Abstract [en]: Leadership in the case of a crisis demands special competences: First of all, one has to notice the crisis with all its causes and to recognize it as such. To escape the crisis, clear orientation, vigorous action, and a successful transfer to a normal work life are necessary. This can be translated from single businesses into the international economy: Since the beginning of the global economic crisis in 2008, we are still in a stadium of powerlessness and disorientation. A fundamental business anthropology could put things right: It recognizes a human being as an individual in between competition and cooperation. Based on that, an adequate strategy for successful business activity can be developed.

Abstract [de]: Führen in der Krise erfordert besondere Kompetenzen: Zunächst muss die Krise mitsamt ihren Ursachen erst einmal wahrgenommen und als solche erkannt werden. Für ein Entkommen aus der Krise sind eine klare Orientierung, energisches Handeln und ein erfolgreicher Übergang in den Arbeitsalltag von Nöten. Dies lässt sich aus der Unternehmenswelt auch auf das internationale Wirtschaftsgeschehen übertragen: So befinden wir uns seit Beginn der Weltwirtschaftskrise 2008 immer noch in einem Stadium der Ohnmacht und Orientierungslosigkeit. Abhilfe schaffen kann hier eine grundlegende Wirtschaftsanthropologie, die den Menschen als Individuum zwischen Wettbewerb und Kooperation erkennt und darauf aufbauend eine geeignete Strategie für erfolgreiches Wirtschaften entwickeln kann.


Juni 2010

Führen in der Krise

Und die Balance von „Wettbewerb“ und „Kooperation“ in Wirtschaft und Gesellschaft

Führen kann als ergebnisbewusste Dienstleistung verstanden werden und ist dort unvermeidlich, wo eine soziale Institution Ziele zu erreichen sucht. Dies ist nicht nur im Bereich der Wirtschaft der Fall, sondern auch in Kirche, Wissenschaft und Gesellschaft der Fall.

Die Phänomenologie von Führung hängt zum einen von der Art einer sozialen Institution ab, zum anderen vom gegebenen Führungs- und Machtkontext, drittens von der oder den verantwortlichen Personen, dem Führungsteam und- sofern gegeben- ihrem Vorsitzenden.

Schon in normalen Zeiten ist Führung anspruchsvoll, und es kommt häufig vor, dass mit Führung betraute Personen gar keine klare Vorstellung und keine hinreichende Vorbereitung für ihre Führungsaufgabe haben. In Krisenzeiten spitzt sich die Führungsaufgabe dramatisch zu, bis hin zur Gefahr der Katastrophe, etwa beim Untergang einer sozialen Institution wie etwa der Insolvenz eines Unternehmens oder dem Zusammenbruch einer Bank, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Das Thema „Führen in der Krise“ beleuchtet einen Aspekt, der über Alltagshandeln hinaus geht und der in vielen Fällen zum Anlass für besondere Formen des Versagens, der Durchschnittlichkeit, aber auch des heldenhaften Einsatzes wird.

Im Folgenden beleuchte ich einige Beispiele für „Führen in der Krise“ im betrieblichen Umfeld. Daraus erhellt eine grundlegende Phänomenologie unternehmerischer Krisen und ihrer Bewältigung. Abschließend folgt ein Ausblick auf die gegenwärtige Wirtschaftskrise unter dem Aspekt eines geeigneten Menschenbilds, bei dem es auf die Balance von Wettbewerb und Kooperation ankommen wird.

Kehren wir zurück zu unternehmerischen und politischen Krisen, lässt sich eine interessante sozialpsychologische Beobachtung formulieren: Die positive oder negative Bewertung von Verhalten in der Krise lässt immer wieder danach fragen, nach welchen Maßstäben geurteilt wird, wem ein Urteil zusteht und wie verantwortlich Menschen mit öffentlichen oder privaten Urteilen umgehen, ja noch mehr: welche Interessen sie verfolgen, wenn sie in einer bestimmten Art und Weise und nicht gerade anders urteilen.

