Abstract [en]: People learn to relate to themselves and to their environment. Between socio-cultural environment and self-steering, individual identity evolves at the interplay of external influences and individual self-steering. Not least it is conscious or unconscious conceptions of what it means to be human that are crucial for the direction that identity formation takes. Over the years, each person develops specific cognitive, emotional, pragmatic, and communicative competences that form the great story of life over the course of a life-long learning journey.

Abstract [de]: Menschen lernen, sich zu sich selbst und zu ihrer Welt zu verhalten. In der Spannung zwischen soziokulturellem Umfeld und Selbststeuerung entfaltet sich dabei persönliche Identität in einem Wechselspiel aus äußeren Einflüssen und individueller Selbststeuerung. Entscheidend für die Richtung der Identitätsbildung sind nicht zuletzt erkannte oder unerkannte Bilder vom Menschen. Im Lauf der Jahre werden bei jeder Person spezifische kognitive, emotionale, pragmatische und kommunikative Kompetenzen entfaltet und im Rahmen einer lebenslangen Lerngeschichte zur großen Erzählung eines Lebens zusammengefügt.


April 2022

Identitätsbildung und Kompetenzentfaltung

Leben als offene Lerngeschichte

Erscheint ebenfalls im Wissenschaftlichem Sammelband des cjd – Das Bildungs- und Sozialunternehmen zum 75. Jubiläum

Inhalt

  1. Menschen im Spannungsfeld ihrer sozialen Bezüge und ihrer Selbstreflexion
  2. Die Bedeutung von Menschenbildern und von mentaler Architektur
  3. Personalität und Selbstbestimmung
  4. Die Dynamik der Identitätsbildung und der Einfluss der Selbststeuerung
  5. Persönlichkeitsbildung und Selbstentfaltung in anthropologischer Perspektive
  6. Identitätsbildung und Kompetenzentfaltung
  7. Literatur

Die Frage, wer wir sind, begleitet uns ein ganzes Leben lang. Wir werden geboren, orientieren uns in der Welt, fangen an zu laufen und zu sprechen und sind schon dann immer beides: eine einzigartige Person und ein Mensch in vielfältigen sozialen Bezügen.

Menschen sind dabei immer und grundsätzlich lernende Wesen. Wir unterscheiden uns aber darin, was wir lernen und wie wir lernen. Wir unterscheiden uns in unserer Neugier auf die Welt, in unserer Auffassungsgabe und in der Art, wie wir Informationen verarbeiten. Längst wissen wir, dass die Qualität frühkindlicher Bindungen entscheidend ist für unseren persönlichen Lernweg.

1.    Menschen im Spannungsfeld ihrer sozialen Bezüge und ihrer Selbstreflexion

Nach wie vor ist das Wort „Mama“ das erste Wort, das die meisten Menschen sprechen. Nicht das Wort „Ich“ ist das erste, sondern das Wort „Mama“. Wer „Mama“ sagt, stellt eine Beziehung her und orientiert sich an dieser Beziehung. Die eigene Mutterbeziehung kann mehr oder weniger fruchtbar, erfreulich und entspannt sein: es ist schon aufgrund vorgeburtlicher Erfahrungen die erste soziale Beziehung jedes Menschen. Das Wort „Mama“ signalisiert genau das: Wir haben ein Gegenüber, von Anfang an. Noch mehr: Dieses Gegenüber ist uns gegenüber nicht gleichgültig, sondern in emotionaler Nähe verbunden. Wenn ein Kind „Mama“ sagt, gibt es dieser Beziehung Ausdruck, gestaltet sie aber auch mit.

Menschen sind folglich Personen in emotionalen und sozialen Bezügen. Dieser Gedanke ist für jede Art der Anthropologie, des Nachdenkens über Menschen, von Bedeutung. Für Aristoteles sind wir Menschen ein „Zoon Polítikon“, ein Lebewesen mit Bezug zu einer politischen Gemeinschaft, einer Kommunität, einem sozialen Zusammenhang.

Zugleich sind wir einzelne und realisieren uns als Individuen. Das Besondere an Menschen ist dabei eine spezifische Doppelgestalt: Dass wir Individuen sind, ist eine empirische Realität. Dass wir uns dessen bewusstwerden und darüber sprechen können, ist eine zweite Ebene: Auch sie lässt sich empirisch beschreiben, wirkt aber gerade in der „Rückbezüglichkeit“ der menschlichen Bewusstseinsleistung, die einen Abstand zwischen sich selbst und der Welt setzt.

Aus dieser Differenz folgen leidvolle und freudige Erfahrungen mit sich selbst und der Welt. Die Doppelgestalt des Menschen als Individuum und als in sozialen Bezügen eingebettete Person wirkt sich auf unsere lebenslange Lerngeschichte mit uns selbst und der Welt aus. Verbunden mit der spezifisch menschlichen Sprach- und Reflexionsfähigkeit folgt aus dem Gesagten ein besonderes Weltverhältnis von Menschen.

In verschiedener Hinsicht gibt es dabei ein Kontinuum zwischen Menschen und Tieren. Aus heutiger Sicht würden wir zögern, Tieren Intelligenz abzusprechen. Harte polarisierende Unterschiede lassen sich im Grunde evolutionär nicht zweifelsfrei belegen. Und doch ist die besondere Art des Symbolverständnisses und die besondere Art der Zusammenarbeit von Menschen trotz aller Konflikte und Herausforderungen einzigartig: Tiere errichten keine Europäische Zentralbank, sie führen keine Opern auf, und sie haben keine Geschichtswissenschaft.

In einer zweiten Art und Weise ist das Weltverhältnis von Menschen einzigartig. Gerade in einer Zeit der massiven Durchdringung des Alltags mit Formen digitalen Lebens und mit Vorrichtungen Künstlicher Intelligenz wird immer wieder gefragt, wann denn die „Superintelligenz“ dem Menschen überlegen sei und die Herrschaft auf der Erde übernehme.

Wer so argumentiert, wird Opfer einer kognitiven Engführung von Menschsein. Menschen gehen nun mal in ihrer kognitiven Leistung nicht auf. Sie nutzen vielmehr ihre Denkfähigkeit zu kooperativen Zwecken, um sich durch Technik die Welt anzueignen. Das fängt mit der Beherrschung des Feuers an und hört bei Autos und Flugzeugen nicht auf. Technische Errungenschaften lassen sich in vielfacher Art und Weise als Erweiterung und Optimierung unserer Sinnesleistungen begreifen. Durch Mikroskope und Teleskope erweitern wir unsere visuellen Fähigkeiten, um nur ein Beispiel zu nennen. Kraftfahrzeuge optimieren unsere Mobilität, aber wir fühlen uns nicht dadurch bedroht, dass Autos schneller fahren als Menschen laufen.

In ähnlicher Art und Weise ist es von großer Bedeutung, den Menschen nicht als Defizitmodell Künstlicher Intelligenz zu sehen. Menschen gehen über ihre mentalen Leistungen hinaus, haben aber die Fähigkeit, sich technischer Hilfsmittel zur Verbesserung ihrer Speicher- und Erinnerungsfähigkeit, ihrer Rechenleistung und vielem mehr zu bedienen (vgl. Hemel 2021). Dass Computer und speziell Programme Künstlicher Intelligenz dem Menschen kognitiv überlegen sein können, kann zwar zunächst Ängste auslösen. Es geht auf der anderen Seite jedoch um die Aufgabe, gesellschaftliche Grenzen für den Umgang mit neuer Technik festzulegen. So wie es bei der Erfindung des Autos keine Geschwindigkeitsbegrenzungen und bei der Einführung des Autotelefons kein Verbot für das Telefonieren ohne Freisprechanlage gab, so stehen wir am Anfang des 21. Jahrhunderts vor der Aufgabe, Regeln für die digitale Souveränität von Staaten, die digitale Selbstbestimmung von Menschen und die digitale Fairness von Unternehmen und Organisationen aufzustellen.

2.    Die Bedeutung von Menschenbildern und von mentaler Architektur

Die Betrachtung von Sprach- und Reflexionsfähigkeit, von Sozialität und Symbolfähigkeit und von Unterschieden zwischen Menschen, Tieren und Künstlicher Intelligenz ist von großer Bedeutung für jede Art von Erziehung, aber auch von anderen Formen der Arbeit mit Menschen etwa im Feld der Jugendarbeit, der Sozialen Arbeit oder der Rehabilitation. Denn die Art und Weise, wie wir Menschen uns selbst betrachten, hat Rückwirkungen auf die Art und Weise unserer Beziehungsgestaltung und unseres Weltverständnisses.

Wir sind dabei niemals nur Individuen im Sinn eines heroischen „Solipsismus“, der die konkrete Person ohne ihren soziokulturellen Zusammenhang meint, verstehen zu können. Wir leben in unserer Zeit, und wir fügen uns in den sprachlichen, sozialen und kulturellen Zusammenhang unserer verschiedenen Bezugsgruppen ein. Nicht zuletzt verhalten wir uns zum Zeitgeist unserer Epoche, indem wir ihn feurig begrüßen, heftig ablehnen oder schulterzuckend zur Kenntnis nehmen.

In jedem Fall geht es dabei um komplexe Lernprozesse, bei denen wir sowohl Aufnehmende wie auch Gestaltende sind. Wir lernen, wer wir sind, indem wir uns mit anderen austauschen. So erfahren wir uns im Lauf der Zeit als männlich, weiblich oder in anderen, nicht-binären Formen. Wir lernen, dass wir der deutschen, englischen oder italienischen Sprach- und Kulturgemeinschaft angehören. Wir lernen, zu welcher Familie wir gehören, zu welcher Schulklasse und zu welchem Wohnort.

Dieses „Lernen, wer wir sind“, lässt sich als Identitätslernen begreifen. Es handelt sich um eine eigene, von anderen Lernarten abgrenzbare Kategorie des rückbezüglichen, reflexiven Lernens. Wenn man das Faktenlernen als „Lernen 1“ und das verstehende Lernen als „Lernen 2“ begreift, dann könnten wir hier vom „Lernen 3“ sprechen. Es antwortet nicht auf die Frage: Was weißt Du, sondern es eröffnet Spuren und Horizonte bei der Antwort auf die Frage: Wer bist Du?

Menschen- und Selbstbilder entstehen im Lauf unseres persönlichen Erziehungs- und Bildungsprozesses und werden auch dann wirksam, wenn wir nicht mehr ausdrücklich über sie nachdenken. So war in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts im curricularen Bildungswesen eine sehr optimistische Wissenschaftsorientierung vorherrschend, die mit der gut begründeten Ablehnung autoritärer gesellschaftlicher Verhältnisse einherging. Zur pädagogischen Übertreibung wurde dieses Denkmodell dort, wo bereits die persönliche Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden als Ausdruck autoritärer Verhältnisse gedeutet wurde oder wo Schule auf ihren „Bildungsauftrag ohne Erziehungsauftrag“ reduziert wurde.

Gesellschaftliche Menschenbilder wirken auch dann, wenn man nicht über sie nachdenkt. Sie sind vergleichbar mit Autobahnen des Denkens und beeinflussen Sprache, Handlungsweisen und übergreifende Mentalitäten. Ich habe für diese individuelle und kollektive Prägung von Denk- und Handlungsstrukturen den Begriff der „mentalen Architektur“ eingeführt (vgl. Hemel 2019b). Denn diese wiederum wirkt als Matrix für konkrete Aktionen, für alltägliches Handeln und für die spontane Beurteilung von Sachverhalten.

Pädagogisches Handeln braucht zu seiner Begründung auch Denkfiguren der geistigen Vergewisserung. Typischerweise sprechen wir heute in der psychologischen Fachliteratur von „Konstrukten“. Gemeint sind Begriffe, die einen Denk- und Handlungsraum erschließen, ohne ihrerseits bis ins letzte Detail trennscharf und empirisch begründbar zu sein. In der Persönlichkeitstheorie spielt beispielsweise der Begriff der „Selbstregulation“ heute eine besonders prominente Rolle (vgl. S. A. Meier u.a. 2022, 9).

