Abstract [de]: Die politische Forderung nach der Ex-Post-Triage stellt grundlegende soziale Übereinkünfte in Frage. Es existiert weder eine Idee, wie das diskriminierungsfrei umzusetzen wäre, noch wie man die ärztliche Triageentscheidung von dem Vorwurf der vorsetzlichen Tötung befreit.


Juli 2022

Die Wissenschaft und der Tod

„Die Corona-Pandemie hat auf dramatische Weise gezeigt, wie wichtig die Fähigkeit zu wissenschaftsbasiertem ärztlichem Denken und Handeln ist. Sie hat aber auch in Teilen der Ärzteschaft problematische Defizite erkennen lassen, sowohl was den rationalen und begründeten Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen als auch deren Stellenwert für das praktische Handeln und die Kommunikation in Politik und Öffentlichkeit angeht.“[1] 

So fordert die Leopoldina mehr Wissenschaftskompetenz bei den deutschen Ärzten.

Bis 24.06.2022 durften Ärzte nicht über die Möglichkeiten der Abtreibung informieren. Erst letzten Freitag entfernte der Bundestag den Paragrafen 219a aus dem Gesetzbuch, der ärztliche Informationen zur Abtreibung verbot. Bisher konnte „jeder Troll und jeder Verschwörungstheoretiker alles Mögliche über Schwangerschaftsabbrüche verbreiten“[2], so beschreibt Marco Buschmann von der FDP das gerade beseitigte Problem. An gleichen Tag ging es auch im Supreme Court um Abtreibung und schlagartig wurde diese in vielen US-Bundesstaaten wieder illegal. Hier sind die USA und Europa in grundlegenden Fragen offensichtlich in entgegengesetzter Richtung unterwegs! Wie kann das sein, wo Wissenschaft in Europa und USA doch nach den gleichen Prinzipien funktioniert? Oder muss man vielmehr anerkennen, dass es hier gar nicht um Wissenschaft geht? 

Während bei der Abtreibung[3] und der Suizidassistenz[4] die Hürden für ärztliches Handeln manchem gar nicht hoch genug liegen können, kommen aus dem Ethikrat[5] und dem Max-Planck-Institut[6] die ausdrückliche Forderung nach einer ärztlichen Ex-Post-Triage. Das ist irritierend, denn bei der Ex-Post-Triage geht es um den formalen Auftrag an die Ärzte zur Tötung Dritter, die dazu nicht gefragt wurden. Das Bundesverfassungsgericht verbot seinerzeit den Abschuß von entführten Passagierflugzeugen. Man darf gespannt sein, wie das Urteil im Fall der Ex-Post-Triage ausfällt.

Ex-Post-Triage bedeutet, bei einem Patienten mit einer schlechteren Überlebenschance die Therapie abzubrechen, damit ein anderer mit besseren Chancen seinen Platz auf der Intensivstation bekommt. Je geringer die Vitalität und je mehr Vorerkrankungen, desto schlechter stehen die Chancen eine Ex-Post-Triage zu überleben! Wie hier Diskriminierung von Behinderung und Krankheit verhindert werden soll bleibt bisher offen. Die von der Rechtswissenschaftlerin angeführte Argumentation „Es entspricht der Grundlogik von Notfallmedizin, dass man auf wechselnde Parameter reagieren muss“[7], bezieht sich auf die Behandlung eines einzelnen Patienten. Notfallmedizin kennt keine Triage. Triage kennt nur die Katastrophenmedizin. Wenn wir über Triage sprechen, kann von einer Legitimation nur ausgegangen werden, wenn gesamtgesellschaftlich die Ressourcen erschöpft sind. Davon sind wir weit entfernt. Das wording des Triage-Dilemmas, bringt vielmehr die Ärzte, von denen die Ex-Post-Triage gefordert wird, in eine grundsätzlich aussichtslose Position.