Analysiert man Interessen, dann lernt man, Urteile anderer vorwegzunehmen. Dies wiederum bedeutet, dass in nicht wenigen Fällen der Kampf um die öffentliche Vormacht von Interessen zum entscheidenden Feld dafür wird, wie selbst kritische Situationen tatsächlich bewertet werden.

Führen in der Krise am Beispiel von Wirtschaftsunternehmen (I): Wahrnehmungshürden vor der Krise

Unternehmen eignen sich besonders gut für die Frage nach einer Phänomenologie des Führens in der Krise, weil unternehmerische Krisen zum Alltag des gesellschaftlichen Lebens gehören und in großer Zahl beobachtet werden können.

Das erste Problem jeder Krise ist ihre Wahrnehmung. Schließlich gilt es, normale Schwierigkeiten des Geschäftsgangs von einer Gesamtsituation abzugrenzen, die mit gutem Recht als „Krise“ bezeichnet werden kann. Der Verlust einzelner Kunden ist noch keine Unternehmenskrise, aber wenn es über Jahre zu einer schleichenden Erosion des Kundenvertrauens kommt, kommt es irgendwann eben doch zu einer Kettenreaktion, und die Krise ist da.

Nur bedarf es eines gewissen Mutes, eine Krise auch einzugestehen. So hatte ich vor Jahren einen großen Konzern zu beraten. Auftraggeber war bei einem anfänglich eher unwilligen Vorstand der Aufsichtsrat. Das Unternehmen lebte von der Substanz und deckte seine Kosten nicht mehr. Schon einige Jahre hintereinander waren Verluste aufgetreten, was jedoch nicht zu einer Änderung in der Kostensituation und im Investitionsverhalten des Unternehmens geführt hatte. Ich sprach daraufhin mit dem Finanzvorstand darüber, dass nun eine Sanierung notwendig sei. Dieser war ganz entrüstet und wies das schreckliche Wort „Sanierung“ nachdrücklich zurück. „Es mag ja sein, dass wir Ergebnisverbesserungsprobleme haben, aber wir sind doch kein Sanierungsfall!“ – so äußerte er sich. Der Vorstandsvorsitzende wiederum, von Haus aus Maschinenbauer, vertraute in Zahlenfragen seinem Finanzchef. Der Personalchef kümmerte sich um Zielvereinbarungssysteme, der Produktions- und Technologiechef um Fabriken, Produktionsverfahren, Investitionen und Technologien. So befand sich das Führungsteam für über 10.000 Mitarbeiter in einer harmonischen Alltagshaltung, die sich als Problemblindheit herausstellte. Der Führungsimpuls kam in diesem Fall über den neu bestellten Aufsichtsratschef, der mit der Leistung des Unternehmens unzufrieden war und ein Beratungsunternehmen zur Prüfung anheuerte.

Nicht überall kommt es zu einer solchen extremen Problemblindheit, aber es ist typisch und in einem gewissen Ausmaß auch sachgerecht, dass es eine Wahrnehmungshürde gibt, bevor ein Führungsteam dazu in der Lage ist, eine Situation als „Krise“ zu definieren. Es ist in aller Regel leichter, Krisenphänomene als isolierte Erscheinungen zu betrachten statt sie in das Gesamtbild „Krise“ einzuordnen. Der soziale Mut, eine Krise wirklich „Krise“ zu nennen, kann Karrieren hemmen und im Einzelfall sogar den Job kosten.

Führen in der Krise am Beispiel von Wirtschaftsunternehmen (II): Ursachensuche und Krisendeutung

Ist eine Krise da, stellt sich grundsätzlich die Machtfrage anders und neu. In einem Unternehmen geht es, wie in anderen Bereichen der Gesellschaft, u.a. um Einfluss und Macht. Krisensituationen bilden hier keine Ausnahme. So schwierig es ist, eine Krise einzuräumen, so sehr verliert eine Führungsperson an Macht und Einfluss, wenn sie den richtigen Zeitpunkt zum Handeln verpasst. Dass in einer Krise energisch zu handeln ist, gehört zu den Allgemeinplätzen nicht nur des Wirtschaftslebens. Sind in einem Unternehmen die Machtverhältnisse unklar, verschärft sich in einer Krise regelmäßig der interne Machtkampf, manchmal bis zum Untergang des Unternehmens.

