Abstract [en]: What is Truth? The world as a place capable of truth and the challenge of global ethics for living together in peace

Especially in a time of hypes around fake news, we have to ask the question if there is something like “truth”. There cannot be any reference to a common truth when and if every person claims to have his or her own truth. Considering the world as a place capable of truth and truthful statements, however, is a strict necessity for living and surviving as an individual and as a social group. This includes the right of having an own, personal or group-related perspective. Such a perspective or world-view, however, must be combined with the principal respect of others, with an attitude of non-violence and of tolerance for other standpoints, even and especially in the political and religious field. Dealing with truth and truthfulness therefore becomes a claim in the social practice, a claim of practical methods and of living together with others in a global civil society. The orientation aiming at a serious search of truth and truthfulness will create trust in social life. The is the exact contrary of a world of fake news which fosters mistrust, defense and a downward spiral of fear.

Abstract [de]:

Gerade in einer Zeit mit hoher Aufmerksamkeit für Fake-News stellt sich die Frage, ob es “Wahrheit” überhaupt gibt und geben kann. Wenn jeder seine eigene Wahrheit hat, ist der Bezug auf eine gemeinsam anzuerkennende Wahrheit unmöglich. Die Wahrheitsfähigkeit der Welt ist aber eine strikte Voraussetzung für das Leben und Überleben in ihr, ob als einzelner oder als soziale Gruppe. Unbenommen bleibt dabei das Recht auf eine eigene Perspektive. Diese muss aber verbunden werden mit der grundlegenden Achtung anderer, also der Gewaltfreiheit und der Toleranz für andere Standpunkte, speziell im politischen und im religiösen Bereich. Umgang mit Wahrheit und Wahrhaftigkeit wird so zu einem Anspruch an Methode und Miteinander zum friedlichen Leben in der globalen Zivilgesellschaft. Die Orientierung an ernsthafter Suche nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit stiftet zugleich Vertrauen im sozialen Leben; das Gegenteil aber – wie in der Welt der Fake-News – schafft Misstrauen, Abwehr und eine Abwärtsspirale der Angst.


April 2020

Was ist Wahrheit?

Die Wahrheitsfähigkeit der Welt und die Weltethos-Idee

Einleitung: Der transzendentale Horizont der Wahrheitsfrage

Die so einfach klingende Frage nach Wahrheit hat eine so lange und so wechselhafte Geschichte, dass fachlich versierte Philosophen, Sozialwissenschaftler und Theologen sie zu Beginn des 21.Jahrhunderts am liebsten vermeiden. Jürgen Habermas hat sich mit inzwischen 90 Jahren ein Herz gefasst und 2019 sein Werk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ veröffentlicht, deren Band 1 den Untertitel trägt: „Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen“ (Berlin 2019). Auf insgesamt über 1800 Seiten entfaltet er ein weites Panorama der Frage nach Glauben und Wissen, deren Horizont stets „Wahrheit“ ist. Die „Trennung zwischen Glauben und Wissen“ (J.Habermas 2019, Bd.2, 7-212) situiert er im Protestantismus und in der Subjektphilosophie, benennt aber im zitierten Untertitel zum ersten Band zugleich den Kontext, nämlich die „Okzidentale Konstellation“.

Habermas greift weit aus und ist sich der Vorläufigkeit jeglicher „Definition“ von Wahrheit bewusst. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er sich der Mühe eines großen Gesprächs nicht nur mit der philosophischen, sondern auch mit der theologischen Tradition rund um die Frage nach Wahrheit und Vernunft stellt. Philosophisch üblich wäre heute eher der Rückgriff auf die sprachliche Verwendung des Wahrheitsbegriffs in verschiedenen pragmatischen Konstellationen. Sprachanalytisch lässt sich freilich die Analyse des Sprachgebrauchs rund um den Begriff „Wahrheit“ kaum mit einer tieferen Erkenntnis zu dem, was nun als „wahr“ gelten soll, verbinden. 

Geltungsansprüche von Wahrheit führen die Wahrheitsfrage unmittelbar zurück in den sozialen Raum. Denn Geltungsansprüche haben normative und praktische Folgen in einem gegebenen sozialen Kontext. Sie sind nicht unabhängig von Raum und Zeit, und sie wirken in ihrer Eigenart stets konditioniert durch Kontexte von Macht und Ohnmacht. Wahrheit zieht mit anderen Worten einen normativen Kern nach sich, über den die Praxis sozialer Realität stärker zu entscheiden scheint, als es dem hohen Pathos von „Wahrheit“ zunächst zu entsprechen scheint. 