Die Frage nach übergreifenden, pädagogisch geeigneten oder weniger geeigneten Menschenbildern geht noch über solche Konstrukte hinaus und wird von den heute wissenschaftlich Tätigen eher mit spitzen Fingern angepasst, weil es sich vermeintlich um begriffliche Spekulation handelt. Sich an solchen Spekulationen zu beteiligen, gilt im Kontext der herrschenden, oft aber verengt verstandenen empirischen Psychologie und Sozialwissenschaft jedoch als potenziell reputations- und karrierehemmend.

Der tatsächliche Effekt daraus ist jedoch die Wiederkehr des Verdrängten. Menschen erlernen, bauen und verändern ihre persönlichen Weltmodelle, eben ihre „mentale Architektur“. Ihre Selbstregulation hängt nicht nur von frühkindlich erfahrener Bindungsqualität, sondern auch von den Bewertungsmechanismen ab, die sich aus den genannten, normativ wirksamen Weltmodellen etwa mit Blick auf das Verhalten von Menschen ergibt.

In einem wissenschaftlichen Kontext, aber auch im pädagogischen und sozialethischen Alltag ist es im Sinn der Transparenz vorteilhaft und wünschenswert, die eigenen Weltmodell-Prämissen offenzulegen und damit sprach- und diskussionsfähig zu machen. Dies gilt auch für übergreifende Menschenbilder, etwa mit Blick auf die Frage der menschlichen Aggression, des abweichenden oder herausfordernden Verhaltens und vielem mehr.

Die Frage nach Menschenbildern ist daher in jeder Zeit neu aufzuwerfen und neu zu beantworten. Wir stoßen hier allerdings auf die erwähnte Grenze, weil empirische Kulturwissenschaften solche Antworten nicht geben können oder wollen. Mit ihren zeitbedingten normativen Prämissen werden sie aber dennoch wirksam. Sie sind dann der Spiegel des jeweiligen Umfelds. Sie können aber nicht als normative Instanz der Bewertung des eigenen Zeitgeistes, der eigenen erzieherischen Vorstellungen oder der eigenen Praxis gelten. Wenn aber menschliches Lernen bis hin zu persönlicher Identitätsbildung und „Person-Werdung“ nicht unreflektiert oder beliebig werden soll, lässt sich eine normative Betrachtung dessen, was Lernen bewirken soll, gar nicht vermeiden.

Entscheidend ist dabei die Bandbreite der Perspektiven, die mit normativen Einordnungen verbunden sein können. Solche theoretischen, aber auch normativ handlungsleitende Perspektiven können beobachtet, beschrieben und diskutiert werden. Sie zu verdrängen oder gar nicht zur Sprache zu bringen, ist keine Lösung, denn es ist nicht vermeidbar, in der pädagogischen Theorie und Praxis normative Modelle bewusst oder unbewusst zur Anwendung zu bringen. Und diese Aussage gilt, obwohl mit den Mitteln der Wissenschaft letztlich nicht unmittelbar entscheidbar ist, welche normative Perspektive den Vorrang verdient.

Aus diesem Dilemma gibt es keine leichten Auswege. Wir haben uns gesellschaftlich aber für eine große Bandbreite der Diversität unterschiedlicher Perspektiven und Haltungen entschieden. Für jede von ihnen gibt es begründende Argumente, aber auch Gegenstimmen. Pädagogisches, soziales und politisches Handeln findet im Spannungsfeld solch unterschiedlicher mentaler Architekturen statt.

Eine von ihnen, nämlich die besondere Sichtweise einer christlich inspirierten Anthropologie, soll im Folgenden besonders entfaltet werden.

3.    Personalität und Selbstbestimmung

Wenn wir heute von der Selbstregulation einer Person sprechen, unterscheiden wir in der Regel kognitive, die sozio-emotionale und pragmatische, also verhaltensbezogene Ausprägungen. In früherer pädagogischer Sprache hieß es Kopf, Herz und Hand. Die ungemein wichtige kommunikative Seite des Menschen wird dann der sozio-emotionalen Seite zugeordnet.

Grundlegender Ausgangspunkt des menschlichen Lernens ist das Konstrukt der Person. Diese ist Träger und Ausgangspunkt von Identität, sie ist Handlungszentrum und Steuerungseinheit für Sprache und Verhalten. Die Person ist die Voraussetzung, der Quell und der Zielpunkt menschlichen Lernens. Ohne sie hätte es weder Sinn noch Realität.

In der neueren sozialwissenschaftlichen und psychologischen Diskussion wird der Personenbegriff allerdings überwiegend vermieden. Gesprochen wird aber von der Persönlichkeit oder von Persönlichkeitsmodellen (vgl. S. A. Meier u.a. 2022, 2-24). Dass Persönlichkeit ohne den Träger der Person nicht existieren kann, wird eher stillschweigend vorausgesetzt als klar expliziert. Ähnliches gilt für den Begriff des „Selbst“. Er kommt flächendeckend vor, von der Selbstoptimierung bis zur Selbstregulation und zum Selbstbild. Die Verwurzelung eines „Selbst“ im Konstrukt der menschlichen Person wird hingegen so gut wie gar nicht adressiert.

Dabei nimmt die Bedeutung von Personalität mit Blick auf neuere digitale Entwicklungen sogar noch zu. Gerade mit Blick auf die neuen Möglichkeiten des Maschinenlernens (vgl. C. Misselhorn 2018) zeigt sich ja die Besonderheit menschlicher Personen. Sie erfahren zwar Umwelteinflüsse, werden aber nicht im strengen Sinn programmiert. Sie lassen sich über genetische Dispositionen beschreiben, gehen aber weder in der Beschreibung ihrer Erbausstattung noch in der Summe ihrer sozialisatorischen Umwelteinflüsse auf.

Personen erfahren sich vielmehr zugleich als Handlungszentrum, als selbstbestimmt, als autonom. Damit ist gemeint, dass sie in der Lage sind, eigene Handlungen zu generieren, eigenen Willensvorstellungen zu folgen und entsprechend in die Welt einzugreifen. Im Unterschied zu digitalen Programmen sind Menschen nicht nur mit „Trainingsdaten“ lernfähig, sondern sie können sozusagen Programmänderungen im laufenden Betrieb generieren. Sie wirken dann bisweilen widersprüchlich in einer Art und Weise, wie es digitale Programme nicht sind und nicht sein sollen. Auf Widersprüche hin befragt, erläutern Menschen gerne die Besonderheiten der jeweiligen Situation. Ihre Widersprüchlichkeit wird dann als situative Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an veränderte Herausforderungen verstanden.

Personalität und Selbstbestimmung gehen folglich Hand in Hand. Das spricht nicht gegen faktische, soziokulturell vermittelte oder ethisch gebotene Handlungsgrenzen. Nicht jeder, der einen verlorenen Geldschein findet, steckt ihn in die eigene Tasche. Nicht jeder, der eine Situation zu seinem eigenen Vorteil ausnutzen kann, tut es. Wir könnten hier von wertrationalen ethischen Handlungsgrenzen sprechen, denn wir unterlassen Handlungen, weil wir sie aus ethischen Erwägungen heraus für problematisch halten.

Das gilt nicht immer, und nicht jede Handlungsgrenze ist ethisch konnotiert. Wir haben physische Grenzen, etwa weil wir kleiner als andere sind und nicht ans obere Schrankregal reichen können. Wir haben soziale Handlungsgrenzen, weil wir aus unserem Umfeld Sanktionen befürchten, die wir gerne vermeiden wollen. Wir haben psychologische Handlungsgrenzen, weil wir beispielsweise unter Mängeln der Emotionskontrolle leiden und lieber mal zuschlagen, als uns verbal auseinanderzusetzen.

Trotzdem spielt die Person als Grund und Ausgangspunkt menschlichen Lernens die entscheidende Rolle. Dies gilt sogar kontrafaktisch, etwa wenn wir einer Person eine Handlung und Verantwortung über das Maß ihrer eigenen Handlungsreichweite hinaus zurechnen. Dies gilt beispielsweise im juristischen Bereich, wenn sich beim abgestellten Fahrzeug auf abschüssiger Straße die Handbremse löst und das losrollende Auto einen Gartenzaun beschädigt.

Die Zentralität der Person im sozialen Leben gilt auch für den pädagogischen Raum. Wir muten Kindern Handlungsweisen zu, von denen wir oft genug zu Unrecht annehmen, dass sie vom Kind gesteuert werden kann, etwa im Fall hyperaktiver Kinder. Zur menschlichen Lerngeschichte jeder Person gehört daher das unvermeidliche Delta zwischen Können und Wollen. Wir meinen, etwas zu können, scheitern aber in der Praxis. Oder wir können sehr wohl, finden aber für uns gute Gründe, erst gar nicht zu wollen. Zu diesen guten Gründen gehört natürlich auch die Erkenntnis von Einflussfaktoren durch Serotonin, Dopamin und Adrenalin, einfach weil die hormonelle Steuerung des Menschen durch Neurotransmitter deutlich beeinflusst wird.

Doch auch Hormone und Neurotransmitter erzählen nicht die gesamte menschliche Geschichte. Trotz aller Einflussgrößen erfahren wir uns als Menschen sehr wohl als Steuerleute in der Navigation unserer Lebensreise. Ohne den Zusammenhang von Personalität und Selbstbestimmung ergeben solche Gedanken keinen Sinn.

Da wir aber vom ersten Atemzug an auch soziale Wesen sind, können wir alle nur im Spannungsfeld von individueller Selbststeuerung und sozialer Rücksichtnahme leben. Die Ausgestaltung dieses Spannungsfeldes ist Gegenstand unterschiedlicher Vorstellungen über Erziehungsziele von und für Kinder und Jugendliche. Die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gepflegte Erforschung der Geschichte der Kindheit zeigt auf, wie unterschiedlich Gesellschaften ihren Nachwuchs auf die Anforderungen des Lebens vorbereitet haben (vgl. R. Lassahn 1983, Ph. Aries, W. Lepenies 2021, D. Franke-Meyer u. a. 2022).

Über die Zeiten und Kulturen hinweg haben sich dabei eher auf soziale Homogenität und kulturelle Anpassung abzielende und eher auf individuelle Entfaltung und freie Entwicklung ausgerichtete Modelle abgewechselt. Deutlich wird aber in allen Formen pädagogischer Praxis, dass Kinder und Jugendliche in zunehmendem Maße lernen, Verantwortung zu übernehmen und für die eigene Person einzustehen. Anders gesagt: Die Person als Handlungs- und Steuerungszentrum ist unhintergehbar.

4.    Die Dynamik der Identitätsbildung und der Einfluss der Selbststeuerung

Handeln in der Doppelstruktur zwischen individueller Autonomie und sozialem Kontext erfordert ein Steuerungsgeschehen für das komplexe Zusammenspiel aus persönlicher Gestaltung und soziokultureller Begrenzung. Eine sich bildende Persönlichkeit braucht Anleitung, Lernmodelle oder Vorbilder, aber auch Grenzsetzungen und hemmende Impulse dort, wo das Gleichgewicht zwischen Individuum und sozialer Einbindung gestört wird. Das Zusammenspiel aus fördernden und bremsenden Impulsen bildet sich im Prozess der Bildung und Erziehung im Rahmen einer konkreten Familie, einer Lerngemeinschaft wie einer Schule oder einer Jugendgruppe und der gesamten sozialen und sprachlichen Kultur einer Umgebung ab.

