll zu sein. Er soll ja in keiner Art und Weise eine Vereinnahmung ausdrücken, sondern auf den Umstand hinweisen, dass Christinnen und Christen aller Konfessionen ein starkes Interesse an der menschlichen Gestaltung ihrer Gesellschaft haben. Anders gesagt: Konfessionelle Unterschiede zwischen protestantischer, orthodoxer und römisch-katholischer Soziallehre sind nirgendwo erkennbar. Im Gegen- teil: Gerade die Soziallehre kann aus diesem Gedanken heraus Vorreiter einer guten und gemeinsamen ökumenischen Praxis werden.

Die eher „römisch-katholische“ Konnotation der Christlichen Soziallehre hängt mit der besonderen Rolle der Päpste bei deren Ausgestaltung in den letzten rund 130 Jahren zusammen. Die Impulse der Päpste in der Tradition der Sozialenzykliken seit 1891 („Rerum Novarum“, Leo XIII.) gingen von den sozialen Problemlagen infolge der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts aus. Die 1891 erhobene Forderung nach einem Familienlohn ist bis heute relevant und – gerade auch mit Blick auf Fragen der digitalen Plattformökonomie – nicht flächendeckend umgesetzt.

Adressat der sozialethischen Überlegungen der Päpste war im Grunde von Anfang an die globale Zivilgesellschaft. Diese kann zwar ohne nationale Ausprägung nicht existieren. Der Bezugspunkt der globalen Zivilgesellschaft ist im Kontext päpstlicher Enzykliken aber nicht zuletzt Ausdruck eines universellen Geltungsanspruchs für eine umfassend gedachte Idee guter gesellschaftlicher Ordnung. Deren Umsetzung erfolgt dann je nach den besonderen Gegebenheiten eines Landes auf nationaler Ebene. Mit Christlicher Sozialethik verbunden ist dann jedoch stets die Anfrage an die „Skalierbarkeit“ einer Lösung, also die prinzipielle Übertragbarkeit von einem Land in das andere und die Ausrichtung an den definierten und bekannten Grundprinzipien wie Personalität, Subsidiarität und Solidarität.

2.    Digitale Transformation als neue Herausforderung Christlicher Soziallehre

Die aktuell stattfindende digitale Transformation stellt Umfang und Geltungsanspruch Christlicher Soziallehre noch einmal neu in Frage. Die Verlagerung großer Teile des gesellschaftlichen Lebens in digitale Räume führt ja vordergründig zu einem Relevanzverlust für nicht-digitale Zusammenhänge und Wortmeldungen. Das bisherige weitgehende Schweigen der Christlichen Soziallehre zu Fragen des digitalen Lebens verstärkt diese Art von Relevanzverlust. Denn wer sich nicht äußert, hat offenbar nichts zu sagen, so könnte argumentiert werden.

Ein Spiegel des genannten Relevanzverlustes ist allerdings auch die schwindende Resonanz der Gesellschaft insgesamt auf Wortmeldungen aus dem christlichen Raum.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich nämlich sehr wohl, dass es intensive Versuche gibt, ethische und speziell christlich motivierte Sprachfähigkeit angesichts digitaler Entwicklungen zu gewinnen. In diesem Zusammen- hang ist die EKD-Denkschrift „Freiheit digital“[5] ebenso zu nennen wie umfassendere Standortbestimmungen etwa bei Peter Kirchschläger[6] und Ulrich Hemel[7]. Soweit die Wortmeldungen solcher Autoren aufgegriffen werden, werden sie andererseits nicht mehr ohne Weiteres im Kontext Christlicher Sozialethik rezipiert.

Die Frage nach der Zukunftsfähigkeit Christlicher Soziallehre in einer digitalen Welt hat daher mehr als einen rhetorischen Charakter. Sie kann wie erläutert von der Produktions- wie von der Wahrnehmungsseite gestellt werden. So wie eine im engeren Sinn christliche Politik mehr und mehr als Epochenphänomen gilt, so könnte auch eine Christliche Sozialethik auf den Zeitraum zwischen den Enzykliken „Rerum Novarum“ (1891) und „Centesimus Annus“ (1991) eingeschränkt werden: Als Epochenphänomen zur christlich motivierten Reaktion auf das Industriezeitalter.

