Dieser Beitrag ist Teil unserer Literaturecke: Dort veröffentlichen wir Kurzrezensionen und Literaturtipps unserer Mitarbeiter_innen und Verbundenen.

Hermann Wollner rezensiert die Monographie von Ulrike Herrmann.


Über: Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung (Ulrike Herrmann)

Herrmann, Ulrike (2016). Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutige Ökonomie oder Was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können. Frankfurt/Main:Westend.

Es gibt nicht nur die „Lückenpresse“, es gibt auch die „Lückenwissenschaft“. Letzterem Phänomen widmet sich die TAZ-Wirtschaftskorrespondentin Ulrike HERRMANN in ihrem 280-Seiten-Buch „Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung“. Der Untertitel formuliert zwei Ansprüche: »(Darstellung der) Krise der heutigen Ökonomie« und »Was wir von SMITH, MARX und KEYNES lernen können«. Letztere sind bekanntlich die Erzväter eines Wissensgebiets, welches Adam SMITH (1723 – 1790) „Nationalökonomie“ nannte, Karl MARX (1818 – 1883) als „PolitischeÖkonomie“ bezeichnete und zu Zeiten von John Meynard KEYNES (1883 – 1946) als „Volkswirtschaftslehre“ auf Universitäten unterrichtet wurde. Die Autorin nennt es eine Sozialwissenschaft und beklagt, dass selbige heutzutage als „Makroökonomie“ von der realen Gesellschaft abstrahiert und normalen Bürgern unverständlich bleibt.

Das Thema »Krise der heutigen Ökonomie« wird auf 28 Seiten und »Was wir von S., M. und K. lernen können« auf 8¼ Seiten abgehandelt. Die restlichen 193 Seiten sind nicht etwa der Analyse heutiger wirtschaftlicher Vorgänge und Beziehungen auf nationaler und internationaler Ebene gewidmet, sondern mit möglichst lustigen Begebenheiten aus dem Leben der vorgenannten Ökonomen (wobei nicht auf die Beschreibung der Eiterbeulen an Gesäß und Schambereich von MARX verzichtet wird), diversen Zitaten von ARISTOTELES (3. Jh. v.u.Z.) bis Thomas PIKETTY(geb. 1971) und Milchmädchen- bzw. Kartoffelbauerbeispielen aus der Mikroökonomie gewürzt. HERRMANN stellt also keineswegs die Probleme der kapitalistischen Produktionsweise (das wäre „Kapitalismus“) im 21. Jahrhundert dar, sondern nur deren unvollständige und auch sonstig mangelhafte Widerspiegelung in der gelehrten Theorie der sogenannten „neoliberalen Schule“ (HAYEK, FRIEDMAN u.a.). Insbesondere beklagt sie deren exzessive Fixierung auf „globale Finanzmärkte“.

Was vermittelt die Autorin als das von den drei klassischen Ökonomen zu Lernende? Eigentlich nichts Direktes. Verständlich, denn die konkreten Erscheinungsformen von Wirtschaft änderten sich selbst seit KEYNES’ Tod erheblich; seit SMITH noch viel mehr. HERRMANN drückt es apodiktisch so aus: »Jede Generation muß ihre eigene Wirtschaftswissenschaft erfindenTrotzdem können SMITH, MARX und KEYNES wesentliche Anregungen liefern.« Vom schottischen Moralphilosophen SMITH zitiert sie (eingangs) aus dessen Hauptwerk »Der Wohlstand der Nationen – eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen« (1776) einige Begriffe, darunter Arbeitsteilung, Markt, Ware, Nachfrage und Preis. Ihm ging es um das Gemeinwohl; seine Bezeichnungen von Gruppen, die sich »Arbeit« (und Eigentum) »teilen« (Tagelöhner, Kaufleute und Landlords) stehen für Klassen und »Interesse« steht für Profit. Der Sozialphilosoph MARX wird mit Friedrich ENGELS dafür gerühmt, dass beide die Bedeutung der Großindustrie und die Rolle der Konkurrenz als Erste erkannt und den ʹKapitalismusʹ, also die kapitalistische Produktionsweise, als einen (historischen) Prozeß begriffen hätten. Dem Logiker und Finanzpraktiker KEYNES wird attestiert, dass er damit recht hätte, nicht den ʹArbeitsmarktʹ, sondern den ʹFinanzmarktʹ in das Zentrum der Untersuchungen zu stellen und »in Gesamtaggregaten zu denken«. Diese weißen Schimmel der Ökonomie verstünden die Neoklassiker („Neoliberalen“) nicht zu reiten. HERRMANNs Urteil: »KEYNES ’ System ist unverändertaktuell.« (vgl. oben »Jede Generation…«). Es muß nicht hinzugefügt werden, dass sie weder SMITHs Begriffe definiert, noch MARX’ gültige Erkenntnisse über die Rolle der Arbeitslosen und das permanente Wachstum der Einkommensunterschiede strukturiert darbietet. Die Überschrift zum Abschnitt (eine Seite) über KEYNES’ System (dargestellt in seinem Hauptwerk »Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes«, 1936) lautet: »Sicher ist nur die Unsicherheit«. Der Abschnitt endet mit der Trivialität: »Geld ist nicht neutral, sondern hat immense Bedeutung im ʹKapitalismusʹ.« HERRMANN offenbart abschließend historisch-dialektische Unkenntnis: »Der ʹKapitalismusʹ ist das einzige dynamische soziale System, dass die Menschheit je hervorgebracht hat. Die Ökonomie sollte ihn erforschen, statt ihn aus ihrer Theorie zu verbannen.«

Der rustikale Rat der Autorin lautet: »Die Herde der Finanzanleger lässt sich nur stoppen, wenn ʹmanʹ das Gatter der Weide verrammelt.« ʹManʹ müsse die Devisenspekulation unterbinden, die Wechselkurse der Währungen „fixieren“ und sowohl große bzw. permanente Überschüsse als auch große bzw. permanente Defizite im Außenhandel mit Strafzinsen zugunsten einer Weltzentralbank belegen. „Witzig“ ist, dass die Autorin die gegenwärtige Situation Griechenlands mit der des reparationsbelasteten Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg vergleicht. Das dürfte die griechische Bevölkerung ähnlich sehen. HERRMANN weiter: »Die frohe Botschaft lautet: Europaweit werden allereicher, …, wenn die deutschen Arbeitnehmer mehr verdienen.« Den rechnerischen Beweis für dieses Gesamtaggregat bleibt die Autorin schuldig. Ganz zu schweigen von einem Vorschlag, wer denn die Kraft sein soll oder kann, um die Gatter der kapitalistischen globalen Weide zu verrammeln.


Alle Rechte vorbehalten.

Abdruck oder vergleichbare Verwendung von Arbeiten des Instituts für Sozialstrategie ist auch in Auszügen nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung gestattet.

Publikationen des IfS unterliegen einem Begutachtungsverfahren durch Fachkolleginnen und -kollegen und durch die Institutsleitung. Sie geben ausschließlich die persönliche Auffassung der Autorinnen und Autoren wieder.

Posted by Hermann Wollner

Leave a reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert