Abstract [de]: Oftmals ist globale Zivilgesellschaft etwas schwierig Vorstellbares, etwas nur schwer Erfassbares. Doch gerade in Grenzregionen ist es immer wieder möglich, zivilgesellschaftliche Verbindungen tatsächlich zu erleben, Transnationalität zu erfahren. Von europäischen Grenzräumen ausgehend ist dies nicht stets in aller Deutlichkeit vorstellbar – und auch anderswo gibt es genug Grenzen, die entweder abriegeln oder wenig Berührung zeigen. Ganz anders sieht dies an der Grenze zwischen Venezuela und Kolumbien aus. Dies lässt sich durchaus aus beiden Perspektiven erklären: Es zeigt seine schillerndsten Facetten jedoch, wenn der Ansatz gewählt wird, von Venezuela, ausgehend von der dortigen Politik und Lage, dieses Phänomen starker zivilgesellschaftlicher Verbindungen gerade an der Grenze zu hinterfragen.


März 2015

Venezuela – Zivilgesellschaftliche Verbindungen über Grenzen hinaus

Zum Erleben transnationaler Zivilgesellschaft am Beispiel der Grenze zwischen Venezuela und Kolumbien

Oftmals ist globale Zivilgesellschaft etwas schwierig Vorstellbares, etwas nur schwer Erfassbares. Doch gerade in Grenzregionen ist es immer wieder möglich, zivilgesellschaftliche Verbindungen tatsächlich zu erleben, Transnationalität zu erfahren. Von europäischen Grenzräumen ausgehend ist dies nicht stets in aller Deutlichkeit vorstellbar – und auch anderswo gibt es genug Grenzen, die entweder abriegeln oder wenig Berührung zeigen. Ganz anders sieht dies an der Grenze zwischen Venezuela und Kolumbien aus. Dies lässt sich durchaus aus beiden Perspektiven erklären: Es zeigt seine schillerndsten Facetten jedoch, wenn der Ansatz gewählt wird, von Venezuela, ausgehend von der dortigen Politik und Lage, dieses Phänomen starker zivilgesellschaftlicher Verbindungen gerade an der Grenze zu hinterfragen.

Venezuela ist gerade von außen nicht einfach fassbar. Die Nachrichten, die aus dem Land dringen, sind begrenzt und zeigen klare Tendenzen auf, zugleich ist das internationale Interesse an dem Land, gerade nach dem Tod von Hugo Chavez nicht allzu hoch. Doch es gibt ein Feld, dass durchaus hohes Interesse erfährt, und zu dem sich einiges findet, wenn nur gesucht wird: die wirtschaftliche Situation. Diese ist durchaus verfahren. Zumeist dringen nur Schlagzeilen hervor wie der Mangel an Toilettenpapier oder Seife, die genauen Hintergründe sind jedoch deutlich weniger weit verbreitet. Und auch hier soll nun keine wirtschaftspolitische Analyse erfolgen. Die Wirtschaft Venezuelas hängt sehr stark von der Erdölförderung und dem Erdölexport ab – darüber kommen Devisen ins Land. Doch der sinkende Erdölpreis macht dem Land deutlich zu schaffen, die Förderung wird immer weniger wirtschaftlich. Dennoch setzt die Regierung seit Jahren auf eine feste Bindung ihrer Währung, des Bolivar, an den Dollar. Der Wechselkurs beträgt dabei circa 6 Bolivar für einen Dollar. Tatsächlich gibt es aber vier Wechselkurse, einen weiteren bei circa 12 Bolivar für einen Dollar und einen bei circa 50 Bolivar für einen Dollar. Diese beiden Raten erhalten bestimmte Unternehmen. Dazu kommt ein Schwarzmarktpreis – dieser beträgt Mitte Februar circa 190 Bolivar für einen Dollar. Der weiterhin reale Unterschied ist demnach einer ungefähr um den Faktor 30.Dies ist durchaus eine wichtige Information auch für Reisende in das Land, denn wenn dort ein Bankautomat mal Geld auf eine ausländische Karte heraus gibt, dann zum Kurs von 1 Dollar für 6 Bolivar. Die realen Straßenpreise orientieren sich eher am Schwarzmarktkurs. Es gibt sehr sehr wenig, was für 6 Bolivar zu haben wäre. Dennoch gibt es in Supermärkten sehr viel, was es für weniger als 100 Bolivar gibt. Unter anderem liegt dies daran, dass die Regierung durch ihre Wechselkurskontrolle versucht, die Inflation zu dämpfen, aber auch daran, dass Venezuela fast alles importieren muss, gerade auch Lebensmittel. Diese vier Wechselkurse sind dabei geradezu eine Einladung die Unterschiede im Wert zu nutzen. Lange erfolgte dies auch über private Wechselstuben, die nahe am Schwarzmarktpreis tauschten. Doch das Zulassen eines solchen Kurses führte zu einer weiteren Inflation – die Regierung reagierte und schloss alle Wechselstuben bis auf wenige, und diese dürfen offiziell nur zum offiziellen Kurs wechseln. Diese Kontrolle ist harsch, gerade in größeren Städten, kann aber den illegalen Straßentausch nicht völlig unterbinden, auch, da Produktmängel im Land nicht nur eine Pressemeldung sind. Aber ist gibt eine Region, in der die Schließung von Wechselstuben nicht durchgesetzt wurde – der Grenze zu Kolumbien, insbesondere an der sehr urbanen Grenze um die kolumbianische Stadt Cúcuta und San Cristobal in Venezuela.