Zum einen wird es immer eine Fraktion der Besserwisser geben, d.h. Menschen, die sich ohne selbst handeln zu wollen oder zu können- in großer Geschwindigkeit auf rhetorische Chancen besinnen, die sich aus der Krise heraus ergeben. Sie sind dem Chor in der griechischen Tragödie vergleichbar, denn sie handeln nicht, schaffen aber emotionale Tonalitäten, die auf das Machtgefüge in einem Unternehmen Einfluss nehmen.

Eine Krise wird spätestens dann wahrgenommen, wenn ihre Auswirkungen nicht mehr zu übersehen sind. Spätestens wenn Korruptionsfälle zu Strafandrohungen durch die amerikanische Börsenaufsicht und vielleicht zum Ausschluss von öffentlichen Ausschreibungen führt, ist auch für einen Konzern wie Siemens der Moment gekommen, nicht mehr von bedauerlichen Einzelfällen zu sprechen, sondern sich dem Thema unter dem Vorzeichen einer Unternehmenskrise zu widmen. In der Folge führte dies zu einem schwindenden Rückhalt für den damaligen Vorstandsvorsitzenden Klaus Kleinfeld, obwohl dieser erst seit kurzem im Amt war, also eher unter Erblasten als unter eigenem Fehlverhalten zu leiden hatte.

Die Suche nach einem Sündenbock geht auf eine Praxis der Israeliten im Alten Testament zurück, die einem Bock ein Bündel aufbanden, das alles Negative, alles Unglück und alle Missetaten symbolisieren sollte. Dieser Bock wurde dann im wörtlichen Sinn in die Wüste geschickt- ein in anderer Weise immer noch praktiziertes kollektives Reinigungsritual.

Da Menschen in Unternehmen- wie auch in anderen Bereichen- auf ihr eigenes Interesse zu achten pflegen, wird jede nicht mehr zu leugnende Krise auf Chancen und Gefahren für die eigene Position analysiert. Da Krisen in aller Regel nicht über Nacht entstehen, geht es regelmäßig um Fragen der Ursachenzurechnung zwischen Vorgängern und Nachfolgern. Fairness ist in solchen Situationen die Ausnahme, denn diese ist zwar ethisch sinnvoll, aber nur dort im äußeren Sinne erfolgreich, wo eine Machtposition schon sehr gefestigt ist. Eine differenzierte Analyse von Ursachen und Handlungsanteilen kann dann wie eine intellektuelle Spielerei wirken. Gefragt ist hingegen schnelles und entschiedenes Handeln.

Wer in solchen Situationen auf einfache und schlagkräftige Kommunikation setzt, hat gute Chancen, die Oberhand zu gewinnen. „Porsche geht es schlecht, weil Herr Wiedeking sich verzockt hat“ (Sommer 2009) oder „Der geniale Stratege Wiedeking hat einen zahlungskräftigen arabischen Investor gefunden!“ (Sommer 2009): Wem es gelingt, Deutungshoheit in der Krise zu gewinnen, der festigt seine Position und setzt eigene Interessen durch. Anschließend wird die Geschichte – wie immer- aus der Brille der siegreichen Fraktion geschrieben. Fakten und Differenzierungen bleiben dabei nicht selten auf der Strecke.

Wer auf die Deutungshoheit in der Krise verzichtet, verliert folglich Macht und Einfluss. Die Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz hatte zweifellos Macht in ihrem Unternehmen, übte aber keine wirksame Kontrolle aus, sondern vertraute ihren Managern. Spät gestand sie ein, dass diese eher an Finanzkennzahlen als an einer erfolgreichen strategischen Ausrichtung gearbeitet hatten, etwa dem Trend zum Versandhandel per Internet. Da war das Unternehmen aber schon in der Insolvenz: Ihr Verzicht auf Führung hatte den Verlust von Geld, Macht, Einfluss und Reputation zur Folge.

