März 2001

Die Bedeutung des Verständnisses von Religiosität für die heutige Religionspädagogik

 

get pdf: Die Bedeutung des Verständnisses von Religiosität

 

1. Ausgangslage

Religionen haben vielfältige Wandlungsprozesses zu bestehen, wenn sie über Jahrhunderte hinweg Bedeutung für die Lebenswirklichkeit ihrer Anhänger gewinnen und erhalten wollen. Das Christentum befindet sich gegenwärtig in einer Umbruchphase, die speziell in Mitteleuropa von einer schwächer werdenden Bindung an die Kirche als Organisation und Institution geprägt ist. Dazu tragen Richtungsentscheidungen und Verhaltensweisen kirchlicher Amtsträger ebenso bei wie der säkulare Trend zu Individualisierung, auch im „Aufbau“ des eigenen Lebenslaufs. Gesucht wird nach Gemeinschaft, aber häufig ohne allzu feste Bindung. Vereinnahmung wird abgelehnt, Zugehörigkeit nach eigenen Zugangsregeln wird gesucht. Alles in allem läßt sich die Ausgangslage zugespitzt in These 1 zusammenfassen:

These 1: Patchwork-Religion folgt Patchwork-Identität.

 

2. Das Religionspädagogische Dilemma der Gegenwart

Der Begriff der Religionspädagogik selbst hat Anteil an zwei Verständigungskontexten, die mit ihm verbunden werden können: einem empirisch beschreibenden und einem normativen.

Im einen Fall geht es darum, mit wissenschaftlichen Methoden sachgemäß zu beschreiben, wie Menschen mit religiöser Erziehung und Bildung, mit religiösem Lehren und Lernen oder auch mit religiös intendierter Kommunikation umgehen. Die Tradierung religiöser Werte und Inhalte, der schulische Religionsunterricht und die pädagogische Praxis der Kirchengemeinden werden dann zum Gegenstand eines Erkenntnisprozesses, der den Regeln sozial- und erziehungswissenschaftlicher Methoden entspricht.

Es ist in diesem Zusammenhang relativ unproblematisch, sich im wissenschaftlichen Leben zurechtzufinden und zu behaupten. Noch deutlicher gesagt: Es besteht nach wie vor ein eklatanter Mangel an sachgerecht empirisch angelegten Studien zur tatsächlichen religionspädagogischen Praxis.

Schwierig ist es jedoch, von einem solchen empirischen Beobachterstatus zu einem theologisch anschlussfähigen Diskurs zu gelangen. Ein „Gegenwartsfoto“ erlaubt höchst unterschiedliche theologische Deutungen. Hermeneutische Ansätze können überspitzt gesagt- von einer „Theologie des Jammertals“ bis hin zur Interpretation der Praxis als „prophetischer Weissagung“ für die Zukunftsentwicklung von Kirche gehen. Religionspädaogisch wirkt das jedoch nur bedingt ergiebig, so dass Religionspädagogen in aller Regel allzu mutige theologische Gegenwartsdeutungen zu vermeiden pflegen.

Will man die faktische Begrenzung eines empirisch-beschreibenden Ansatzes überspringen, gelangt man unverzüglich in das Dilemma einer normativen Religionspädagogik. Diese geht dann häufig von impliziten Annahmen über die Gegenwart aus und versucht, im Sinn einer normativ intendierten Didaktik Regeln oder zumindest Hilfestellungen für christlich interessierte erzieherische Kreise auszuarbeiten. Das Dilemma besteht hier darin, dass eine solche normative christliche Didaktik – die es in Form von Erziehungsratgebern für religiöse Elternschulung und Kindergarten durchaus noch gibt- in vielen Fällen weder die eigenen theologischen Grundlagen noch die impliziten Annahmen über die Gegenwart offenlegt, so dass eine im engeren Sinn wissenschaftliche Diskussion schwer, wenn überhaupt möglich ist. Dazu kommt, dass sich solche normative christliche Didaktik faktisch an eine gesellschaftliche Minderheit wie engagiert christliche Familien, Religionslehrer, Erzieher und Erzieherinnen richtet, der Auftrag der Religionspädagogik im Allgemeinen aber umfassender wahrgenommen wird.