Benzin ist in Venezuela in Centbeträgen pro Galone zu haben

Die Produkte, die es in Venezuela im Supermarkt gibt, sind deutlich billiger als identische Produkte in Kolumbien – es ist und war ein lohnenswertes Geschäft, venezolanische Produkte nach Kolumbien zu bringen. Diesem versucht die venezolanische Regierung entgegen zu steuern, unter anderem durch leichte Preisanhebungen, um den Export weniger lohnenswert zu machen. Aber auch der Import aus Kolumbien rechnet sich, gerade von Produkten, an denen es in Venezuela mangelt. Zur Grenze kann in Kolumbien durch eine Verkaufsstraße von Toilettenpapier und anderen Produkten gefahren werden. Primär versucht Venezuela diesen Handel zu unterbinden. Dabei wird darauf gesetzt die Grenze nachts zu schließen, um Kontrollen besser zu ermöglichen. Denn der Warenmangel ist insbesondere in den Grenzregionen deutlich zu spüren. Schlangen vor Supermärkten finden sich überall in Venezuela, aber gerade in Grenznähe werden von den Produkten, an denen sowieso bereits Mangel herrscht, auch noch große Teile nach Kolumbien geschmuggelt. Dies schürt Unzufriedenheit, die durch die Nähe zu Kolumbien und einen Einblick in dortigen Nicht-Mangel eher noch geschürt wird. Benzin ist in Venezuela in Centbeträgen pro Galone zu haben, es gilt als das billigste der Welt. In Kolumbien kostet es mehr als einen Dollar pro Liter. Tankladungen zu schmuggeln ist sehr lukrativ. Aber auch Medikamente nehmen den Weg nach Kolumbien. Diese wirtschaftliche Herausforderung bietet der Regierung in Caracas aber zugleich die Gelegenheit, alle Probleme des Landes damit und dadurch zu erklären – es ginge dem Land sehr gut, nur der Schmuggel führe zu Engpässen. Versuche, diesen deshalb zu unterbinden, treffen jedoch auf wenig Begeisterung – insbesondere nicht in der Grenzregion, die zwar besonderen Mangel leidet, in der aber gleichfalls viele nur durch den Warentransfer nach Kolumbien ihr Überleben sichern können. Und die Kolumbianer stehen diesem Warenverkehr sicherlich nicht im Wege. Durch den so niedrigen Realwert des Bolivar ist ihre Kaufkraft, und zwar nicht nur mit Dollarnoten, sondern auch dem kolumbianischen Peso, deutlich höher in Venezuela als in Kolumbien. Auch kolumbianische Offizielle sehen einen Nutzen in der billigen Versorgung ihrer Region mit Erdöl und anderen Produkten. Das Agieren gegen dieses etablierte System geht also de facto nur von offizieller venezolanischer Seite aus. Die vier offiziellen Grenzen besser zu bewachen und nachts zu schließen, zeigt allerdings wenig Wirkung bei der deutlichen Menge illegaler und doch befahrbarer aber auch unwegsamer Übergänge. Bestechung tut dabei ihr übriges, sowohl an den offiziellen wie den inoffiziellen Grenzübergängen. Kurz, Warentransport von Venezuela nach Kolumbien, zu großen Teilen als Schmuggel, ist inzwischen so verbreitet und Einkommensquelle so vieler, es ist so lukrativ, dass alle Maßnahmen dagegen stets nur begrenzte Wirkung haben.

Es ist nicht überall in Venezuela leicht, Geld zum Schwarzmarktkurs zu tauschen

Doch was hat nun der Schmuggel von Waren mit transnationaler Zivilgesellschaft zu tun? Wird auf Zivilgesellschaft in Venezuela geschaut, kann formaljuristisch von großen partizipativen Möglichkeiten geschrieben werden. Doch wie so oft sind die Worte und ihre Umsetzungen zwei sehr verschiedene Sachen. Gerade Betätigungen, die von der Regierung kritisch gesehen werden, erfahren ihre deutlichen Grenzen bis hin zur Strafverfolgung. Dies nahm in den letzten Jahren im Rahmen des Erstarkens oppositioneller Kräfte eher noch zu. Dennoch gibt es zivilgesellschaftliche Kräfte, genauso wie es eine mehr oder minder organisierte Opposition gibt – zu welchem Grad ist jedoch umstritten. Generell sammelt sich dabei zivilgesellschaftliche Organisiertheit in größeren Städten, und nicht an der Grenze. Doch an der Grenze ist eine Art Raum von Freiheit entstanden. Hier wird gegen Warentransfer vorgegangen, und auch gegen illegale Geldwechsel, aber vor allem letzteres nicht forciert. Es ist nicht überall in Venezuela leicht, Geld zum Schwarzmarktkurs zu tauschen – an den Grenzen, vor allem der deutlich urbanisierten um Cúcuta und San Cristobal gibt es aber sogar Wechselstuben, die zum Schwarzmarktpreis tauschen. Der Warenverkehr direkt über die Grenze wird zwar kontrolliert, deutlich schärfer fallen jedoch dann erst die Kontrollen einige Kilometer hinter der Grenze aus. Letztlich zeigt sich dort, dass staatliche Verbote und Kontrolle einer Durchsetzbarkeit bedürfen – und diese ist dort keineswegs gegeben. Dort hängt gerade vom Warenverkehr und vom Geldwechsel zum Schwarzmarktkurs zu viel ab. Es ist wichtig, hier nun festzuhalten, dass daraus bisher keine neue politische oder soziale Bewegung in dieser Region entstand. Auch ist dort zwar eine starke Opposition, aber nicht ihr Zentrum. Aber nicht nur in der Debatte über Zivilgesellschaft in Venezuela stellt sich die Frage, was diese umfassen kann oder soll. Dem Konzept folgend, dass Zivilgesellschaft alles außerhalb organisierter Kriminalität umfasst, müssen Grenzregionen, und gerade auch die zwischen Venezuela und Kolumbien unter einem neuen Fokus betrachtet werden – dem transnationaler zivilgesellschaftlicher Verbindung.

Es ist ein Raum in dem der Pass über vieles bestimmt

Der Grenzraum um Cúcuta und San Cristobal ist einer der geschäftigsten in Südamerika, große Zahlen an Produkten und Menschen wechseln oft mehrmals täglich von einem Land ins andere, nutzen dabei die Wechselkursvorteile und dadurch Preisunterschiede. Der Austausch hier ist nicht der politischer Belange, von Staatskonzepten – sondern es sind wirtschaftlich geprägte Kontakte, die dennoch auch auf Ansichten und Konzepte abfärben. Diese ständigen Begegnungen mit anderen Umständen und Vorstellungen bereichern mindestens individuelle Horizonte. Zugleich ist es ein Raum, in dem der Pass über vieles bestimmt und klare Grenzunterschiede hervorbringt, so bezüglich der freien Bewegung, und doch Unterschiede auch verschwimmen. Unterschiede zwischen Venezolaner_innen an der Grenze und jenen nur wenige Stunden weiter landeinwärts sind oft viel größer als zu Kolumbianer_innen an der Grenze. Hier bildet sich eine transnationale und multipel verbundene und interagierende Zivilgesellschaft. Und hier ist sie sichtbar, hier ist das Zurückweichen staatlicher Kontrollmöglichkeiten und die zivilgesellschaftliche Durchmischung als Teil entsprechender Interaktion so deutlich zu sehen wie selten. Dies führt zu zwei Schlüssen und zugleich weiterleitenden Überlegungen: Zum einen gilt es herauszustreichen, das Grenzregionen als Betrachtungsfokus einen immensen Erkenntnismehrwert versprechen – dortige Prozesse bilden oft größere Tendenzen kondensiert ab. Zum anderen ist festzuhalten, wie notwendig es ist, Zivilgesellschaft breit zu denken und zu erfassen. Politische Gruppen primär zu suchen, würde zu einem anderen Bild führen, und zugleich doch verkennen, welche zivilgesellschaftlichen Kontakte bestehen. Dies ist als deutliches Plädoyer für ein breites Verständnis zu verstehen und zugleich als praktischer Beleg für die Existenz einer solchen Zivilgesellschaft.

Bibliographieauswahl:

Zur wirtschaftlichen Lage:

Zum Grenzverkehr:

Zu Zivilgesellschaft in Venezuela:

Posted by Mario Faust-Scalisi

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