Führen in der Krise am Beispiel von Wirtschaftsunternehmen (III): Orientierungskompetenz und Handlungsfreude

Es kommt für eine Führungsperson allerdings nicht nur darauf an, bei der Ursachensuche das negative Roulette zu vermeiden, bei dem die schwarze Kugel der Schuldzuschreibung bei ihr selbst hängen bleibt, sondern es geht auch um energisches Handeln.

Dabei gilt- ähnlich wie in der Physik- die Beobachtung, dass in Grenzsituationen alte Spielregeln nicht mehr ungebrochen wirksam sind. Beim Übergang von Wasser in Eis oder in Wasserdampf ändern sich Aggregatzustände. Beim Übergang vom Unternehmensalltag in eine Unternehmenskrise ändern sich Handlungsgrenzen. Beim oben erwähnten Industriekonzern verfügte der Aufsichtsrat faktisch eine Kontrolle des Vorstands durch das hinzugezogene Beratungsteam. Aktienrechtlich ist ein solcher Vorgang weder möglich noch vorgesehen. Faktisch aber hatte der Aufsichtsratsvorsitzende im genannten Fall die Macht, übliche Spielregeln außer Kraft zu setzen- was übrigens letztendlich zum Überleben des Unternehmens geführt hat.

Die Führungsaufgabe in der Krise weist, so gesehen, eine Reihe von Besonderheiten auf. Wird nämlich nicht der Eindruck energischen Handelns erweckt, folgt eine soziale Kettenreaktion nach dem Motto: „Rette sich, wer kann!“. Die besten Mitarbeiter bewerben sich beim Wettbewerb. Lieferanten liefern nur noch gegen Vorauskasse. Banken kürzen Kreditlinien oder stellen Kredite fällig. Aktionäre verkaufen die Aktien, so dass das Unternehmen bei sinkendem Aktienkurs noch stärker ins Trudeln gerät. Kunden springen ab, weil sie befürchten müssen, dass das Unternehmen langfristig keinen Bestand hat. Aufsichtsräte und Vorstände wollen ihre eigene Haut retten, bestellen Gutachten und vielleicht auch Gegengutachten. Mitarbeiter sind dem Treiben aus ihrem eigenen Erleben heraus ohnmächtig ausgeliefert und sind vielleicht auch dort nicht mehr voll bei der Sache, wo es auf ihren eigenen Beitrag zum Wohl des Unternehmens wirklich ankommen würde.

Was hier beschrieben wird, lässt sich auch als Abwärtsspirale des Vertrauens bezeichnen. Die konkreten Erscheinungsformen wechseln, aber am Ende erlebt die staunende Umwelt ein Bild des Zerfalls und der Uneinigkeit. Um sich gegen eine solche Entwicklung zu stemmen, suchen Aufsichtsräte ihr Heil häufig in der Präsentation eines mit magischen Kräften ausgestatteten Retters.

Solche magischen Kräfte gibt es zwar nicht. Die Symbolkraft einer neuen Person an der Spitze eines Unternehmens kann aber tatsächlich sehr schnell die Wahrnehmung der Öffentlichkeit und des gesamten Umfelds verändern- man vergleiche hier beispielsweise aus dem politischen Raum das Bild der USA unter George Bush und unter Barack Obama. 

Wenn jemand die Chance nutzt, die in einem krisenhaften Anfang liegt, eröffnet er sich ein weites Feld. Dazu benötigt er zunächst einmal Selbstsicherheit, eine positive Ausstrahlung und die Fähigkeit, rasch Entscheidungen zu treffen. Solche „Handlungsfreude“ darf keine Angst vor eh unvermeidlichen Fehlern haben. Hauptsache ist, dass die Richtung stimmt. Dazu ist allerdings eine grundlegende Idee von der Zukunft des Unternehmens erforderlich. Gibt es nämlich kein Ziel, drehen sich alle im Kreis, und die magnetisierende Wirkung kompetenter Führung bleibt aus. Orientierungskompetenz und Handlungsfreude können hingegen den Abwärtstrend umkehren und tatsächlich wieder eine Aufwärtsspirale des Vertrauens in Gang setzen. Ein Beispiel dafür bietet der Fußballtrainer Jürgen Klinsmann während der Weltmeisterschaft 2006. Ähnlich wie es häufig im Wirtschaftsleben der Fall ist, zog er sich nach erfolgreichem Kriseneinsatz wieder zurück. Anders gesagt: Der Sanierer ist nicht immer der geeignete Führer für den „normalen“ Alltag.