Die Enzykliken von Papst Franziskus zur Bewahrung der Schöpfung mit ausdrücklicher Zustimmung zu den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen (2016) hätten dann den Charakter eines Nachgesangs, vielleicht sogar eines Abgesangs. Dabei könnte angeführt werden, dass sowohl Papstworte wie die Beiträge der Fachdisziplin der Christlichen Sozialethik nicht mehr als eigene, unverwechselbare Stimme gehört werden, sondern womöglich nur zu einer selektiven Bekräftigung aktueller Forderungen im Umfeld von Klimakrise, globaler Gerechtigkeit und digitaler Transformation führen. Dann gäbe es weder eine eigene sprachliche und sachliche Betrachtung noch eine über Spezialistentum hinausgehende Rezeption von christlich-sozialethischen Positionen.[8]

Je nach Blickwinkel ließe sich diese Analyse als Erfolgs- oder als Verfallsgeschichte Christlicher Soziallehre deuten. Eine Erfolgsgeschichte wäre dann geschrieben, wenn christliche Forderungen generell von der Gesellschaft aufgegriffen würden, so dass sie nicht mehr in ihrer differentia specifica erkennbar würden. Eine Verfallsgeschichte wäre dann zu konstatieren, wenn sich die Sichtweise in den Vordergrund schiebt, es gäbe gar keine eigenständige christliche Positionierung zu Zeitfragen mehr. Mangelnde gesellschaftliche Resonanz wäre dann die unmittelbare Folge verlorengegangener Standpunktfähigkeit.

Im Gegensatz zu solchen Perspektiven soll hier die Auffassung vertreten werden, dass es sehr wohl eigenständige und resonanzwürdige christliche Inhalte zu aktuellen Zeitthemen gibt, die an die Tradition Christlicher Soziallehre anschließen, die aber auch neues Licht auf die Welt des 21. Jahrhunderts werfen. Dieser Aufgabe soll anhand der Frage nach einer humanen Gestalt digitaler Transformation nachgegangen werden. Gezeigt werden soll, dass Christliche Soziallehre dann zukunftsfähig ist, wenn sie sich sowohl auf ihre Wurzeln besinnt wie auch ausgreift auf die Bewältigung aktueller Herausforderungen.

3.    Digitale Personalität und digitale Menschenwürde: Was trägt die Christliche Soziallehre zur Bewältigung der digitalen Transformation bei? (I)

Sowohl die Soziale Marktwirtschaft wie die Christliche Soziallehre stützen sich auf die bekannten Grundpfeiler von Personalität, Subsidiarität und Solidarität. Diese Begriffe haben im Kontext der Christlichen Soziallehre einen relativ präzisen Inhalt und dienen als Referenz für die Kommentierung von konkreten Aktionen im Rahmen nationaler Gesetzgebung.

Sprachlich ist allerdings zu beobachten, dass in der heutigen Gesellschaft teilweise andere Sprachspiele und Konnotationen vorherrschen. Wer „Personalität“ sagt, rückt die Person in den Mittelpunkt und erntet dafür wenig Widerspruch. Im christlichen Sinn richtet sich Personalität auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,26) und die einzigartige, eben personale Hinwendung Gottes zum einzelnen Menschen, die ihm eine unvergleichliche Würde, aber auch konkrete Rechte verleiht. Der Mensch ist von Gott her als Person angesprochen; als Person ist er für sein Leben verantwortlich, und als Person ist er von Gott erlöst.

In einer säkularen Gesellschaft sind die spezifisch religiösen Konnotationen von Personalität in den Hintergrund gerückt oder aus dem Blickfeld verschwunden. Aufgenommen wird aber speziell der Diskurs rund um Menschenwürde und die daraus folgenden Menschenrechte. Kaum mehr bekannt ist es, dass Theologie und Kirche in gewisser Weise Stichwortgeber der Moderne in Sachen Menschenwürde und Menschenrechte waren, trotz widersprüchlicher Alltagspraxis. Sprachlich ist es daher sinnvoll, Personalität und Menschenwürde als Begriffspaar zu benennen.

Auf diesem Hintergrund scheint die oben erwähnte Forderung von Papst Leo XIII. in „Rerum Novarum“ 1891 nach einem für die gesamte Familie auskömmlichen Lohn nur noch eine historische Reminiszenz zu sein. Tatsächlich ist sie aber auch in einer Zeit des digitalen Epochenbruchs noch aktuell. Im digitalen Raum geht es etwa um Clickworker oder Day Trader in der neuen Plattformökonomie. Diese betrifft z.B. auch die Fahrer und Fahrerinnen bei Uber, die formal als „Solo-Selbstständige“ gar nicht sozialversichert sind.

Nun kann man die Forderung nach einer Versicherungspflicht für Solo-Selbstständige in Beziehung setzen mit deren „Personalität“, aber auch mit der gesetzgeberischen Aufgabe „Solidarität“. Einen ganz großen gedanklichen Mehrwert schaffen solche Zuordnungen allerdings nicht. Sozialpolitik kann, so die naheliegende Schlussfolgerung, auch ohne die Christliche Soziallehre stattfinden.

