Abstract [en]: Different European societies pursue different approaches when it comes to the issue of assisted suicide. To ensure social cohesion, a solution is needed that accounts for the various conflicting positions. To achieve this, it is useful to, in turn, learn about basics of ethical argumentation and to apply these to the issue in question. It is key that no one must be forced against their will to play a part in assisted suicide, while at the same time it is incumbent that no one will face criminal charges if they choose to engage in it on personal grounds of conscience.

Abstract [de]: In der Frage nach dem Assistierten Suizid gehen die europäischen Gesellschaften höchst unterschiedliche Wege. Entscheidend für die soziale Kohäsion ist eine Lösung, die der faktischen Zerrissenheit unterschiedlicher Meinungsblöcke Rechnung trägt. Dazu wiederum ist es hilfreich, Grundbegriffe ethischer Argumentation kennen zu lernen und auf die Fragestellung anzuwenden. Entscheidend ist, dass niemand gegen seinen Willen gezwungen werden darf, an einem assistierten Suizid mitzuwirken, dass aber auch niemand strafrechtlich verfolgt wird, wenn er das aus persönlichen Gewissensgründen heraus tut.


Juli 2022

„Ich will sterben“Ethische Aspekte des assistierten Suizids

[Folien zum Vortrag]

Vortrag: BG-Klinik Tübingen, 30. Juni 2022

Inhalt

„Ich will sterben“! Wie häufig kommt das vor?

  • In den letzten vierzig Jahren hat sich die Anzahl erfolgreicher Suizide in Deutschland halbiert (1980: 18.451, 2020: 9.206 Suizide); Suizidversuche gibt es 10mal so viel.
  • Zum Vergleich: Es geht um rund 1% aller Sterbefälle, allerdings mehr als um Todesfälle im Verkehr (3200) oder durch Drogen (1500)
  • Bei 65-90% liegt nach Einschätzung von Ärzten eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung vor (z.B. Depression).
  • Neue Ausgangslage: Nach dem Urteil des BVerfG vom 26.2.2020 
    umfasst das Persönlichkeitsrecht auch das Recht auf 
    selbstbestimmtes Sterben, auch mit freiwilliger Hilfe Dritter
  • Der Gesetzgeber ist aufgefordert, den assistierten Suizid 
    neu zu regeln

Trotz veränderter Bewertung des Suizids (z.B. bei Beerdigungen) geht dieser Auftrag vielen Christinnen und Christen zu weit.

Wer hat welche ethische Verantwortung? Streitfragen rund um den assistierten Suizid

  1. Wer entscheidet?
  2. Wer ist von der Entscheidung betroffen?
  3. Wer trägt welche Verantwortung?
  4. Wen trifft welche Sanktion?
assistierter Suizid

Wie weit geht wessen Freiheit? Wie weit geht wessen Schuld?

a) Die individualethische Sichtweise

  • Freiheit und Grenzen der Freiheit
  • Verantwortung und Grenzen der Verantwortung

b) Der soziale Nahraum

  • Gewissensbildung, Gewissensblindheit, Gewissenslast
  • Schuld und Schuldgefühl, zwei ungleiche Geschwister

c) Die sozialethische Perspektive

  • Handlungsfolgen im sozialen Raum
  • Spielregeln und Freiräume, z.B. für ärztliches Personal 

d) Die Sicht der politischen Ethik

  • Gesellschaftlicher Zusammenhalt vs. Soziale Spaltung
  • Freiheitsrechte versus Missbrauch

e) Theologische, ethische und juristische Betrachtung im Spannungsfeld

Ethische Klärungen: Wer urteilt und wer entscheidet?

  1. Primärer und sekundärer Entscheidungsträger mit der Leitfrage: „Wem gehört welche Entscheidung“?
  2. Einordnung des Entscheidung in einen mentalen Rahmen mit der Leitfrage: „Welche Art von Konflikt oder Dilemma ist es?“ (–> „Framing“)
  3. Bewertung der Entscheidung nach ihrer inneren und äußeren Bedeutung: „Wie wichtig ist diese Entscheidung?“ (–> „Relevanzurteil“)
  4. Betrachtung möglicher Entscheidungswege und Auflösungen mit ihren Folgen („Güterabwägung und Folgenbeurteilung“)
  5. Situative oder vorab reflektierte Entscheidung für eine Lösung („Coping“)
  6. Ethische und rechtliche Beurteilung der Lösung inklusive möglicher Folgen (auf rechtlicher Ebene: inklusive rechtlicher Sanktionen)

Wie kann ich ethisch gut entscheiden? – Ein Modell für ethische Entscheidungsfindung

assistierter Suizid

 Was ist richtig und falsch? Die ethische Toolbox

assistierter Suizid

Philosophische Typen ethischer Entscheidungssysteme:

Immanuel Kant (1724-1804)Deontologische Ethik
+
Suche nach Allgemeingültigkeit „Maxime ist das Gesetz“Vorrang der Person („Person“ ist Selbstzweck, niemals „Zweck“)

Hoch abstraktNicht kontextfrei ableitbarSchwer zu operationalisieren
Jeremy Bentham (1748-1832)Utilitarismus
+
Das größte Glück der größten ZahlNutzenoptimierung scheint gut operationalisierbarPraxis der Güterabwägung