Philosophisch oder theologisch gesehen kann eine Aussage ja auch dann wahr sein, wenn niemand sie kennt oder wenn eine Mehrheit der Menschen sie ablehnt. Nur wird eine solche überzeitlich und überörtlich gedachte allgemeine Wahrheit es schwer haben, in der irdischen Realität der Menschen zu landen. Sie hat in ihrem Anspruch sozusagen etwas Göttliches, das über den Menschen hinaus reicht. Eine solche, in gewisser Weise „absolute“ Wahrheit wird heute überwiegend abgelehnt, sei es aus Skepsis gegenüber der Religion oder aus der schon von Kant herausgearbeiteten Grenze unserer Apperzeptionsfähigkeit, die uns das „Ding an sich“ nicht zu erkennen erlaubt.

Ob das genannte Göttliche nun metaphorisch oder im religiösen Sinn als unvollständige Beschreibung göttlicher Realität gedacht wird, das spielt bei der Untersuchung dessen, was wahr ist, meist keine Rolle.  Trotzdem ist der weit über die Frage hinaus reichende Horizont der Wahrheit von Haus aus transzendental, gleich ob dieses „Über den Menschen Hinausragen“ religiös, philosophisch oder auf sonstige Weise gedacht wird.

Da der menschliche Geist in transzendentalen Fragen stets mit seiner eigenen Unzulänglichkeit konfrontiert wird, löst die Frage nach Wahrheit auch ein gewisses Unbehagen aus. Die Wahrheit der Wirklichkeit und die Wirklichkeit der Wahrheit werden zwar tagtäglich vorausgesetzt. Es scheint aber in Alltag und Wissenschaft eine Art stillschweigende Konvention der Art zu existieren, als wolle man sich lieber nicht auf den unsicheren und vielfach kontroversen Boden der Begründung von Wahrheit begeben. Das hat die problematische Folge, dass womöglich nur noch Kinder, Weise und Narren sich der Zumutung stellen, „einfach nur so“ die Frage zu wagen: „Was ist wahr“?

Empirische und normative Kontexte von Wahrheit

Dass Berlin die Hauptstadt Deutschlands ist, kann allgemein als wahre Aussage behauptet werden. Es handelt sich mit anderen Worten um eine empirische und wahrheitsfähige Aussage: Es gibt die Stadt Berlin, und sie ist die Hauptstadt Deutschlands.

Eine genauere Betrachtung zeigt natürlich, dass es einen historischen Kontext gibt: Ja, die Aussage ist 2020 wahr. 1985, vor dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung, war die Aussage so nicht wahr. An dieser Stelle geht es nur darum, sich daran zu erinnern, dass zahlreiche empirische Aussagen in einen historischen und situativen Kontext eingebettet sind, der dem Wahrheitsanspruch einer solchen Aussage keineswegs äußerlich ist. Anders gesagt: Auch empirische Wahrheiten haben historische, soziale und kulturelle Voraussetzungen, die man ihnen nicht immer ansieht.

Dies gilt erst recht für normative Aussagen. So können wir im deutschen Grundgesetz von 1949 in Artikel 1 lesen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Da das Grundgesetz schließlich die Richtschnur zum Aufbau des Staatswesens in Deutschland ist, lässt sich mit Fug und Recht erwarten, dass dieser Satz wahr ist. Wäre er nicht wahr, hätte er ja im Grundgesetz nichts zu suchen.

Bedauerlicherweise ist es empirisch ja gerade nicht wahr, dass die Würde des Menschen unantastbar wäre. Wir erleben Verletzungen der Menschenwürde Tag um Tag. 2019 war und ist die Frage der Seenotrettung Schiffbrüchiger im Mittelmeer hoch umstritten. Viele Menschen teilen die Aussage, dass der Verzicht auf Seenotrettung oder gar ihre Behinderung wie durch den bis Mitte 2019 amtierenden italienischen Innenminister Matteo Salvini gegen die Menschenwürde verstößt. Macht menschenunwürdige Praxis den Satz aus GG Art.1 also unwahr?

Nun sind Normen solche Verhaltensrichtlinien, die ein Sollen umfassen. In diesem Sollen steckt eine Zielrichtung, ein sanfter oder starker Imperativ der Realisierung. Sollen ist aber nicht „Müssen“. Wenn es aber keinen natürlichen oder sozialen Zwang zur Umsetzung gibt, kann von Normen abgewichen werden. Genau das erleben wir ständig, und doch will und wird niemand auf Normen verzichten. Denn diese setzen Orientierungspunkte für menschliches Verhalten auch dann, wenn deren Umsetzung unsicher und ihre Auslegung umstritten ist. 

