Die Papst Franziskus Formel. Ein neuer Zugang zum Dritten Weg der Katholischen Soziallehre

Abstract [en]:

Since many years in Argentina Pope Francis has developed and successfully used his very personal method to build up a people. As does Catholic Social Teaching he embraces a middle path between the ideologies and inserts the positive elements into a third way approach. His specific bipolar opposites are presented as programmatic keys for a culture of encounter (una cultura del encuentro) following clear directions: time is greater than space, unity prevails over conflict, realities are more important than ideas, the whole is greater than the part (EG 221-237). Those principles easily fit into the framework of Catholic Social Teaching and are available to all who want to go ahead in their life, in business or society.

Abstract [de]:

Papst Franziskus hat in Argentinien vor vielen Jahren eine eigene Methode zum Aufbau der Gesellschaft entwickelt und erfolgreich eingesetzt. Genau wie die Soziallehre der Kirche schlägt er einen mittleren Weg zwischen den Ideologien ein und nutzt das Positive aus den sich gegenüberstehenden Ansätzen für seinen dritten Weg. Seine vier spezifischen Gegensatzpaare werden in Evangelii Gaudium programmatisch als Schlüssel für eine Kultur der Begegnung mit eindeutigen Richtungen dargestellt: Die Zeit ist mehr wert als der Raum; die Einheit wiegt mehr als der Konflikt; die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee; das Ganze ist dem Teil übergeordnet (EG 221-237). Diese Prinzipien erweitern die katholische Soziallehre und stehen jedem zur Verfügung, der im Leben, in der Wirtschaft oder in der Gesellschaft weiterkommen will!

 

April 2018

Die Papst Franziskus Formel. Ein neuer Zugang zum Dritten Weg der Katholischen Soziallehre

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Papst Franziskus ist nicht vom Himmel gefallen. Er kommt von dieser Welt, wenn auch (aus unserer Sicht) vom ihrem anderen Ende. Dort hatte er bereits als christlicher Leader und Unternehmer weit über die Grenzen Argentiniens hinaus gewirkt. Er hat nicht nur Kirchen, Kapellen, Bauernhöfe oder Schulen gebaut, sondern auch ganze Stadtteile politisch (im besten Sinne des Wortes) organisiert. Bei seiner sozial-pastoralen Arbeit stand er immer wieder im Kreuzfeuer zwischen progressiv und konservativ. Als Mann des Volkes und der Einheit sind ihm diese Kategorien zutiefst zuwider. Er will nicht polarisieren oder gar spalten. Er geht seinen eigenen Weg der Mitte und orientiert sich dabei am Wohl der Menschen, insbesondere dem der Armen.

Am anderen Ende der Welt hat er die Konsequenzen einer ungerechten (Welt-)Wirtschaftsordnung sowie der politischen Korruption hautnah erlebt. Hier hat er seine eigene Radikalität entwickelt, eine jesuanische Radikalität, die in die Tiefe geht. Sein Ansatz spaltet nicht, sondern führt und hält zusammen, was zusammengehört, nämlich Menschen und Gesellschaft. In diesem Sinne steht der Jesuit aus Argentinien mit beiden Füssen in der Tradition der katholischen Soziallehre, die dem Schema von Freund und Feind ebenfalls nicht entspricht.

In unseren Breitengraden hat sich die katholische Soziallehre als Dritter Weg zwischen den zwei (bisweilen karikierten) Positionen eines staatlich geplanten Kommunismus und eines ausbeuterischen Kapitalismus entwickelt. Mit dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch einer grossen kommunistischen Planwirtschaft hat die katholische Soziallehre vordergründig einen ihrer Orientierungspunkte verloren, der sie als Dritter Weg qualifizierte. Wie soll sie ihr Profil als Dritter Weg angesichts eines überhand nehmenden individualistischen Neoliberalismus nach alleinigen finanzwirtschaftlichen Parametern schärfen ohne ihre anti-ideologische Stärke einzubüssen?