Da bei solcher normativer Didaktik die theologische Grundlagendiskussion selten zur Sprache kommt, ist ihr Beitrag zum Dialog der theologischen Disziplinen ver- nachlässigbar. Das religionspädagogische Dilemma läßt sich also wie folgt zuspitzen:

These 2: Deskriptiv-empirische Religionspädagogik, die Phänomene religiöser Erziehung und Bildung in der Gegenwart beschreibt, ist kein Ausweg aus der Sackgasse einer wegbröckelnden christlichen Basis in Familien, Schulen und Gemeinden.

Sie bleibt theologisch weitgehend wirkungslos, obwohl umgekehrt eine „normative christliche Didaktik“ aufgrund mangelnder theologischer Argumentationstiefe und unzureichender empirischer Fundierung keine Alternative darstellt.

 

3. Religiosität als theologischer und empirischer Ausgangspunkt der Religionspädagogik

Der Begriff der Religiosität hat eine lange und wechselvolle Geschichte, die reich an einengenden oder einseitigen Deutungen ist. Wesentlich ist, dass die Begriffe „religiös“ und „Religiosität“ sich sowohl „objektivierend“ auf das Sinnsystem der kontextuell zugeordneten „Religion“ wie auch „subjektbezogen“ auf die spirituelle Eigenart des je einzelnen, biographisch situierten Individuums beziehen lassen.

Vorteilhaft an dieser „Doppelrichtung“ ist die Chance zur kommunikativen Verbindung genuin theologischer wie auch genuin sozialwissenschaftlicher Interessen. Religiosität ist ja radikal sowohl auf das Subjekt als Träger und Gestalter der eigenen Biographie wie auch auf die einzelne menschliche Person als Zielrichtung göttlicher Menschenfreundlichkeit und – anders gewendet – als zentrale theologisch – anthropologische Stellgröße bezogen.

Religiosität bietet daher einen Anknüpfungspunkt für theologisch-anthropologische Fragestellungen wie z.B. den Sinn des Lebens, die Frage nach Unglück und Leid, nach Schuld und Erlösung, gleichermaßen aber auch für humanwissenschaftliche und individualpsychologische Erörterungen wie z.B. die empirische Betrachtung der Übernahme religiöser Wertsysteme, das Coping mit belastenden Lebenssituationen, die Alltagswirksamkeit religiöser Deutungskonstrukte etc. Religiosität wird so zur heuristischen Brückenkategorie für Forschungs- und Diskursdesigns, die sowohl theologisch wie auch sozialwissenschaftlich fruchtbringend und anschlussfähig in die jeweiligen Fachdisziplinen eingebracht werden können.

Damit gelangen wir zur These 3:

Der Begriff der Religiosität bietet die Chance, aufgrund seiner anthropologisch-theologischen wie auch sozialwissenschaftlichen Erkenntnisrichtung zu einer zentralen religionspädagogischen Kommunikationskategorie zu werden, weil unterschiedliche Fragestellungen und methodische Ansätze in multiplen Diskurskontexten anschlussfähig eingebracht werden können.

 

4. Der Begriffsinhalt von Religiosität

Je intensiver die Diskussion rund um Religiosität beginnt, umso notwendiger ist es, sich über eine Begriffsdefinition Gedanken zu machen. Dass in dieser Hinsicht die verschiedensten Akzentsetzungen möglich sind, ist Teil unserer Wissenschaftsgeschichte und unseres akademischen Selbstverständnisses.

Aus meiner Sicht entscheidend ist der Rückbezug auf die subjektive Wirklichkeitskonstruktion eines handelnden Individuums. Religiosität bedeutet dann die individuelle Ausprägung eines persönlichen Welt- und Selbstverständnisses unter Verwendung religiöser Kategorien.

Diese Begriffsdefinition ist offen für christliche, muslimische, buddhistische oder andere Formen gelebter Religiosität. Sie eignet sich aber auch für die Beschreibung synkretistischer und individueller Ausgestaltungen eines religiös motivierten Welt- und Selbstbilds. Damit wird gleichzeitig eine „Festlegung“ auf eine der prägenden Weltreligionen vermieden und die Anschlussfähigkeit für einen Diskurs im Rahmen interreligiöser Begegnung hergestellt. Außerdem entspricht es den vermuteten Interessen von Individuen, als Subjekt ihrer eigenen Biographie wahr- und ernst genommen zu werden: dem kommt der Religiositätsbegriff deutlich entgegen.