Wie das aufgelöst werden wird, ist vorhersagbar: Intensivmediziner lieben Scores. Ich weiß das, weil ich selber mal auf einer Intensivstation Stationsarzt war. Über Scores sucht man nach Gründen für Entscheidungen, für die man keine Lösung findet. So war das in der alten, analogen Welt vor gut zwei Jahrzehnten. Es ist zu erwarten, dass bei der Ex-Post-Triage-Entscheidung Scores von einer Künstlichen Intelligenz (KI) abgelöst werden, die vorhersagt, welcher Patient die besseren Überlebenschancen hat. Das sieht aus wie eine wissenschaftliche Antwort auf eine wissenschaftliche Fragestellung. Sollte es eine KI geben, die gute Vorhersagen macht – und ich zweifele nicht daran, dass es sie geben wird – dann bleibt das Problem, dass die Vorhersage einer KI nie wissenschaftlich begründet ist. KI kommt zu Erkenntnis ohne Theorie und ohne falsifizierbare Hypothese. Insofern gründet jede KI-Prognose – auch wenn sie verwertbare Ergebnisse liefert – nicht auf Wissenschaft. KI kennt keine Kausalität, sondern nur Koinzidenz, also Muster. Auch wenn es sich dabei um eine sehr feingranulare Wiedererkennung von Mustern handelt, sind Erkenntnisse aus KI keine Wissenschaft. Dieses schmutzige Geheimnis der Digitalisierung wird immer gerne ausgeblendet. KI-Entscheidungen sind grundsätzlich nicht wissenschaftlich verstehbar! Bei der Triage wird klar: Wissenschaft ist keine Einbahnstraße! Wenn es Leben und Tod geht, hilft nur die Luhmann ́sche „Legitimation durch Verfahren“ weiter. Bei der Abtreibung ist das in hervorragender Weise gelungen. Beim assistierten Suizid ist das Parlament gerade mit drei Gesetzesentwürfen für unterschiedliche, transparente Verfahrensweisen unterwegs. Die Diskussion, ob Triage die Lösung für Ressourcenmangel sein soll, muss erst noch geführt werden.

Die Wissenschaft muss Politik und Rechtsprechung redlich darüber aufklären, dass bei der Triage keine wissenschaftliche Lösung gibt.

„Die Corona-Pandemie hat auf dramatische Weise gezeigt, wie wichtig die Fähigkeit zu wissenschaftsbasiertem […] Denken und Handeln ist. Sie hat aber auch […] problematische Defizite erkennen lassen, sowohl was den rationalen und begründeten Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen als auch deren Stellenwert für das praktische Handeln und die Kommunikation in Politik und Öffentlichkeit angeht.“[8]

Anders formuliert: Wissenschaft darf sich nicht in Stellung bringen lassen, um politische Triage-Wünsche zu legitimieren.

Denn es gilt:

„Von besonderer Bedeutung für die Wissenschaftskompetenz ist die Fähigkeit zur kritischen Reflexion der Perspektive wissenschaftlichen Denkens und Handelns im Vergleich zu anderen Sichtweisen auf das menschliche Leben. Auch die Fähigkeit, die eigene Subjektivität und Rolle zu reflektieren, ist ein Bestandteil von Wissenschaftskompetenz. Hierzu gehört die Auseinandersetzung mit Missbrauchspotenzialen sowie den Verfehlungen […] wissenschaftlichen Handelns in der Vergangenheit.“[9]

Es handelt sich hier also um einen Auftrag der Leopoldina, sowohl an die Ärzte als auch an Wissenschaft, Politik und Rechtsprechung.


[1] https://www.leopoldina.org/publikationen/detailansicht/publication/aerztliche-aus-weiter-und- fortbildung-fuer-eine-lebenslange-wissenschaftskompetenz-in-der-medizin-2022/, S. 5.

[2] „Großartiger Tag“ von Simone Kobel in Süddeutsche Zeitung vom 25./26.Juni 2022 auf Seite 7.

[3] Ebd.

[4] Ein äußerst schwieriges Thema von Angelika Slavik in Süddeutsche Zeitung vom 25./26.Juni 2022 auf Seite 7.

[5] https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-corona-krise.pdf, Seite 4.

[6] „Wir reden über ein echtes Dilemma“ Michaela Schwinn interviewte die Direktorin am Max- Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht Tatja Hörnle für die Süddeutsche Zeitung vom 23.06.2022 auf Seite 6.

[7] Ebd.

[8] https://www.leopoldina.org/publikationen/detailansicht/publication/aerztliche-aus-weiter-und-fortbildung-fuer-eine-lebenslange-wissenschaftskompetenz-in-der-medizin-2022/, S. 5.

[9] Ebd., S. 7.


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Posted by Stefan Streit