Der Begriff Identitätsbildung muss folglich in seiner höchst persönlichen, individuellen, aber auch im Kontext seiner sozialen Bedeutung gesehen werden. Er bezieht sich auf einen Lernprozess im „Lernen über uns selbst“, der sich auf die zunehmend größere Deutlichkeit unseres Selbstverständnisses Es gehört zu den Merkwürdigkeiten zeitgenössischer Theoriebildung in Pädagogik und Psychologie, dass das Konstrukt des Selbst zwar flächendeckend verwendet und vorausgesetzt, aber kaum einmal theoretisch reflektiert wird. Hintergrund dürfte die Sorge um eine mangelnde empirische Evidenz und die Furcht vor dem Abgleiten in metaphysische Aussagen sein. Wissenschaftstheoretisch betrachtet erinnert das Vorgehen aber ein wenig an kleine Kinder, die sich die Hand vor die Augen halten und meinen, nunmehr unsichtbar zu sein.

Tatsächlich sind normative Voraussetzungen in pädagogischen Kontexten, aber letztlich auch in der psychologischen Theoriebildung und in einer Ethik der Wissenschaften unvermeidbar, aber auch unverzichtbar. Wir können mit anderen Worten Bildungs- und Erziehungsprozesse weder handelnd bewältigen noch theoretisch bestehen, ohne Grundannahmen über Menschen zu treffen. Diese können mehr oder weniger bewusst oder reflektiert sein: Wirksam sind sie auf jeden Fall. Es ist daher im Grunde ein Gebot der wissenschaftlichen Redlichkeit, die eigenen normativen Prämissen etwa mit Blick auf pädagogische Menschenbilder offenzulegen. Denn durch Transparenz wird Diskussion, Kritik und Gegenrede ermöglicht.

Im nächsten Abschnitt sollen daher die Prozesse der Persönlichkeitsbildung und Selbstentfaltung unter einer anthropologischen Perspektive betrachtet werden.

5.    Persönlichkeitsbildung und Selbstentfaltung in anthropologischer Perspektive

Schon die Worte Persönlichkeitsbildung und Selbstentfaltung verweisen auf ein dynamisches Geschehen. Sie verweisen auf menschliche Veränderungen im Lauf einer Lebensgeschichte, und zwar speziell bezogen auf die Lernaufgaben jeder einzelnen Lebensphase, wie sie beispielsweise Erik H. Eriksson (1902-1994) meisterhaft beschrieben hatte (vgl. E. H. Erikson 1966, 55-123).

Er unterscheidet acht Phasen oder Stufen, die einzelnen Lebensaltern zugeordnet werden. Diese sollen hier nicht ausführlich erörtert, aber kurz aufgeführt werden:

  • Urvertrauen versus Ur-Misstrauen (1. Lebensjahr, Stufe 1)
  • Autonomie versus Scham und Zweifel (2.-3. Lebensjahr, Stufe 2)
  • Initiative versus Schuldgefühl (4.-5. Lebensjahr, Stufe 3)
  • Werksinn versus Minderwertigkeitsgefühl (6. Lebensjahr bis Pubertät, Stufe 4)
  • Identität versus Identitätsdiffusion (Jugendalter)
  • Intimität und Solidarität versus Isolation (frühes Erwachsenenalter)
  • Generativität versus Stagnation und Selbstabsorption (Erwachsenenalter)
  • Ich-Integrität versus Verzweiflung (reifes Erwachsenenalter).

Eriksons Bild vom Menschen entspricht in weiten Teilen dem heutigen Lebensgefühl, das die eigene Lebensreise als Abfolge von Lernschritten unter den sich wandelnden Herausforderungen der Zeit und der Lebensalter sieht. Wie jede idealtypische Konzeption, lassen sich Differenzierungen anbringen, so etwa bei der Betrachtung des Alters, das unter heutigen Verhältnissen eine Zeitspanne von rund 30 Jahren umfassen kann. Folgerichtig würde Eriksons Stufenkonzept in der Zeitspanne von den „jungen Alten“ zu den „Hochbetagten“ durchaus noch weitere Differenzierungen vertragen.

Die Aufgabe der Identitätsbildung bis hin zur reifen Ich-Identität spiegelt zugleich einen gewissen gesellschaftlichen Grundoptimismus, der stärker in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts als in die erste des 21. Jahrhunderts passt. Schon wenige Jahre später stellte das ebenfalls sehr bekannt gewordene Werk „Die Entwicklungsstufen des Selbst“ von Robert Kegan das Wechselspiel von Fortschritt und Krisen im menschlichen Leben in den Mittelpunkt seiner Erörterungen (vgl. R. Kegan 1991, Englisch: 1982). Betrachten wir Persönlichkeitsentfaltung und Selbstbildung in anthropologischer und kulturhistorischer Perspektive, dann schiebt sich aktuell durch die Corona-Krise der Jahre 2020-2022 der Aspekt der Vulnerabilität, der menschlichen Verletzlichkeit, stärker in den Vordergrund.

Mir scheint dieser Aspekt entscheidend zu sein (vgl. U. Hemel 2014, 23f.). Menschen sind grundsätzlich eingebunden in die Verheißung ihrer Schöpferkraft oder Kreativität und die Bedrohung durch ihre Verletzlichkeit. Sie brauchen Zugehörigkeit, um zu wissen, woher sie kommen und welche Referenzpunkte ihrer Identität wie Familie, Schule oder sprachliche Kultur für sie zählen. Sie wollen sich aber auch von anderen unterscheiden und einzigartig sein. Aus dem sozialen Raum von Zugehörigkeit und Unterscheidung ergeben sich Mechanismen des Miteinanders wie Kooperation und Wettbewerb, die unser Zusammenleben prägen. Bereiche wie der Sport, die Musik, aber auch die Wirtschaft zeigen ein komplexes Ineinander beider Handlungsweisen, Kooperation und Wettbewerb. Eine Fußballmannschaft kann ohne Kooperation nicht gewinnen. Zugleich stehen alle Feldspieler im Wettbewerb auch untereinander: Wer kommt zum Einsatz, wer bleibt auf der Ersatzbank sitzen?