Die Wahrheit einer implizit oder explizit normativen Aussage wie „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ liegt also nicht in ihrer lückenlosen Realisierung, sondern in ihrem Wert als regulative Idee.

Wenn es überhaupt sinnvoll ist, von der „Wahrheit“ einer normativen Aussage zu sprechen, dann bezieht diese sich auf die Existenz, den Sinn und die Gültigkeit der Norm:

  • „Es ist wahr, dass die Menschenwürde in Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes steht“; 
  • „Es ist sinnvoll, dass gerade die Menschenwürde als oberste Norm zur Sprache kommt“;
  • „Es ist wahr, dass alle staatlichen Organe der Menschenwürde Geltung verschaffen“.

Die Verknüpfung von Wahrheit mit normativen Aussagen führt aber unverzüglich in muntere philosophische, politische und rechtliche Diskussionen. Denn bei näherer Betrachtung vermischen sich empirische Voraussetzungen und übergreifende normative Kontexte. So könnte jemand bestreiten, dass Menschenwürde die oberste Norm des Grundgesetzes sein sollte und alternative Vorschläge machen. Und erst recht gilt, dass es auf der Fakten-Ebene zahlreiche Handlungen staatlicher Organe gibt, die wirklich oder vermeintlich gerade nicht der guten Umsetzung von Menschenwürde dienen

Die Unvermeidbarkeit eines normativen Horizontes von Wahrheit

In alltäglichen, in politischen und in wissenschaftlichen Kontexten ist es üblich geworden, normative Ideen eher im Hintergrund zu lassen und sich auf empirische Tatsachen zu beschränken. Dass Berlin die Hauptstadt Deutschlands ist und es dort im Winter gelegentlich regnet und schneit, wird niemand bestreiten. Im Gegenteil: je stärker Aussagen im Kleid empirisch gestützter Faktenlagen einherkommen, desto stärker scheint ihr Wahrheits- und Geltungsanspruch zu sein.

Das Sperrige an der Wahrheitsfrage liegt jedoch genau darin, dass auch empirische Wahrheit keine Gewissheit liefert. Vielmehr hat jede empirische Aussage einen über sie hinausweisenden soziokulturellen und historischen Kontext. Sie ist also „kontingent“, das heißt abhängig von endlichen Randbedingungen, die eine letzte Sicherheit über Wahrheit erschweren. 

Empirische Aussagen haben einen unvermeidlich normativen Horizont. Denn sie können nicht voraussetzungslos getroffen werden, sondern Ruhen auf den Säulen von Konventionen, von Technik, von sozialer Verständigung, von Kommunikation im politischen Raum. Die einfache Aussage „Heute regnet es“ wirkt unbestreitbar, wenn es tatsächlich regnet. Und doch regnet es nicht überall, sondern nur an bestimmten Orten. In präziserer Betrachtung hängt die Einordnung von Niederschlag als Regen von geeigneter Messtechnik ab, ja sogar von Konventionen über Grenzfälle wie „Nieseln“ oder „Nebelnässen“.

Dabei geht es nicht nur um die klassische Frage von „Sprache und Wirklichkeit“, sondern in einigen Fällen sogar um empirische Entscheidbarkeit. Die Aussage Einsteins über Gravitationswellen konnte erst 2016 durch entsprechende Messungen belegt werden. Dass schwarze Löcher fotografiert werden könnten, war unsicher bis 2019, als genau dies gelang. Ob es Leben auf dem Mars gibt, wissen wir bis heute nicht. 

Wahrheit ist aber mehr und anderes als die Grenze von Wissen und Nichtwissen. Wir tun uns leicht mit der Wahrheitsfähigkeit von Aussagen, die so offensichtlich sind wie Regen. Wir finden Grenzen empirischer Aussagen in der Messbarkeit von Phänomenen oder in der Entscheidbarkeit von Aussagen. Bei der Frage nach dem Leben auf dem Mars geht es um eine Frage der Messbarkeit. Die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, ist von anderer Art: Auch sie ist wahrheitsfähig und prinzipiell entscheidbar (wir werden es erleben), aber im Vergleich beider Fragen erkennen wir doch den Unterschied zwischen „temporär“ und „grundsätzlich“ nicht entscheidbaren Aussagen.

Wahrheit und das Sprechen über Wahrheit führen uns am Ende zu einem Paradox: Denn in jeder kleinen Wahrheit steckt die ganz große Wahrheit von Welt und Existenz.

Einerseits geht es um ganz praktische Lebensverhältnisse, die keiner großen Reflexion bedürfen. Andererseits ist jedes Sprechen über Wahrheit so voraussetzungsreich, dass es in eine Reihe von Widersprüchen und Paradoxien führt. Eine davon ist der Reichtum an normativen Voraussetzungen bei scheinbar eindeutigen empirisch wahren Aussagen. 

Zu diesen Voraussetzungen gehört beispielsweise der von der Idee her „absolute“ Anspruch von Wahrheit, der im Widerspruch zur Endlichkeit menschlicher Existenz steht. 

Dieser kommt besonders stark bei Aussagen im Zusammenhang mit religiöser Wahrheit zum Ausdruck. Gleichzeitig lässt sich- wie oben ausgeführt- der über den einzelnen Menschen hinausweisende Charakter von „Wahrheit“, also ihr transzendentaler Horizont, nicht einfach überspringen. 

Der in unserer Welt zu Beginn des 21.Jahrhunderts übliche Verzicht auf eine „große Erzählung“, auf „Religion“ oder „Weltanschauung“ ist folglich auch keine gute Lösung, denn er wirkt wie eine Art von Vermeidungshaltung. Intellektuelle Neugier wird hier ausgebremst. Ob es besser ist, auf eine Antwort zu verzichten oder sie zumindest zu versuchen, lässt sich kontrovers diskutieren. Vielleicht sind Religionen auch aus diesem Grund nicht aus der Welt verschwunden.

Es könnte in diesem Zusammenhang sinnvoll sein, sich zunächst einmal auf den sozialen Charakter von Wahrheit, von wahren und falschen Aussagen, zu beschränken.

Wahrheit und Vertrauen im sozialen Raum

Zweifellos findet das Sprechen über Wahrheit im sozialen Raum statt. Aus diesem Grund lassen sich Wahrheit und Vertrauen nicht leicht trennen, weder sprachlich noch sachlich. Wenn wir uns fragen, worin das Gegenteil von Wahrheit besteht, hören wir ja in den seltensten Fällen die klassische Aussage der zweiwertigen Logik: „Das Gegenteil von wahr ist falsch“. Vielmehr sprechen wir von Wahrheit im Gegensatz zum Irrtum, zur Lüge oder gar zum Betrug. 

Wahrheit wird dadurch unabhängig von ihrem sozusagen ontologischen Wahrheitsgehalt zu einer Qualität menschlicher Interaktion. Wer lügt, sagt dem anderen bewusst die Unwahrheit. Wer sich irrt, kann seinen Irrtum aufklären, hat sich aber womöglich nicht ausreichend um die notwendige Sachkunde bemüht. Wer immer wieder irrt, dem traut der andere kein kluges Urteil zu. Wer immer wieder lügt, der belastet die Beziehung zu anderen. Wahrhaftig wiederum ist derjenige, dessen Bemühen um Wahrheit nicht am eigenen, kleinen Vorteil klebt, sondern der in seiner inneren Haltung ein Freund wahrer und wahrhaftiger Verhältnisse ist. Daher ist kein Zufall, dass Wahrheit leicht mit Moralität verbunden wird.

Wahrheit bildet und zerstört so die Brücke zum Vertrauen. Das gilt im individuellen Bereich ebenso wie im größeren Raum sozialethischen Handelns. So wie es eine Authentizität und Wahrhaftigkeit von Personen gibt, so gibt es auch Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit von Institutionen. Das können Unternehmen sein, Parteien, Kirchen oder Gewerkschaften, Staaten oder Staatenbünde.

Da der soziale Raum eigenen Interaktionsgesetzen folgt, gesellt sich zur Frage der Wahrheit unmittelbar der Anspruch nach Geltung und Durchsetzung dessen, was wahr ist oder für wahr gehalten wird. In einem totalitären Staat gibt es keinen Raum für Abweichler. Im eng gefassten Raum von Ideologien und Religionen wird die Abkehr von der einen, gültigen Wahrheit zur Häresie, zur Ketzerei, zum sozialen Verbrechen. In den Religionskriegen des 16. Und 17.Jahrhunderts hat gerade Europa dies leidvoll erfahren. 