Führen in der Krise am Beispiel von Wirtschaftsunternehmen (IV): Übergänge und Heldengeschichten

Wird eine Krise überwunden, schlägt erneut die Stunde der Barden und Dichter. Menschen brauchen Erzählungen, und Erzählungen brauchen Helden. Viele mittelständische Firmen, die noch in Familienbesitz sind, pflegen das kulturelle Erbe ihrer Gründer oder derer, die in einer anderen Generation schlimme Krisen überstanden haben, mit Bedacht. Solche Erzählungen sind Kristallisationspunkte von Identität. Sie beziehen sich allerdings definitionsgemäß auf eine glorreiche Vergangenheit, und kritische Punkte an der oft holzschnittartigen Heldenverehrung werden ausgespart.

Ähnliches gilt auch in managergeführten Konzernen. Wer viel erreicht hat, gerät in die Phase und in die Gefahr des Bauens von Denkmälern. Wer große Erfolge nachweisen kann, gerät tatsächlich immer wieder in die Gefahr, die Bodenhaftung zu verlieren. So hatte ein Manager aus einem mittelständischen Betrieb einen Milliardenkonzern aufgebaut. Dabei hatte er hervorragend verdient, aber irgendwann emotional nicht realisiert, dass ihm das Unternehmen gar nicht gehörte. Aufgrund seiner über 20 Jahre an der Unternehmensspitze war er zwar in

seiner Entscheidungsmacht im Unternehmen völlig unangefochten. Er glaubte aber, daraus einen Anspruch auf richtige Entscheidungen ableiten zu können, der auch gegenüber den Eigentümern gelten sollte. Als sich diese einem geplanten Unternehmenskauf widersetzten, kam es zur Eskalation und zur Führungskrise. Das Unternehmen durchlebte tatsächlich einige krisenhafte Jahre. Zwei eilig gesuchte Nachfolger hielten es nicht lange aus. Erst drei bis vier Jahre später normalisierten sich die Verhältnisse.

Neigt sich eine Krise dem Ende zu, sollte auch dieser Übergang zum Gegenstand sorgfältiger und professioneller Führung werden. Erneut stellt sich die Frage, ob ein an hohe Wellen und raue Gewässer gewöhnter Kapitän auch bei ruhiger Fahrt der richtige ist. Nach der Krise wird sozusagen ein neuer Aggregatzustand erreicht. Handwerkliche Momente der Führungsarbeit treten in den Vordergrund. Wer über die Stränge schlägt, erhält Lektionen darüber, wie eng oder weit sein Spielfeld begrenzt ist. Dies alles muss kein Nachteil sein: eine aufmerksam gestaltete Normalität bietet Chancen für eine nachhaltige Unternehmensentwicklung, oft auch Chancen, die ohne die vorhergegangene Krise nicht erkennbar oder nicht realisierbar gewesen wären.

Wirtschaftskrise und Weltkrise

Glaubwürdiges und kompetentes Führungshandeln wird nicht nur in Unternehmen gefordert und gebraucht, sondern auch darüber hinaus. So stellt sich angesichts der Weltwirtschaftskrise seit spätestens September 2008 die Frage, mit welchen Werten die Menschheit erfolgreich überleben kann. Kurzfristige Orientierung an monetär gemessenem Erfolg reicht nicht aus.

Überträgt man die gewonnenen Kategorien zur Phänomenologie unternehmerischer Krisen auf die Weltwirtschaft, so sind wir überwiegend in der Phase der Krisenwahrnehmung angekommen. Auch die Suche nach Ursachen und Schuldigen beschäftigt Leser und Autoren in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Welche Schlagzeile am Ende überwiegt- die der gierigen Banker, die des Staatsversagens durch mangelnde Regulierung, die über Gier und das Monster des Neoliberalismus- ist noch nicht klar. Es gibt also noch keine Deutungshoheit über die Krise, ihre Ursachen und ihre Überwindung.