„Referenzpunkte der Identität“ sind auch für die erzieherische Praxis von großer Bedeutung. Begrifflich wird häufig nicht trennscharf zwischen Persönlichkeitsbildung und Identitätsbildung unterschieden. Die definitorische Abgrenzung ist womöglich auch gar nicht sonderlich sinnvoll. Vielmehr handelt es sich um unterschiedliche Sprachbilder und den mit ihnen verbundenen Assoziationsräumen. „Persönlichkeit“ wirkt als Wort stärker universalisierend in einem humanistischen Bildungskontext, „Identität“ lässt die Unterschiedlichkeit von Zugehörigkeiten und damit die so wichtige soziokulturelle Differenz zwischen Menschen und pädagogischen Praktiken mitschwingen. In jeder Form von Identitätsbildung wird „Andersheit“ sozusagen schon mitgedacht, gemeinsam mit der Aufgabe, sich zur Andersheit der Anderen sinnvoll zu verhalten. Der stärker individualistisch konnotierte Begriff der „Selbstentfaltung“ stellt sich dagegen stärker in den Kontext von Bemühungen eines weitgehend autonomen Individuums, ein Optimum aus den eigenen Möglichkeiten herauszuholen.

Die individuelle, historische und soziokulturelle Bedingtheit der eigenen Lebens- und Lerngeschichte kann also ganz unterschiedlich beleuchtet werden. Dabei spielen auch wissenschaftsgeschichtliche Bedingtheiten eine nicht zu unterschätzende Rolle. So spielt beispielsweise in der christlich motivierten Erziehungspraxis nach wie vor der Begriff der „Gottebenbildlichkeit“ eine nicht zu unterschätzende Rolle (vgl. H. Schilling 1961). Ganzheitliche Persönlichkeitsbildung geht dann- so wie etwa die veröffentlichten Erziehungsgrundsätze des CJD- von religiös gedeuteten Motiven der Sinnzuschreibung aus wie folgt:

  • Du bist ein einmaliger Gedanke Gottes
  • Du bist ein einmaliges Geschöpf Gottes
  • Du bist ein einmaliges Gegenüber Gottes
  • Du bist ein einmaliges Geschenk Gottes

Die Relationalität des Menschen im Beziehungsraum zwischen Gott, Welt und Mitmensch spiegelt sich folglich in einem umfassenden Konzept erzieherischer Praxis, bei dem Bereiche des Sports und der Gesundheit, der Musik, der Politik und der Religion differenziert entfaltet werden können.

Eine anthropologische Perspektive auf die Theorie und Praxis pädagogischen Handelns kann ohne die Beobachtung höchst unterschiedlicher Erziehungspraktiken und ohne die Reflexion zugrundeliegender Formen des Welt- und Selbstverständnisses von Menschen nicht fruchtbar werden. Zur Reflexion einer solchen anthropologischen Perspektive gehören dann aber auch wissenschaftstheoretische Einordnungen. Im Rahmen einer religionslos und säkular gedachten Erziehungswissenschaft werden zugrundeliegende Menschenbilder tendenziell ausgeklammert. Folglich herrscht eher ein großes Schweigen angesichts normativer Grundlagen von Erziehung. In der empirischen Kulturwissenschaft wird die Frage nach transhistorischen und transkulturellen Universalien des Menschseins und der menschlichen Erziehung und Bildung sogar eher kritisch beleuchtet. Der Widerspruch, von „Menschen“ zu sprechen, ohne auf das Gemeinsame des Menschseins hinweisen und es beschreiben zu können, bleibt dabei aber offen.

Schließlich gilt es, die Dignität theologischer Vorannahmen zur Praxis von Bildung und Erziehung zur Sprache zu bringen. Wie genau „Gottebenbildlichkeit“ sich auf die pädagogische Praxis auswirkt, ist historisch unterschiedlich und theoretisch umstritten. Zur „guten religiösen Praxis“ (vgl. U. Hemel 2022) gehört aber auch die Einsicht, dass bis heute rund 80 % der Menschen in religiös geprägten Kontexten aufwachsen, also auch eine Erziehung und Bildung erfahren, die Gottes- und Menschenbilder in ein Verhältnis bringt. Auch diese religiös grundierten Weltmodelle wirken als Referenzpunkte von Identität und Identitätsbildung. Sie sind Teil einer geistigen und kulturellen Heimat (vgl. U. Hemel 2017) und gehen insbesondere in die konkrete Art und Weise der Entfaltung von Kompetenzen ein, die unser Leben prägen.

6.    Identitätsbildung und Kompetenzentfaltung

Leben als offene Lerngeschichte gestaltet sich im Wechselspiel soziokultureller Einflüsse und selbstbestimmten Handelns. In einer arbeitsteiligen und spezialisierten Gesellschaft zeigt sich dies in besondere Art und Weise anhand der Fähigkeiten und Fertigkeiten, Kompetenzen und Qualifikationen, die ein Mensch in seine Gesellschaft einzubringen weiß.

Menschen gehen andererseits nicht in ihren Leistungen oder in ihrem Leistungsprofil auf. Ein spezifisches Kompetenzprofil zeichnet sie aber auch dann aus, wenn sie unter bestimmten Einschränkungen leiden oder Besonderheiten ihrer Lebenssituation aufweisen.

Ausgehend von einem Kompetenzmodell, das ich 1988 in „Ziele religiöser Erziehung“ zuerst vorstellen durfte, lassen sich lebensgeschichtliche Lernprozesse auf die Kompetenzen hin befragen, die mit ihnen einhergehen (vgl. U. Hemel 1988, 531- 580). Vorausgesetzt wird dabei eine steuernde Instanz, die ich mit dem Begriff des „Inneren Selbst“ bezeichne. Hintergrund ist dabei, dass wir als Personen ja in zahlreiche soziale Kontexte eingebunden sind, die unser „äußeres Selbst“ im Rollenspiel des Lebens charakterisiert. Die Person, als die wir uns selbst empfinden, geht aber nicht vollständig in ihren Rollen auf, sondern geht darüber hinaus, „transzendiert“ diese sozusagen. Schließlich und endlich gilt es, eine weitere Facette anzusprechen: Wir können uns über uns selbst irren. Wir meinen, ein bestimmtes Berufsfeld sei unsere Leidenschaft und entdecken womöglich Jahre später, dass wir uns irren. Solche Missverständnisse der Selbstauslegung sind Teil des Lebens und sprechen dafür, das Konstrukt des „inneren Selbst“ tatsächlich als dauerhaften Person-Kern in uns selbst zu verstehen, unabhängig von äußeren Rollen und den Zufälligkeiten unseres Handelns im realen Leben.