Zu ergänzen ist der vorteilhafte Umstand, dass diese Definition es offen läßt, ob jemand sein Welt- und Selbstverständnis überhaupt unter Verwendung religiöser Kategorien ausgestalten möchte. Der hier vorgeschlagene Religiositätsbegriff ermöglicht insofern auch eine individuelle Abgrenzung in dem Sinn, dass jemand von sich sagen will: „ich bin nicht religiös“.

Christlich-theologisch wiederum läßt sich argumentieren, dass Religiosität die Bedingung der Möglichkeit für einen von Gott geschenkten religiösen Glauben darstellt. Gott hat den Menschen auf Glück und Heil, nicht Unglück und Leid hin erschaffen. Gott ermöglicht dem Menschen, durch seine Offenbarung in gläubige Religionspädagogisch wiederum ist es wichtig, dass die Förderung von Religiosität nicht identisch ist und sein kann mit einer platten „Glaubensvermittlung“. Glaube ist ein Geschenk, das erhofft, aber nicht pädagogisch bewirkt werden kann. An der Entwicklung von Religiosität im Kontext einer gegebenen Glaubensgemeinschaft zu arbeiten, ist legitimer Ausdruck eigener pädagogischer und theologischer Überzeugungen, gerade weil dem jungen Menschen die Freiheit zu seinem eigenen religiösen Weltentwurf, zu seiner eigenen, durchaus subjektiven Religiosität bleibt.

These 4 wiederholt daher noch einmal den wesentlichen Begriffsinhalt von Religiosität:

These 4: Religiosität wird hier verstanden als die jedem Menschen potentiell mögliche, individuelle Ausprägung eines persönlichen Welt- und Selbstverständ- nisses unter Verwendung religiöser Kategorien, die meist im Kontext der umge- benden religiösen Kultur steht.

 

5. Die Gesellschaftliche Relevanz von Religiosität

Auf der einen Seite ist Religiosität in dem Ausmaß gesellschaftlich relevant, wie sich Menschen als religiös verstehen. In geschlossenen religiösen Milieus wie z.B. in der islamischen Gesellschaft Saudi-Arabiens oder in Sekten wie z.B. den Zeugen Jehovas wirkt es wie selbstverständlich, die eigene stilbildende Form von Religiosität als normativ anzusehen. In den pluralistischen westlichen Gesellschaften hingegen leben vielfältige Religionen und religiöse Lebensstile miteinander und nebeneinander. Insofern wird die gesellschaftliche Relevanz von Religiosität nicht nur von der empirischen „Massenhaftigkeit religiöser Phänomene“, sondern auch vom politischen Interesse eines friedlichen Zusammenlebens von Angehörigen unterschiedlicher Religionen, Konfessionen und religiöser Lebensstile bestimmt.

In einer religiös pluralistischen Gesellschaft stellt insoweit „religiöse Toleranz“ ein wesentliches Ziel jeder Art von Erziehung und Bildung dar.

Nun erlaubt gerade die Förderung von Religiosität mit dem Globalziel „religiöse Kompetenz“ im Sinn von individueller Urteils- und Handlungs- oder Entscheidungsfähigkeit in religiösen Angelegenheiten einen idealen Hintergrund für die Herleitung von Zielen wie gesellschaftliche und religiöse Toleranz. Auch für die gesellschaftliche Legitimierung schulischen Religionsunterrichts bietet die Zielrichtung „religiöse Toleranz“ auf dem Hintergrund der Förderung individueller Religiosität einen konsensfähigen Hintergrund.

Nicht zu vernachlässige ist hierbei auch der theologische Rahmen, der religiöse Toleranz mit der Anerkennung der unbedingten, in der uns geschenkten Gottebenbildlichkeit wurzelnden Menschenwürde jedes einzelnen Menschen verbindet.

Dies führt zur fünften These:

These 5: Die gesellschaftliche Relevanz der Förderung von Religiosität, d.h. von religionspädagogischer Praxis, besteht in ihrem Beitrag zur Zielsetzung gesellschaftlicher und religiöser Toleranz. Dabei wird vorausgesetzt, dass religiöse Erziehung mit dem Globalziel religiöser Kompetenz ohne Eintreten für religiöse Toleranz unglaubwürdig und kontraproduktiv würde, d.h. also nur im Sinn religiöser Toleranz glaubwürdig und individuell sowie gesellschaftlich fruchtbar umgesetzt werden kann.