Kann zynisch werdenMachtfragen sind ungeklärt („Macht vor Glück“?)Definitionsprobleme von „Nutzen“ und von „kurz-, mittel-, langfristig“
Religiös oder nicht-religiös begründete Tugendethik
+
Relativ klare Normen im EinzelfallPraxisnah und alltagstauglichDurch pädagogische Praxis lehr- und lernbar

Kontextabhängig, nicht verallgemeinerbarIm Extremfall sehr individualistischUngeklärte Machtfragen („Definitionsprivileg“)
Ethik der Werte und Haltungen
+
Handlungen und Haltungen konvergierenSituative Flexibilität trotz klarer PrinzipienSuche nach angemessener Balance

Nur bedingt verallgemeinerbarWertkonflikte und Machtfragen bleiben strittig („wer bestimmt?)Historischer Wandel in der Bewertung von Werten

Der Weg der Weltethos-Werte

„Diese eine Weltgemeinschaft braucht einige verbindende und verbindliche Normen, Werte, Ideale und Ziele.“ – Hans Küng

Weltethos-Grundwerte:

  • Gewaltlosigkeit
  • Gerechtigkeit
  • Wahrhaftigkeit
  • Gleichberechtigung von Mann und Frau
  • Nachhaltigkeit: Ökologische Verantwortung 
    • das Prinzip Menschlichkeit
    • die »Goldene Regel«

Ethische Aspekte des assistierten Suizids: Die Einordnung der Problemlage („Framing“)

  1. Geht es um „Menschenwürde“ und persönliche Freiheit?
  2. Ein „Menschrecht auf assistierten Suizid“?
  3. Geht es um „Professionsethik“ und „Gewissensfreiheit“?
  4. Ein „Verstoß gegen den hippokratischen Eid“?
  5. Geht es um einen „Gesellschaftlichen Dammbruch“ und Verantwortung gesellschaftlicher Großinstanzen (Parlament, Kirchen, BVerfG)?
  6. Eine Einladung an gewerbsmäßige Suizidhilfe?
  7. Offene Dynamik gesellschaftlicher Prozesse: „Oma, wann willst Du endlich sterben?“
  8. Zugangs- und Gerechtigkeitsprobleme: „Einen anständigen Abschied kann ich mir nicht leisten“

Die Freiheit der einzelnen Person zum „selbstbestimmten Sterben“ in Pro und Contra

Die kritische SeiteDie befürwortende Seite
Freiheit ist immer auch die Freiheit andererLeben ist ein unverfügbares Geschenk GottesDer Suizidwunsch ist oft ein HilferufDer Suizidwunsch ist eine radikale HoffnungsabsageFreiheit gilt ohne EinschränkungWird das Leben zur Last, kommt der Tod als ErlösungSelbstbestimmung endet nicht an der Grenze des LebensDer Suizidwunsch akzeptiert die Endlichkeit des Lebens

Die Freiheit des Gesetzgebers und die Freiheit der handelnden Institution

Das Dilemma des GesetzgebersDas Dilemma der Einrichtungen
Gesellschaftliche Spaltung in befürwortende und kritische StimmenWürde und Respekt der Person müssen mit religiösen und weltanschaulichen Ansprüchen verbunden werdenEmpfehlung: Differenzierte RegelungenAchtung vor der Sichtweise der TrägerAchtung vor Professionsethik und vor der Gewissensfreiheit des Personals„Safe Places“: Chance und RisikoEmpfehlung: Differenzierte Regelungen

Wie können „differenzierte Regelungen“ zum assistierten Suizid aussehen?

  1. Gesellschaftliche Lernprozesse: Kein ein für allemal geltendes Gesetz! –> Gesetzesüberprüfung (Statistik, Praxisprobleme, Streitfälle) nach 3-5 Jahren
  2. Pflicht zu Gesprächs- und Hilfeangeboten und Angeboten für palliativmedizinische Betreuung –> Herausforderung: Unterschiedliche Handhabung von „Beratungspflicht“
  3. Fairness gegenüber Person und Institution –> Doppeltes Optionsrecht: Personen und Institutionen! – Verpflichtende Dokumentation aller Prozessschritte – Keine Verpflichtung zur Mitwirkung für medizinisches und pflegendes Personal: Akzeptanz für „Gewissensverweigerer“  – Verzicht auf Sanktionen für abweichende Praxis einzelner „pro und contra“
  4. Institutionelle Selbstbestimmung: Keine generelle Pflicht zum Angebot assistierten Suizids in Einrichtungen! („Opt-in“ und „Opt-out“)

Fazit: Achtung vor den Grenzen des Rechts trotz kontroverser Auffassungen

  • Aufgabe: Zusammenleben in großen Gesellschaften mit unterschiedlichen Normen, Weltanschauungen und Religionen
  • Grundprinzip: Menschenwürde- trotz des Streits der Auslegungen
  • Achtung vor den Grauzonen und Grenzen rechtlicher Regelungen, vor allem am Anfang und Ende des Lebens
  • Anwendung des ethischen Handwerkszeugs für eigene Gewissensentscheidungen
  • Bedeutung der individuellen und kollektiven Gewissensbildung: Pflicht zu Information und angemessener Entscheidungsfindung
  • Ziel: ethische Sprach- und Handlungsfähigkeit, auch im Kontext der eigenen Professionsethik!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

assistierter Suizid

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Posted by Ulrich Hemel