Das innere Selbst wirkt als Treiber unserer persönlichen Kompetenzentfaltung. Dabei geht es regelmäßig um vier Dimensionen unserer inneren und äußeren Existenz:

  • Kognitives Leben
  • Affektiv-emotionales Leben
  • Kommunikatives Leben
  • Pragmatisches Leben.

Jeder Mensch entwickelt grundsätzlich all diese Dimensionen, wenn auch in unterschiedlicher Breite und Tiefe. Speziell die Berufswelt spiegelt in besonderer Weise einzelne Perspektiven.

So kombiniert der Beruf des Lehrers oder der Lehrerin idealtypisch kognitive und kommunikative Dimensionen, der des Tänzers oder der Tänzerin stärker die affektiv-emotionale Dimension, während Handwerker berufsbedingt in der pragmatischen Dimension gut zuhause sein sollten.

Für die Identitätsbildung einer jungen und nicht ganz so jungen Person ist es von großer Bedeutung, das Verhältnis von Eignung und Neigung angemessen zu bestimmen. Grundsätzlich gilt aber, dass es ein Mindestmaß an Lebenskompetenz in jeder Dimension geben muss, um alltagsfähig in einer Gesellschaft zu sein. Vom Mindestmaß zur Spitzenkompetenz ist es allerdings ein weiter Weg, etwa so wie vom Hobby-Fußballer zum Weltklassespieler.

Jeder einzelnen Dimension lassen sich pädagogische und lebenspraktische Ziele zuordnen, die wie folgt beschrieben werden können:

  • In der kognitiven Dimension geht es um Ziele des Wissens bis hin zum professionellen Verständnis und tiefen Expertenwissen
  • In der affektiv-emotionalen Dimension geht es um das Ziel der Sensibilität und Empathiefähigkeit sowohl gegenüber sich selbst wie gegenüber anderen
  • In der kommunikativen Dimension geht es um das Ziel der Sprach- und Dialogfähigkeit
  • In der pragmatischen Dimension handelt es sich um das Ziel der selbständigen Handlungsfähigkeit in situativen Kontexten und in definierten sozialen Rollen.

Wie unterschiedlich Lebensläufe und Lebensgeschichten sein können, kann jeder und jede für sich selbst ermessen. Das Mehrdimensionen-Modell der Kompetenzentfaltung und der persönlichen Identitätsbildung kann dabei mehrfachen Nutzen stiften. Es kann dazu verhelfen, die eigenen Stärken und Schwächen besser einzuschätzen, um dadurch speziell in jungen Jahren zu einem konsistenten Lebensentwurf zu gelangen. Es hat einen diagnostischen Nutzen bei der Einschätzung anderer. Und es kann hilfreich sein, wenn Problemlösungen nicht durch ein „Mehr Desselben“ in einer bestimmten Dimension, sondern nur durch einen gezielten Perspektivenwechsel, also das Handeln und Explorieren in einer anderen Dimension, erzielt werden können. So wird jemand, der sich mit einem existenziellen Problem quält und es durch Lektüre, also einer Aktivität in der kognitiven Dimension, womöglich vom „Wechsel der Dimension“ profitieren. Er oder sie könnte beispielsweise mit einer anderen Person in den Dialog treten, also die kommunikative Dimension priorisieren. Und umgekehrt: Manchmal hilft nicht das Gespräch, sondern die gezielte fachliche Vertiefung.

Identitätsbildung und Kompetenzentfaltung haben, so gesehen, auch Züge von Führung und Selbstführung. Sie verweisen auf eine dynamische Lebensgestaltung, die für Überraschungen offen ist, ohne das schon Erreichte und Erlebte gering zu schätzen. Genau das sind gute Voraussetzungen für eine pluralitätsfähige und offene Form der Identitätsbildung, wie sie für komplexe Gesellschaften im 21. Jahrhundert so bedeutend und so prägend sein werden.

7.    Fazit: Leben als offene Lerngeschichte 

Wie werden wir die, die wir sind? Diese Frage lässt sich nicht ein für allemal beantworten, sondern steht ihrerseits im Erlebnis- und Gestaltungshorizont der je eigenen Lebensgeschichte. Dabei geht es immer wieder um Abwägungen in der Balance aus Individualwohl und sozialem Kontext, anders gesagt: aus dem „Homo oeconomicus“ als Nutzenmaximierer und dem „Zoon Polítikon“ als dem nach Sinn, Gemeinschaft und sozialem Zusammenhalt strebenden Menschen.

Menschen erfahren sich dabei nicht nur als Spielball des Schicksals, sondern auch als die Steuerleute der eigenen Lebensgeschichte. Sie lernen, mit der eigenen Verletzlichkeit ebenso wie mit ihrer Kreativität oder Schöpferkraft umzugehen. Dabei sollten wir bei aller notwendigen Orientierung an empirischen Wissenschaften die Reflexion über Grundsätze und normative Prinzipien nicht vernachlässigen. Auch sie eignen sich für eine transparente, bisweilen vielleicht auch kontroverse Diskussion.

Im besten Fall gelangen wir zu einem Gefühl der Selbstwirksamkeit, das uns trotz aller Fallstricke und Versuchungen den Weg zu einem gelingenden Leben zeigt. Dieses wird typischerweise von einem begleitenden Gefühl der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns und des Sinns im eigenen Leben begleitet.

Krisen und Herausforderungen sind allerdings Teil praktisch jeder Lebensgeschichte. Zu den besonders wichtigen pädagogischen Zielen gehört dabei nicht nur die ethische Sprach- und Reflexionsfähigkeit, um die sich bietenden Herausforderungen zu verstehen und zu bewältigen. Notwendig ist vielmehr auch so etwas wie eine ethische Resilienz, verstanden als Widerstandskraft und Widerständigkeit gegenüber ethisch problematischen Herausforderungen und Versuchungen. Einfacher gesagt geht es darum, im eigenen Handeln die ethischen Handlungsgrenzen zu entdecken und mit dem schlichten „Nein, das tue ich nicht“ oder „Nein, dafür stehe ich nicht zur Verfügung“ zu quittieren.

Identitätsbildung und Kompetenzentfaltung gehen folglich Hand in Hand, auch in digitalen Zeiten (vgl. U. Hemel 2021, 139-153). Eine Gesellschaft, die digitale und nicht-digitale Bildung und Teilhabe ermöglichen will, muss sich auf den Vorrang der Person und auf die Priorität für eine Haltung des Dialogs und der Verständigung einlassen, ohne für Fragen nach der Asymmetrie von Macht und Ohnmacht blind zu werden.

Wenn wir das Leben selbst als offene Lerngeschichte betrachten, kann hier auch der Spagat zwischen einer eher individuellen und biographischen Betrachtung und gesamtgesellschaftlichen, sozialen Suchprozessen gelingen. Der besondere Reiz pädagogischer Aufgaben in den verschiedenen beruflichen und privaten Handlungsfeldern besteht nicht zuletzt darin, dies mit Blick auf den besonderen Reiz im Umgang mit jungen Menschen tagtäglich in die Praxis umzusetzen.

LITERATUR

Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit (herausgegeben von Wolf Lepenies), 20. Auflage München: dtv 2021.

Joachim Bauer, Selbststeuerung, Die Wiederentdeckung des freien Willens, 7. Auflage, München: Blessing 2015.

Erik H. Erikson, Identity and the Life Cycle, New York: International Universities Press 1959 (Deutsch: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1966), S. 55–123.

Diana Franke-Meyer, Dagmar Kasüschke, Rita Braches-Chyrek (Hrsg.), Geschichte der Pädagogik der frühen Kindheit: Vergessene Zusammenhänge, Leverkusen: Budrich 2022.

Ulrich Hemel, Ziele religiöser Erziehung, Frankfurt/M.: Peter Lang 1988.

Ulrich Hemel, Verletzlichkeit und Schöpferkraft – Menschenwürde als Grundlage der Wirtschaftsanthropologie, in: Ökumenisches Forum, Journal for Ecumenical and Patristic Studies, (Graz), 36, 2014, 23f.

Ulrich Hemel, Heimat und personale Selbstbildung, Eine pädagogische Reflexion, in: U. Hemel, J. Manemann (Hrsg.), Heimat finden – Heimat erfinden. Politisch-philosophische Reflexionen, Paderborn 2017, 157-173.

Ulrich Hemel (Hrsg.), Weltethos für das 21. Jahrhundert, Freiburg/Br.: Herder 2019a.

Ulrich Hemel, Mentale Architektur und Wirtschaftsanthropologie – eine Zukunftsaufgabe, in: S. Kiessig, M. Kühnlein (Hrsg.), Anthropologie und Spiritualität für das 21. Jahrhundert, Festschrift für Erwin Möde, Regensburg: Pustet 2019b, 335-350.

Ulrich Hemel, Kritik der digitalen Vernunft, Warum Humanität der Maßstab sein muss, Freiburg/Br.: Herder 2020.

Ulrich Hemel, Digitale Bildung und digitale Teilhabe, Eine Vision für die Zukunft pädagogischer Theorie und Praxis, in: B. v. Carlsburg, A. M. Stroß (Hrsg.): (Un)pädagogische Visionen für das 21. Jahrhundert. (Non-) Educational Visions for the 21st Century. Reihe: Baltische Studien der Erziehungs- und Sozialwissenschaft, Frankfurt u.a.: Peter Lang 2021, 139-153.

Ulrich Hemel, Vom Defizitmodell des Menschen zur digitalen Humanität, Was unterscheidet Menschen von Künstlicher Intelligenz? in: Philosophie InDebate, Forschungsinstitut für Philosophie Hannover, veröffentlicht am 19. November 2021 (online verfügbar unter: https://philosophie-indebate.de/3964/indepth-longread-vom-defizitmodell-des- menschen-zur-digitalen-humanitaet-was-unterscheidet-menschen-von-kuenstlicher-intelligenz/ Letzter Zugriff am: 7. März 2022).

Ulrich Hemel, Wie gelingt gutes Zusammenleben der Religionen? „Gute religiöse Praxis“ (SDG 18) als Ziel der globalen Zivilgesellschaft, 2022 (im Druck). 

Robert Kegan, Die Entwicklungsstufen des Selbst, Fortschritte und Krisen im menschlichen Leben, 2. Auflage, München: Peter Kindt 1991 (im Original: The Evolving Self, Harvard 1982).

Rudolf Lassahn, Pädagogische Anthropologie, Heidelberg: Quelle & Meyer 1983.

Simon A. Meier, Stephanie Kandsperger, Romuald Brunner, Peter Zimmermann, Persönlichkeitsmodelle im Kontext der Kinder- und Jugendpsychiatrie, in: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 71, Nr. 1, 2022, 2-24.

Catrin Misselhorn, Grundfragen der Maschinenethik, Stuttgart: Reclam 2019.

Hans Schilling, Bildung als Gottesbildlichkeit, Freiburg/Br.: Herder 1961.

Tatjana Schnell, Psychologie des Lebenssinns, Berlin-Heidelberg: Springer 2016.

Annette M. Stroß, Gesundheit und Bildung, Wiesbaden: Springer 2018.

Peter B. Vaill, Lernen als Lebensform, Stuttgart: Klett-Cotta 1998.


Alle Rechte vorbehalten.

Abdruck oder vergleichbare Verwendung von Arbeiten des Instituts für Sozialstrategie ist auch in Auszügen nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung gestattet.

Publikationen des IfS unterliegen einem Begutachtungsverfahren durch Fachkolleginnen- und kollegen und durch die Institutsleitung. Sie geben ausschließlich die persönliche Auffassung der Autorinnen und Autoren wieder.

Posted by Ulrich Hemel