Deutlich spezifischer wird die Forderung nach Personalität und Menschenwürde im digitalen Raum. Denn hier entstehen aktuelle Fragen rund um das Handeln von Menschen und Maschinen, die prinzipiellen Charakter tragen und für die Gesellschaft der Zukunft lebensentscheidend sind. Im digitalen Raum treten Menschen überwiegend als User und Consumer auf, also als Nutzerinnen und Nutzer, Konsumentinnen und Konsumenten. Werden Menschen aber auf ihre Rolle als User reduziert, sind sie Objekte definierter kommerzieller Interessen. Sind sie aber Objekte, dann fällt es schwer, die digitale Selbstbestimmung der menschlichen Person alltagstauglich auszugestalten.

Eine naheliegende Forderung aus der Christlichen Soziallehre heraus wäre es in diesem Kontext beispielsweise, dass Firmen gesetzlich dazu verpflichtet werden, bei der Zustimmung zur Verwertung von Daten eine möglichst eng begrenzte Funktionalität als ersten Click anzubieten. Dann müsste die einzelne Person sich durch ein Programm durchklicken, um weitergehende Optionen zu eröffnen. Heute ist es umgekehrt: Mit einem einzigen, freilich bequemen Click erhalten Firmen sehr weitgehende Nutzungsrechte an unseren Daten. Nur wer die Mühe auf sich nimmt, einzelne Funktionen auszuschließen, kann „datensparsam“ leben.

Digitale Personalität kann und darf nicht nur die kommerzielle Funktion des Users umfassen. Sie sollte auch ausgreifen auf die menschliche Sozialität, die menschliche Person folglich als „Citizen“, als Bürgerin oder Bürger, verstehen. Der „Digital Citizen“ steht dann in ganz anderer Art und Weise für digitale Selbstbestimmung im öffentlichen, digitalen Raum. Er wird das Internet beispielsweise auch für seine personale Entfaltung nutzen, etwa im Rahmen von Bildung und Erziehung, politischer Meinungsbildung und kultureller Betätigung. Ein Beispiel für solche Aktivitäten ist die Internet-Enzyklopädie Wikipedia, die aus bürgerschaftlichem Engagement von Freiwilligen entstanden ist und keine eigenen kommerziellen Zwecke verfolgt.

Wenn die digitale Personalität auf den Vorrang der Person zielt, dann wirkt sie von Haus aus widerständig gegenüber den mannigfaltigen Versuchen und Versuchungen zur digitalen Vereinnahmung. Digitale Personalität lässt sich konzeptionell entfalten bis in den Raum digitaler Menschenwürde und digitaler Menschenrechte. Der „Digital Citizen“ hat dann Vorrang vor dem „Digital Consumer“, weil Selbstbestimmung über kommerzielle Aktivitäten hinausgeht. Sie umfasst umgekehrt aber auch den Schutz vor staatlichen Übergriffen und vor staatlicher Digitalkontrolle, wie sie beispielsweise in China besonders stark ausgeprägt ist.

Der Mensch ist Person, eben auch im digitalen Raum. Ziel und Maßstab digitaler Aktivität ist daher ganz am Ende kein funktionaler, politischer oder sozialer Zweck, sondern der Mensch selbst, unbeschadet aller Feinheiten der Mensch-Mensch-, Mensch-Maschine- und Maschine- Maschine-Interaktion. Aus der digitalen Personalität können wir folglich das Recht auf digitale Selbstbestimmung und auf digitale Teilhabe ableiten. Das Ziel digitaler Teilhabe in Selbstbestimmung hat dann aber unmittelbare Auswirkungen auf unser Schul- und Bildungswesen. Denn digitale Bildung in digitaler Teilhabe mit dem Ziel der „Digital Literacy“ hat das Ziel, selbst darüber zu entscheiden, was wir mit Daten tun wollen, tun können, tun sollen und tun dürfen. Diese vier Schritte sind folglich nicht durch Zufall der wesentliche Inhalt der European Data Literacy Charta von 2021.

Der zentrale Stellenwert digitaler Personalität ist gerade auf dem Hintergrund der Christlichen Soziallehre besonders hervorzuheben. Denn aufgrund der ungeheuren Wissensexplosion der Gegenwart brauchen wir als Person immer stärker eine grundlegende Orientierungskompetenz in der Welt, auch in der digitalen Welt. Wir können sonst die vielfältigen Angebote um uns herum nicht gut auswählen. Kluges Auswählen und Entscheiden ist aber Teil digitaler Orientierungskompetenz und digitaler Bildung. Das geht nur dann gut, wenn die Person im Mittelpunkt steht und eben nicht das digitale Programm oder das zweckhafte Interesse dessen, der die Programme beherrscht.