Dies mag allerdings auch daran hängen, dass das bisherige Bezugssystem für die Deutung des Wirtschaftslebens nicht mehr stimmt. Passt die Brille nicht, wird das Bild unscharf. So wissen wir, dass Kontrolle alleine nicht weiter hilft. Und dennoch gibt es Regulierungsvorschläge ohne Ende. Unternehmen investieren in Corporate Governance, bauen große Abteilungen zur Überwachung regelkonformen Verhaltens (Compliance) auf und versuchen, ihr Image durch Initiativen im Bereich Corporate Social Responsibility zu verbessern. Der Zusammenhang er Wertelandschaft eines Unternehmens mit seiner strategischen Ausrichtung wird dabei meist übersehen. Folglich wirken viele dieser Bemühungen angestrengt und aufgesetzt.

In den westlichen Gesellschaften macht sich angesichts solcher Beobachtungen gelegentlich Hilflosigkeit breit, so als ob das Schicksalhafte des Wirtschaftslebens den Alltag erdrücke. Übersehen wird dabei, wie sehr unsere Gesellschaften eine kollektive Musterbildung überliefern, die nicht an die Realität angepasst ist: Den Systemimperativ des Wettbewerbs, der inzwischen nicht nur den Bereich des Wirtschaftlichen, sondern auch den gesellschaftlichen Alltag vom Kindergarten bis zur Schule, von der Politik bis zur Familie und zum Freizeitverhalten durchdringt. Es lohnt sich daher, abschließend auf die Frage nach einem sinnvollen Menschenbild in der Wirtschaft einzugehen, auch über die Krise hinaus.

Bilder vom Menschen in der Wirtschaft jenseits der Krise: Wirtschaftsanthropologie zwischen Kooperation und Wettbewerb

Nicht zuletzt die Umweltkrise und der Klimawandel haben zu ernsthaften Nachfragen nach der Zukunftsfähigkeit unserer heutigen Art und Weise des Wirtschaftens geführt. Die Frage zu stellen, heißt allerdings häufig, in Debatten hinein zu geraten, die in Sackgassen führen können. Schließlich ist es richtig, dass die Ressourcen auf dieser Erde endlich sind, aber es ist ebenso unabweisbar, dass Angebot und Nachfrage den Markt, die Preise und das Verhalten der Marktteilnehmer bestimmen.

Im Hintergrund mancher unfruchtbaren Debatte steht die Idee des „homo oeconomicus“, d.h. des wirtschaftlich rational handelnden Menschen, wie er in der Wirtschaftswissenschaft des 20.Jahrhunderts als methodische Abstraktion gelehrt wurde. Dieser „homo oeconomicus“ sucht seinen wirtschaftlichen Vorteil und lässt sich allenfalls durch staatliche Gesetze und deren effektiver Durchsetzung von sozial unerwünschten Handlungsweisen abhalten. Folglich wird das Trachten des Staates und seiner Akteure darauf aus sein, in einem munteren Hase und-

Igel-Spiel immer wieder neue Grenzen zu setzen, die dann kreativ umgangen werden, bis es zur nächsten Runde im Spiel kommt.

Schon die Verhaltens- und Neurowissenschaften haben die Tragfähigkeit des Konzeptes vom „homo oeconomicus“ erschüttert. Tatsächlich aber scheint das Bild des wirtschaftlich handelnden Menschen nach wie vor unverrückbar vom Paradigma des Wettbewerbs geprägt zu sein. Man könnte, philosophisch verkürzend, gerade zu behaupten: „Ich treibe Wettbewerb, also bin ich!“

Die Reduktion des Menschen auf das Bild des Wettbewerbs entspricht der Idee einer modernen Leistungsgesellschaft. Geld und Reputation geben Leistungsanreize und werden im Wettbewerb mit anderen erworben. In einer gerechten Gesellschaft hat der viel Geld und hohe Reputation, der viel leistet. Wer nichts leistet, erhält allenfalls soziale Unterstützung, dies jedoch mit fortgeschrittenen Maßnahmen sozialer Missbrauchskontrolle.