 

6. Religiosität und ganzheitliche Erziehungskonzepte

Auch erziehungswissenschaftlich erweist sich der Begriff der Religiosität als anschlussfähig, weil das erziehungswissenschaftliche Generalinteresse an ganzheitlicher Förderung junger Menschen genau dann mit religiöser Erziehung kompatibel sein wird, wenn diese einen positiven Beitrag zur Persönlichkeitsentfaltung der dem einzelnen Erzieher anvertrauten jungen Menschen erbringen kann.

Unter rein pädagogischem Blickwinkel ist es sicherlich nicht entscheidend, ob religiöse Erziehung theologisch vom Konzept einer „Diakonie durch Bildung und Erziehung“ oder eher von einem kerygmatisch-katechetischen Ausgangspunkt erfolgt. Die Motive der religionspädagogisch Handelnden führen nämlich im positiven Fall doch zu einer gemeinsam getragenen Wirkung im Sinn von Persönlichkeitsentfaltung in kommunikativer, inhaltlich-kognitiver, affektiver und handlungsleitender Hinsicht. Erziehung zu religiöser Kompetenz erweist sich in diesem Zusammenhang als Baustein eines ganzheitlichen Erziehungskonzepts überhaupt- auch wenn die erziehungswissenschaftliche Diskussion zu den Inhalten religiöser Erziehung im engeren Sinn womöglich keinen eigenen Beitrag zu leisten wünschte.

Hilfreich kann im Kontext der Synergie zwischen pädagogischer und religionspädagogischer Wirkmöglichkeit der Rückgriff auf einen Modell der „Dimensionen von Religiosität“ (U. Hemel) sein. Die Entfaltung der Dimension von religiöser Sensibilität, Inhaltlichkeit, Kommunikation und von religiösem Ausdrucksverhalten wird nämlich stets auch zu einer „allgemeinen“ Entfaltung von Sensibilität und Wahrnehmungsschulung, kognitiver Differenzierung, Kommunikationskompetenz und Handlungsrepertoires führen, die erzieherisch gewollt und sinnvoll sein werden.

Damit lautet These 6 wie folgt:

These 6: Religiöse Erziehung im Sinn der Förderung von Religiosität leistet einen Beitrag zu ganzheitlicher Erziehungspraxis, weil die Förderung wesentlicher Dimensionen der menschlichen Persönlichkeit wie Kommunikationsverhalten, kognitive Entwicklung, Wahrnehmungs- oder Sinnenschulung ebenso wie Handlungskompetenz mit der Entfaltung religiöser Kompetenz und subjektiver Religiosität begleitend einhergehen.

 

7. Die heuristische und hermeneutische Vitalität von Religiosität

Die konkrete religionspädagogische Förderung von Religiosität ist in kulturelle, zeitbedingte, theologische aber auch lebensstilprägende Kontexte eingebunden, die große Auslegungsspielräume ermöglichen.

„Religiöse Kompetenz“ und „Förderung von Religiosität“ sind im islamischen, calvinistischen oder mitteleuropäisch-katholischen Kulturraum inhaltlich, methodisch und praktisch unterschiedlich gefüllt. Dennoch kann man vom anthropologischen Grundsatz her von einer „Kompatibilität religionspädagogischer Praxis“ trotz unterschiedlicher Kontexte ausgehen.

Gerade diese Vielfalt religionspädagogischer Praxis erweist sich als heuristisch, didaktisch und hermeneutisch fruchtbar. Sie läßt nämlich Raum für höchst unterschiedliche, differenzierte Fragerichtungen und Erkenntnisinteressen. Themen vergleichender und historischer Religionspädagogik kommen ebenso wie empirische Studien, theologisch-anthropologische Reflexionen, didaktische Untersuchungen, ja sogar humanbiologische und erkenntnistheoretische Zielsetzungen zu ihrem Recht.

Damit gelangen wir zur zentralen, pragmatisch gemeinten und hoffentlich erkenntnisfördernd wirksamen These 7:

These 7: Die zentrale religionspädagogische Kommunikationskategorie „Religiosität“ ist als Einladung zu lebhafter Diskursfreude und hermeneutischer Vitalität im Umfeld des Religiositätsbegriffs zu verstehen.

In diesem Sinn freue ich mich auf einen fruchtbaren Fortgang der religionspädagogischen Diskussion.

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Posted by Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel

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