Genau hier können wir von dem lateinamerikanischen Ringen um eine radikale Befreiungstheologie lernen. Sie hat sich zwischen den Fronten erst mühsam entwickeln müssen und konnte sich dann auch als legitime theologische Strömungen in der Universalkirche behaupten. Padre Jorge Mario Bergoglio war bei diesen Auseinandersetzungen mitten drin: als Novizenmeister und Provinzial, als praktischer Theologe sowie später als Erzbischof und Kardinal. Ihr radikales Gleichgewicht findet diese befreite und befreiende Theologie tief im Glauben des heiligen und gläubigen Volkes Gottes selbst. Eine arme Kirche an der Seite der Armen. Bis dahin war es ein langer Weg. An seinem letzten Höhepunkt stand Bergoglio, sowohl als Gestalter von Kompromissen als auch federführend beim Schlussdokument der 5. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik 2007 in Aparecida, Brasilien.

 

Zwischen welchen Spannungen entwickelt sich ein neuer dritter Weg?

In den komplizierten Situationen seines Lebens hat Bergoglio seine eigene Formel entwickelt. Diese dient dem Aufbau des Volkes und lebt von vier spezifischen Gegensätzen, die einander bedingen: (1) Raum und Zeit, (2) Konflikt und Einheit, (3) Idee und Wirklichkeit, (4) Teil und Ganzes.

Von Romano Guardini hat Jorge Mario Bergoglio schon früh und besonders während seiner späten Studienzeit in Deutschland gelernt, dass die Spannung zwischen bestimmten Gegensätzen dazu dient, konkrete Lebendigkeit und Bewegung hervorzubringen. Stehen der Mensch oder die Gesellschaft unter der richtigen Spannung, entwickelt sich eine positive Energie des Wachsens und der Veränderung. Diese energiespendende Spannung kommt jedoch an drei Punkten zum Erliegen, die es zu vermeiden gilt, weil sie in die Lethargie oder Selbstzentrierung führen. Fallen die Pole eines Gegensatzes auf der einen oder auf der anderen Seite ineinander oder halten sich gegenseitig die Waage, hört die Spannung auf zu existieren. In den beiden ersten Fällen vernichtet der eine Pol den anderen und im dritten Fall entsteht ein erstarrtes Gleichgewicht des Schreckens.

Eine Spannung bringt nur dann lebendige Bewegung, wenn sie in die eine oder in die andere Richtung zieht. Mit seiner Formel beantwortet der Papst diese Richtungsfrage, indem er eine Seite bevorzugt, ohne sie zu verabsolutieren. Die Gesellschaft entwickelt sich dort, wo die Zeit mehr wert ist als der Raum, die Einheit mehr wiegt als der Konflikt, die Wirklichkeit wichtiger ist als die Ideen und das Ganze dem Teil übergeordnet ist. Mit diesen bevorzugten Neigungen wollen seine Kurzformeln weder den Raum in der Zeit, noch den Konflikt in der vereinnahmenden Einheit auflösen; die grössere Wirklichkeit vernichtet die nötigen Ideen für deren Entwicklung genauso wenig, wie das Ganze seine Teile. Wäre dies der Fall, würden die vier Bergogliolischen Prinzipien in sich zusammenfallen und die erwartete Lebens- und Bewegungsenergie bliebe aus. Mit seiner Formel öffnet der Papst einen genuin neuen dritten Weg für Freiheit und Verantwortung, der es allen ermöglicht, aktiv teilzunehmen und gleichzeitig mit Gottes Heil in der Geschichte zu rechnen.

 

Praktischer Nutzen

Der christliche Unternehmer trägt wirtschaftlich zum Gemeinwohl bei. Dabei ist er den Versuchungen der Einseitigkeit genauso ausgesetzt, wie der Arbeitnehmer, der Parteipolitiker oder der Prediger. Die Papst Franziskus Formel öffnet spannende und erprobte Freiräume des Möglichen, in denen auch das Wirtschaften neu wachsen und zum Gemeinwohl beitragen kann, ganz im Sinne der katholischen Soziallehre.