Digitale Personalität geht folglich mit einer Art von Resilienz einher, die uns überhaupt erst gut überlebensfähig in der digitalen Welt macht. Denn die Bedrohungen kommen ja von beiden Seiten: Dem Gefühl eigener Schwäche und Ohnmacht angesichts rasanter Entwicklungen und einer nachteiligen, kognitiv verengten Sicht auf den Menschen, als sei dieser nur eine defizitäre Rumpfform überlegener Künstlicher Intelligenz (KI). Gerade KI-Forscher, Informatiker und Ingenieure, die sich auf ihre professionellen Aufgaben konzentrieren, sind fasziniert von den unglaublichen Fortschritten im maschinellen Lernen (Machine Learning) und freuen sich über digitale Anwendungen, die dem Menschen in der Beherrschung spezifischer Aufgaben längst überlegen sind.[9]

Für uns als einzelne Menschen und als Gesellschaft ist dies ein Lernprozess. Wir durften und mussten lernen, dass Autos schneller fahren als Menschen laufen können. Nun dürfen und müssen wir lernen, dass kognitive Aufgaben routinierter und schneller erledigt werden können als durch Menschen. Dadurch entstehen Ängste, etwa mit Blick auf den massiven Verlust von Arbeitsplätzen.[10]

Tatsächlich zeichnen sich Menschen aber durch eine ungeheure Kreativität aus. Diese ermöglicht eine Anpassung an ihre Umwelt. Im Verhältnis zu Künstlicher Intelligenz ergeben sich daraus mehrere Schlussfolgerun- gen: Menschen unterscheiden sich von ihr durch ihr Selbstbewusstsein und ihre Vielseitigkeit. Es wäre daher problematisch, Menschen nur als kognitiv defizitär zu beschreiben.

Anthropologisch gesehen ist die Vielseitigkeit der menschlichen Anpassungsfähigkeit der Schlüssel zum Erfolg des Menschen als Spezies auf dieser Erde. Aus dem Blickwinkel der theologischen Anthropologie ist zu ergänzen, dass die Gottebenbildlichkeit als Schlüssel zur Personalität auf diesem Hintergrund nicht mehr allein von der Vernunftfähigkeit des Menschen, also der Befähigung zum Logos, gedeutet werden sollte. Vielmehr gilt es, eine dynamische Sichtweise zu entwickeln, die sowohl die Fähigkeit zur Vernunft wie die menschliche Liebes- und Beziehungsfähigkeit umfasst.

Personalität und Menschenwürde ergeben sich dann aus einer solchen gnadenhaften Verfasstheit der menschlichen Person im Spannungsfeld vernünftiger Anforderungen und situativer Beziehungsbegabung von Menschen. Digitale Menschenwürde bringt beide Seiten ins Spiel. Die Entfaltung digitaler Personalität setzt dann aber die Vermittlung einer grundlegenden Orientierungskompetenz in der digitalen Welt voraus, die als gesellschaftliche Aufgabe in Elternhaus, Schule und in der ge- samten Gesellschaft zu begreifen ist und schon von daher eine sozial- ethische Bedeutung erhält.

Mit Blick auf die Resilienz der einzelnen Person und ganzer Gesellschaf- ten erweist sich der mögliche Beitrag der Christlichen Soziallehre dann als zentral für die Ausgestaltung einer zukunftsfähigen Gesellschaft. Digitale Teilhabe und digitale Selbstbestimmung sprechen dann eben nicht für das stillschweigende Hinnehmen digitaler Staatskontrolle oder für die Ohnmacht angesichts großer Digitalkonzerne. Wir nähern uns damit dem Bereich der digitalen Subsidiarität und der digitalen Solidarität.

4.    Digitale Subsidiarität und digitale Fairness: Was trägt die Christliche Soziallehre zur Bewältigung der digitalen Transformation bei? (II)

Das Adjektiv „subisidiär“ wird zwar gelegentlich noch verwendet, aber schon das sperrige Wort „Subsidiarität“ klingt in der heutigen Zeit bereits sehr fachspezifisch. Bekannt ist es noch bei Politikerinnen und Politikern, teilweise auch in der Betriebswirtschaft. Generell geht es um das Prinzip, Entscheidungen nach Möglichkeit so weit an der Basis zu treffen wie sinnvoll möglich. In vielen Fällen geht es also um dezentrale oder zentrale Entscheidungswege, Organisationsformen, Kompetenzen und Befugnisse.

Das gilt grundsätzlich auch in der digitalen Welt, wohl aber mit einer Modifikation. Denn mit den Begriffen „zentral“ oder „dezentral“ geht ja die Frage einher, wo der richtige Ort einer Entscheidung liegt. Die Komplexität einzelner Programme und die reiche Vielfalt digitaler Möglichkeiten bringen es mit sich, dass anders als noch im letzten Jahrhundert Vorgesetzte schon längst nicht mehr im Detail beurteilen können, was ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tun und wie sie es tun. Wenn digitale Subsidiarität auf den richtigen Ort der Verantwortung zielt, dann geht es folglich um die Frage zentraler und dezentraler Entscheidungen und um das Abwägen von gestuften Entscheidungs- und Mitwirkungs- rechten in einer Organisation. Gerade weil kein Vorgesetzter heute alle Feinheiten mehr überblicken kann, ist er auf Vertrauen angewiesen. Er muss sich also insbesondere darum bemühen, im Arbeitsumfeld ein Feld des Vertrauens aufzubauen und auszugestalten.