Es handelt sich hier um ein scheinbar darwinistisches Bild von Wirtschaft und Gesellschaft. Gerade angesichts der größten Krise der letzten Jahrzehnte ist allerdings zu fragen, ob ein solches Menschen- und Gesellschaftsbild gerechtfertigt ist.

Tatsache ist nämlich, dass der Mensch nicht nur auf Wettbewerb, sondern auch auf Kooperation angewiesen ist. Gesellschaftspolitisch und kulturtheoretisch rächt es sich hier, dass es bis heute keine grundlegende Reflexion über eine philosophisch fundierte und empirisch überprüfbare Wirtschaftsanthropologie gibt, wie sie u.a. Thema des 2009 gegründeten „Instituts für Sozialstrategie“ (www.institut-fuer-sozialstraregie.de) und verbundener Einrichtungen ist.

Tatsächlich ist das soziale Verhalten des Menschen von zwei grundlegenden Strömungen geprägt: Jeder Mensch möchte Zugehörigkeit erleben, aber er will sich auch von anderen unterscheiden. Von Geburt an signalisiert der Kontakt mit der Mutter Zugehörigkeit. Wir lernen, uns in unserer Familie, unserer Nachbarschaft, unserer Sprache und Kultur zugehörig zu fühlen. Diese Zugehörigkeit ist primär nicht eine Leistung, sondern eine Vorleistung anderer. Sie löst Gefühle der Geborgenheit, der Sympathie, bisweilen auch der Enge und der Erdrückung aus.

Daher sucht jeder Mensch zugleich nach Möglichkeiten, sich von anderen abzugrenzen. Entwicklungskrisen der Kindheit und Jugend sind immer auch Abgrenzungskrisen, weil wir uns unterscheiden wollen, um eine eigene Identität aufzubauen. Wir unterscheiden uns durch unsere Kleidung (Mode), unser Verhalten (Charakter), aber- auf der Ebene von Unternehmen auch durch unsere Alleinstellungsmerkmale (USP), unsere Strategie und vieles mehr.

Es liegt auf der Hand, dass zum Menschen beides gehört: Zugehörigkeit und Unterscheidung, Partizipation und Identität, Kooperation und Wettbewerb.

Dies gilt eben auch für das Wirtschaftsleben, und tatsächlich kann kein Unternehmen ohne Kooperation von Menschen und Abteilungen oder ohne Kooperation von Lieferanten und Finanzpartnern leben. Es gibt im Wirtschaftsleben ja sogar Einrichtungen zur Verhinderung unerwünschter Kooperation zu Lasten des Verbrauchers, etwa die Kartellbehörden.

Die Balance zwischen Zugehörigkeit und Unterscheidung, zwischen Wettbewerb und Kooperation ruft nach Spielregeln. Diese aber fallen nicht vom Himmel, sondern erwachsen auf dem Boden des Wertegerüsts einer Gesellschaft. Gesetze sind, so gesehen, geronnene Werte. Wird aber gesellschaftlich breit bewusst, wie sehr wir auf beides, Wettbewerb und Kooperation, angewiesen sind, dann hat dies enorme Auswirkungen auf die Gestaltung von Kindergärten, Schulen und Universitäten, letztlich auf das gesellschaftliche Klima in unserem Land- und darüber hinaus. Dies kann hier aber nur angedeutet werden.

Für Wirtschaft und Gesellschaft aber bedeutet dies eine grundlegende Abkehr von der falschen Polarität zwischen einem Primat der Wirtschaft und einem Primat der Politik. Beide Bereiche sind nötig, und beide Bereiche benötigen das Wurzelwerk der Zivilgesellschaft, die immer wieder neu auf die Frage antworten muss: In welcher Gesellschaft möchten wir leben? Und dabei wird die geeignete Balance zwischen Wettbewerb und Kooperation immer wieder neu auszuhandeln sein, wirtschaftlich und politisch!

LITERATUR

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Posted by Ulrich Hemel

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