Die Zeit ist mehr wert als der Raum (EG, 221)

Die Zeit wird zu deinem Freund, wenn sie im Fluss bleibt. Papst Franziskus sagt, sie sei der Bote Gottes. Im konkreten Alltag erleben wir die Zeit jedoch häufig anders, ja viel bedrohlicher. Entweder blockiert die unvorhersehbare Zukunft oder die Dringlichkeit des jetzigen Moments ihren Fluss. Der bereits eingenommene Raum, den man kennt und kontrolliert, wird als sicher erlebt; er spendet Geborgenheit. Doch auch er ist das inkarnierte Produkt einer bestimmten Zeit. Der weise Satz von Franziskus ermutigt: Nutze die Zeit für den Prozess der ständigen Erneuerung und verberge dich nicht hinter den Mauern (und gefühlten Sicherheiten) deines vergangenen oder aktuellen Erfolgs.

Die Einheit wiegt mehr als der Konflikt (EV, 226)

Manche Unternehmen, inklusive die Kirchen, kommen nicht in die Handlung, weil sie von einer falschen Einheitsideologie oder von der Angst vor dem Konflikt gelähmt sind. Was den einen zu weit geht, geht den anderen nicht weit genug. Die Weisheitsformel des Papstes geht den Weg der Mitte mit Blick auf die Einheit. Hilfreiche Konflikte werden klug für die Einheit genutzt. Man verbeisst sich weder in Konflikten, noch weicht man ihnen aus. Man identifiziert vielmehr ihr Potential für eine wachsende und versöhnte Einheit.

Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee (EV, 231)

Die Wirklichkeit ist mehr als das Faktische oder die nackten Zahlen. Sie ist das historisch geschaffene Lebensumfeld mit seinen Möglichkeiten und Grenzen. Die Ideen sind mehr als hehre Gedanken oder Träume einer besseren Welt. Sie meinen konkrete Vorschläge, wie die geschichtlich gewachsene Wirklichkeit weiter entwickelt werden kann. Hier sind kreative und zukunftsorientierte Unternehmer gefordert, die bei allen guten Ideen, die Füsse auf dem Boden der Realität behalten und den Weg der Entwicklung gemeinsam Schritt für Schritt (vor) zu gehen.

Das Ganze ist dem Teil übergeordnet (EV, 234)

Das Ganze ist mehr als seine Teile, heisst auch, dass wir als Menschen, Unternehmer oder Gläubige nie das Ganze sind. Auch hier geht es darum, einen dritten Weg zwischen den Teilen und dem Ganzen zu legen, der mehr zum Ganzen neigt, als zu irgendeinem noch so wichtigen Teil. Ein guter Unternehmer weiss, wie wichtig es ist, sein Produkt zu verkaufen und nicht nur zu bewundern und zu bewerben. Jede einzelne Anstrengung bekommt eine neue Dimension, wenn sie als Beitrag zu etwas Grösserem verstanden wird. Das gilt auch für die Unternehmen selber. Als Teil der Gesellschaft stehen sie im Dienste des grösseren Auftrags der Menschwerdung und einer Zivilisation der Liebe. Aus dieser Bescheidenheit heraus gewinnt Papst Franziskus den ungeheuren Mut, seinen eigenen Beitrag resolut zu leisten.

 

Neuer Aufbruch

Die vier hier vorgestellten Sätze aus Evangelii gaudium begleiten Jorge Mario Bergoglio als Papst Franziskus schon lange Jahre in der Praxis. Er hat erlebt und bewiesen, dass sie funktionieren. Deshalb wendet er sie auch heute noch an. Sie stehen für seinen Dritten Weg und können nahtlos in das Gefüge offener Sätze der Katholischen Soziallehre eingefügt werden. Sie stehen jedem zur Verfügung, der im Leben, in der Wirtschaft oder in der Gesellschaft weiterkommen will.

Anschrift des Autors:
Dr. theol. Erny Gillen

© Erny Gillen, Foto Katja Lenz

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Luxemburg
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