Digitale Subsidiarität zeigt sich dann insbesondere in der Form von „digitaler Fairness“.[11] Fairness ist hier insoweit ein faszinierender Begriff, weil er unmittelbar in das Feld des Sozialen, der Reziprozität und des Miteinanders hineinragt. Niemand kann von sich alleine behaupten, er sei fair. Um ein solches Urteil zu validieren, ist jeder Mensch und jede Organisation auf das Feedback von Empfängerinnen und Empfängern im sozialen Umfeld angewiesen. Digitale Fairness hat insofern vom Grundsatz her eine sozialethische Sinnspitze: Jeder Mensch und jede Organisation kann und soll solche Aktionen in die Welt setzen, die dazu geeignet sind, wechselseitiges Vertrauen zu erzeugen, zu erhalten und zu mehren. Wer so handelt, baut an einem Raum wohlwollender Deutung des Verhaltens anderer. Das wiederum führt zu sozial günstigen und weitgehend reibungslosen Interaktionen und in der Folge zum Gefühl wechselseitiger Fairness.

Dieses Thema ist grundsätzlich nicht neu und beispielsweise bei Juristinnen und Juristen Teil von Überlegungen zu gerechter Gesetzgebung und gerechter Gesetzesanwendung durch kluge Güterabwägung. In der digitalen Welt gewinnt das Thema allerdings an Brisanz.

Dies lässt sich am Beispiel des Eigentums unserer Daten gut entfalten. Wer heute ein Auto in China verkauft, wird keinerlei Umsatz erzielen, wenn er nicht bereit ist, die Mobilitätsdaten des Fahrzeugs an die chinesischen Behörden zu übermitteln. Wer heute mit Unternehmen wie Facebook, Google, Amazon, Apple oder Microsoft umgeht, hinterlässt Datenspuren, die den einzelnen Nutzerinnen und Nutzern nicht transparent gemacht werden. Ein Gefühl von Fairness wird dadurch nicht er- zeugt, und schon jetzt entspannt sich eine lebhafte Diskussion darüber, wie eine digitale Kontrolle solcher Konzerne möglich sein soll.

Aus betriebswirtschaftlicher und sozialethischer Sicht kommt hier die Zerschlagung von Monopolen ins Spiel.[12] Zu den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft gehört schließlich namentlich der Gedanke des fairen und des freien Wettbewerbs. Monopole sind aber von Haus aus, wie es Betriebswirtschaftler formulieren, „fett, faul und gefräßig“. Sie sind „fett“, weil sie Monopolgewinne abschöpfen und zum Teil in aufgeblähten bürokratischen Organisationen versenken. Sie sind „faul“, weil sie mangels Konkurrenz den Kundennutzen nicht mehr als regulative Idee wahrnehmen. Und sie sind „gefräßig“, weil das Effizienzstreben von Unternehmen im Wettbewerb durch Monopolsituationen stark gehemmt wird. Denn zusätzliche Kosten können relativ widerstandsfrei an Kundinnen und Kunden weitergegeben werden.

Gerade die USA als ein Kernland der Marktwirtschaft haben tatsächlich immer wieder Monopole zerschlagen: bei den großen Eisenbahngesellschaften im 19. Jahrhundert, bei den reichen Ölkonzernen und den Telefongesellschaften im 20. Jahrhundert. Es ist daher an der Zeit, gerade im Rückgriff auf die leitenden Prinzipien von Sozialer Marktwirtschaft und Christlicher Sozialethik auf die Wiederherstellung digitaler Fairness zu drängen.

Dazu gehören nicht nur die Zerschlagung von Digitalkonzernen und die „datensparsame“ Konfiguration von Zustimmungserklärungen, sondern auch die transparente Kennzeichnung von KI-gestützten Formen der Interaktion. Zur digitalen Fairness gehört es folglich, dass die von Social Bots erzeugten Nachrichten als solche gekennzeichnet werden: „Diese Nachricht wurde von einem KI-gestützten Social Bot im Auftrag des Unternehmens XYZ generiert“. Bei der Zigarettenwerbung sind solche Pflichtkennzeichnungen bereits Gesetz geworden.

Es geht an dieser Stelle aber weniger um einzelne Maßnahmen. Es soll vielmehr gezeigt werden, dass sich auf der Grundlage der Christlichen Sozialethik handlungsleitende Maßnahmen für die soziale Ausgestaltung der digitalen Welt ableiten lassen. Dies aber wäre ein entscheidender Beitrag zum Nachweis ihrer Zukunftsfähigkeit.

5.    Digitale Solidarität und digitales Gemeinwohl: Was trägt die Christliche Soziallehre zur Bewältigung der digitalen Transformation bei? (III)

Der Begriff der Solidarität ist auch heute noch gängig. Häufig wird er in Verbindung mit Forderungen im Umkreis von sozialer Gerechtigkeit verwendet, gelegentlich auch mit Blick auf die eigenen Interessen und Interessengruppen. Wer Solidarität von anderen einfordert, gerät folglich leicht in den Raum der instrumentellen Verwendung sozialethischer Begriffe.

Dem inhaltlichen Sinn einer sozialethisch fundierten Forderung nach einer solidarischen Gesellschaft tut dies keinen Abbruch. Es ist schließlich offensichtlich, dass Menschen alt und krank werden können und dass sie dann Hilfe aus ihrer Solidargemeinschaft brauchen, gleich ob es sich um die Familie, eine Organisation oder um den Staat insgesamt handelt. Menschen zeichnen sich durch ihre Verletzlichkeit ebenso aus wie durch ihre Schöpferkraft.[13]

Angesichts der gravierenden Klimakrise hat sich in den letzten Jahren in der öffentlichen Diskussion deutlich stärker der Begriff des Gemeinwohls durchgesetzt. Anders als zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern sind Tarifverhandlungen mit Umwelt und Natur schlicht nicht möglich. Daraus folgt die durchaus noch offene Frage nach dem Adressaten von Gemeinwohlforderungen. Wer soll handeln – der einzelne Mensch, das Unternehmen, der nationale Gesetzgeber oder die Gemeinschaft von Staaten wie bei der UN-Klimaresolution von Paris?

Die Christliche Soziallehre konnte sich zwar seit ihren Anfängen auf den Begriff des „Bonum Commune“ als Referenzpunkt für Solidarität berufen. Mit dem Thema der „Bewahrung der Schöpfung“ liegen dann Themen aus den Bereichen Umwelt, Klima und Biodiversität durchaus nahe. In der öffentlichen Wahrnehmung hinken Kirche und Christentum den Entwicklungen in Theorie und Praxis aber auch in diesem Themenbereich eher hinterher.

Die großen Herausforderungen der digitalen Welt erfordern jedenfalls auch im Zusammenhang der weltweiten digitalen Transformation Überlegungen zu Fragen des Gemeinwohls. Wie genau soll gesellschaftliche Solidarität ausgestaltet werden? Welche Rechte zukünftiger Generationen sind zu beachten? Was ist wem zumutbar, etwa mit Blick auf die CO2-Last ganzer Länder mit all ihren unterschiedlichen Entwicklungs- ständen? Welchen Zusammenhang haben Streaming-Dienste und Cyberwährungen am wachsenden weltweiten Strombedarf?

Die Grundsätze digitalen Gemeinwohls müssen darüber hinaus auch auf das politische Feld zielen. Wie sollen digitale Menschen- und Bürgerrechte aussehen? Welche neuen internationalen Bemühungen stehen im elementaren Interesse digitalen Gemeinwohls? Zu denken ist hier beispielsweise an einen Digitalwaffensperrvertrag, der die sogenannten Killer-Drohnen weltweit ächtet, aber auch an einen Internationalen Digitalgerichtshof, vor dem jede einzelne Person gegen den Missbrauch digitaler Macht durch ihren Wohnsitzstaat klagen könnte.

Zur digitalen Solidarität auf internationaler Ebene gehören aber auch Sicherheits- und Gerechtigkeitsfragen. Cyberkriminalität ist nicht einfach Sache einzelner Staaten, sondern ist längst zum Tummelplatz international agierender Banden des organisierten Verbrechens geworden. Das Dark Net, ursprünglich ein Ort zur Kommunikation unter Kritikern staatlicher Datenüberwachung, ist inzwischen ein weltweiter Marktplatz für Drogen- und Menschenhandel, Waffenschmuggel, Prostitution und Kinderpornographie.

Nun ließe sich einwenden, dass es ja nicht der Christlichen Soziallehre bedürfe, um solche Entwicklungen kritisch zu beurteilen. Für universelle Überlegungen auf der Ebene der globalen Zivilgesellschaft reiche die UN aus, so könnte argumentiert werden. Selbst Papst Franziskus würdigt in seinen letzten Enzykliken beispielsweise die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen.

Dies ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite kommt in den Blick, wenn wir den hochgeachteten Wert der Diversität auf die Frage zur Gestaltung des guten Zusammenlebens in der globalen Zivilgesellschaft lenken. Denn die Entscheidungen und Überlegungen auf Ebene der Vereinten Nationen überdecken ja nur mühsam das Auseinanderfallen der Welt in multipolare Machtblöcke von China über Russland, von den USA bis hin zu einem widersprüchlichen Europa und einem fragmentierten Kontinent Afrika.

Außerdem fällt es den Vereinten Nationen schwer, die bedeutende Rolle von Religionen für die weltweite Entwicklung unvoreingenommen in den Blick zu nehmen. Es fällt zwar leicht, Religionen eher als Gefahr denn als Chance für den Frieden auf der Welt zu sehen. Hier genügt ein Blick auf Afghanistan 2021, Nigeria, den Jemen oder auch auf Indien unter dem hinduistischen Nationalisten Narendra Modi. Zu wenig gewürdigt wird hingegen das Friedenspotenzial von Religionen, trotz der Resolutionen des Parlaments der Weltreligionen 1993, 2013 und 2018 und trotz der Initiative „Religions for Peace“, die zuletzt 2019 in Lindau tagte und mit der UN verbunden ist.

Dass der Mensch auch im digitalen Raum eine selbstbestimmte Person ist und sein soll, ist das eine. Digitale Gerechtigkeits- und Teilhabefragen können die andere Seite beleuchten. Was heißt es aber, wenn zahlreiche Menschen in Indien ausschließlich über Facebook Zugang zur digitalen Welt haben? Und wer hat den Mut und die Autorität, das Wort gegen den Missbrauch digitaler Kommunikation durch autoritäre Staaten wie China, Russland und andere zu erheben? Gibt es nicht so etwas wie Mindeststandards digitaler Freiheit und informationeller Freizügigkeit, jenseits von Hassreden und Filterblasen? Und wie können wir weltweit digitale Bildung und Teilhabe in einer Art und Weise ermöglichen, die Menschen nicht nur als Konsumenten und Konsumentinnen, sondern auch als freie Akteurinnen und Akteure ihrer Gesellschaft befähigen und ermutigen?

Mit diesen Fragen schließt sich der Kreis. Sie sollen Impulse für eine gigantische Aufgabe zur Fortentwicklung der Christlichen Soziallehre geben. Diese kann und sollte ihr fundamentales Interesse an der ganzheitlichen Entfaltung menschlicher Personen auch in den Dienst einer differenzierten, sachlich tragfähigen, aber auch politisch wirkungsvollen Ausgestaltung digitaler Solidarität und digitalen Gemeinwohls stellen. Nur dann kann Humanität im Sinn der besten Möglichkeiten des Menschseins als Referenzpunkt, aber auch Leuchtturm für die Beurteilung digitaler Entwicklungen dienen.[14]

6.    Schluss: Der Beitrag zukunftsfähiger Soziallehre zum Zusammenhalt in einer digitalen Welt

Die Zukunftsfähigkeit christlicher Soziallehre bemisst sich nicht zuletzt an ihrer Sprachfähigkeit in der digitalen Welt. Es ist eine große Verantwortung von Kirche und Theologie, auf diesem Gebiet eigenständige Positionen im Interesse menschlicher Freiheit und gesellschaftlichen Zusammenhalts zu schaffen.

Dabei genügt weder eine rein individuelle noch eine rein nationale Betrachtung. Wer die rasante Entwicklung Künstlicher Intelligenz verfolgt, kann es nur für eine Illusion halten, moralische Verantwortung in diesem Feld einzig und allein KI-Forscherinnen und Software-Entwicklern zu übertragen. „Ethics by Design“, also die Berücksichtigung ethischer Prinzipien schon bei der Programmierung digitaler Anwendungen, ist als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu durchdenken und umzusetzen. Dabei sind alle Ebenen gefragt, von der individuellen Moral bis zur Institutionen- und Organisationsethik, von der Ebene staatlicher Gesetzgebung bis hin zu internationalen Abkommen und Konventionen.

Schon die Frage nach der Erstellung einer diskriminierungsfreien KI-basierten Anwendung ist herausfordernd. Denn maschinelles Lernen orientiert sich an vorfindbaren Daten. Enthalten diese Daten, wie es in der sozialen Realität der Fall ist, diskriminierende Elemente, dann werden diese in einem lernenden KI-System auch so eingebaut und führen womöglich zu Programmen oder Apps mit rassistischen und sexistischen Tendenzen. Da stellt sich sehr schnell die Frage nach korrigierenden Ein- griffen. Doch wer entscheidet, welche Kriterien dann gelten?

Klar ist jedenfalls, dass transparente, vielleicht auch kontroverse Diskussionen über normative Eingriffe bei der Ausgestaltung der digitalen Welt nötig sind. Dann aber werden Kriterien dafür gebraucht, wer was in welchem Umfang entscheiden darf. Hier kann die Christliche Soziallehre mit den bekannten Prinzipien von Personalität, Subsidiarität und Solidarität ihre Stimme erheben, wenn und soweit sie fachlich dazu in der Lage ist.

Grundsätzlich hat die Christliche Soziallehre folglich das Rüstzeug, um einen gewichtigen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt auch in einer immer stärker digital gestalteten Welt zu leisten. Sie braucht dafür aber auch Sachkunde, Mut und einen übergreifenden, ganzheitlichen Blick. Digitale Verantwortung ist auch eine Verantwortung von Kirchen und Religionen. Digitale Fairness ist nicht nur kommerziellen Firmen aufgegeben, sondern auch großen Institutionen, Staaten und natürlich auch Religionsgemeinschaften.

Zukunftsfähig ist die Christliche Soziallehre dann, wenn es ihr gelingt, eine funktionierende Balance zwischen den Anforderungen des guten Zusammenlebens mit dem entschiedenen Eintreten zugunsten der Würde der einzelnen Person zu finden. Digitale Souveränität und Selbstbestimmung haben ihre letzten Wurzeln in der geschöpflichen Freiheit des Menschen als Ebenbild Gottes (Gen 1,26) und damit in seiner Vernunft- und Beziehungsfähigkeit. In ihr haben sie auch ihr Ziel.

Digitale Souveränität und Selbstbestimmung in einer Welt mit dem Leitgedanken digitaler Fairness zu verteidigen, ist eine gewaltige Aufgabe. Wenn Christliche Soziallehre sich ihr stellt, hat sie Zukunft, weil sie einen erkennbaren Beitrag zum Gemeinwohl in einer immer stärker digitalen, aber hoffentlich auch etwas friedlicheren Welt leistet.


[1] Vgl. G. Dal Toso, P. Schallenberg (Hrsg.), Iustitia et Caritas. Soziallehre und Diakonie als kirchlicher Dienst an der Welt, Paderborn: Schöningh 2015.

[2] Vgl. M. Vogt, Prinzip Nachhaltigkeit. Grundlagen und zentrale Herausforderungen, Freiburg/Br.: Herder 2021.

[3] Vgl. U. Hemel, Das globale Finanzsystem zwischen Ethik, Recht und Markt. Eine Kritik des vatikanischen Finanzmarktdokuments vom 17. Mai 2018, in: Theologie der Gegenwart 63 (2020), Nr. 1, 61-73.

[4] Vgl. J. Höffner, Christliche Gesellschaftslehre. Herausgegeben, bearbeitet und ergänzt von Lothar Roos (1. Aufl. 1962), Kevelaer: Butzon & Bercker 1997.

[5] Vgl. EKD Denkschrift Freiheit Digital: Die zehn Gebote in Zeiten des digitalin Wandels, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021.

[6] Vgl. P. G. Kirchschläger, Digital Transformation and Ethics, Ethical Considerations on the Robotization and Automation of Society and the Economy and the Use of Artificial Intelligence, Baden Baden: Nomos 2021.

[7] Vgl. U. Hemel, Kritik der digitalen Vernunft. Warum Humanität der Maßstab sein muss, Freiburg/Br.: Herder 2020.

[8] Vgl. M. Vogt, Prinzip Nachhaltigkeit a.a.O.

[9] Vgl. C. Misselhorn, Grundfragen der Maschinenethik, Stuttgart: Reclam 2018.

[10] Vgl. C. B. Frey, M. A. Osborne, The Future of Employment. How Susceptible are Jobs to Computerisation, in: Technological Forecasting and Social Change 114 (2017), 254-280.

[11] Vgl. U. Hemel, Digitale Fairness und digitale Humanität – was heißt Verantwortung in der digitalen Welt?, in: R. Kahle, N. Weidtmann (Hrsg.): Verantwortung. Ein Begriff in seiner Aktualität, Paderborn: Brill/Mentis 2021 (im Druck).

[12] Vgl. U. Hemel, Kritik der digitalen Vernunft a.a.O., 221-266; zu einer kritischen Sicht auf globale finanzwirtschaftliche Zusammenhänge vgl. auch U. Hemel, Das globale Finanzsystem zwischen Ethik, Recht und Markt a.a.O., 61-73.

[13] Vgl. U. Hemel, Wirtschaftsanthropologie. Grundlegung für eine Wissenschaft vom Menschen, der wirtschaftlich handelt, in: C. Dierksmeier, U. Hemel, J. Manemann (Hrsg.): Wirtschaftsanthropologie, Baden Baden: Nomos 2015, 9-26.

[14] Vgl. U. Hemel, Kritik der digitalen Vernunft a.a.O., 329-338.


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Posted by Ulrich Hemel