Wahrheit wird dann nicht allein zur Frage der sozialen Geltung, sondern zur Frage von Herrschaft und Macht. Der Wahrheit selbst geraten autoritäre Verhältnisse nicht zum Vorteil, weil sie plötzlich nicht im Dienst der Suche nach der besseren Erkenntnis, sondern im Geruch der Festigung politischer, religiöser und ideologischer Interessen steht. Eine nahe Gefolgschaft einer so ideologisierten Wahrheit ist dann Intoleranz und die Bekämpfung von Feinden, nicht Toleranz und die Förderung von Freundschaft.

Wer also Wahrheit im Sinn der Suche nach besserer Erkenntnis erstrebt, der muss sich von Geltungs-und Machtansprüchen frei machen. Wahrheit ist, so gesehen, arm an Macht und reich an Erkenntnis. Zur Wahrheit im Sinn der besseren Erkenntnis gehört der bisweilen dornige, von Irrtümern gepflasterte Pfad der Irrwege. Wer Wahrheit ernsthaft sucht, weiß um die Sackgassen, Umwege und Abwege der Wahrheitssuche. Er wird daher auch tolerant sein gegenüber eigenen und fremden Irrtümern. Im Zweifelsfall geht es um die Suche nach der besseren Erkenntnis, nicht um die Durchsetzung von politischen Geltungsansprüchen im Dienst von „Wahrheit“. 

Die Geschichte der religiösen Toleranz ist daher auch eine Geschichte der Erkenntnis zur Irrtums- und Fehleranfälligkeit des menschlichen Geistes (vgl. R.Forst 2004). Religiöse Toleranz lebt davon, dem anderen das Recht auf seinen eigenen Lernweg zuzuerkennen. Damit ist unvermeidlich verbunden eine innere und äußere Anerkennung des „Rechtes auf Irrtum“ (U.Hemel 2017, 65-78). Gemeint ist damit die persönliche und soziale Anerkennung desjenigen Menschen und derjenigen Menschengruppe, die in ihrer Suche nach Wahrheit nach bestem Wissen und Gewissen zu einer Überzeugung gelangt, die für einen anderen Menschen und eine andere Gruppe (etwa eine religiöse oder weltanschauliche Mehrheit) ein Irrtum oder ein Abweg ist.

Genau diese Anerkennung eines „Rechtes auf Irrtum“ ist der Kern moderner Religionsfreiheit. Religiöse Wahrheit darf ihren Anspruch, so die These, nicht mit Gewalt durchsetzen, sondern muss es hinnehmen, dass andere Menschen und Menschengruppen ihr eigenes Bild von Wahrheit und Wirklichkeit des Lebens und der Welt wahrnehmen und zum Ausdruck bringen.

Wahrheit und Vertrauen in Unternehmen und Organisationen

Wer heute von Wahrheit im sozialen Raum spricht, hat freilich in vielen Fällen keinen ihm bewussten religiösen oder weltanschaulichen Hintergrund. Vielmehr geht es häufig um die praktischen Zwecke von Unternehmen und Organisationen, vom Business bis zur Universität, von der Partei bis zum Roten Kreuz. 

Wahrheit in Diensten einer Organisation oder eines Unternehmens gewinnt dann freilich sehr leicht einen instrumentellen Charakter. Hervorgehoben wird derjenige Aspekt der Wahrheit, der den Zwecken der Organisation dient. Daraus entsteht zwangsläufig die schon angesprochene Spannung zwischen dem unbedarften Erkenntnisstreben auf der einen, dem instrumentellen Streben nach Macht- und Wirksamkeit auf der anderen Seite.

Die Brücke zwischen diesen beiden Polen bildet das Vertrauen, verstanden als Vertrauen zwischen Personen oder als Vertrauen in Institutionen, etwa in die Rechtstaatlichkeit von Gerichten. Vertrauen wird dabei in der aktuellen Forschung gesehen als „positive Erwartung zu den Absichten oder Verhaltensweisen eines anderen“ (D.M.Rousseau 1998). Nach G.S.Leventhal u.a. (1980) lassen sich folgende Dimensionen oder Facetten von Vertrauen unterscheiden:

  • Konsistenz
  • Faktenorientierung
  • Revidierbarkeit
  • Unvoreingenommenheit
  • Moralität und Einhaltung ethischer Standards
  • Ausgewogenheit.

Es ist kein Zufall, dass wir hier eine enge Verbindung zwischen Anforderungen an vertrauensvolles und wahrhaftiges Verhalten feststellen können. Die Dimension der „Konsistenz“ bezieht sich auf die in der philosophischen Logik umfänglich diskutierte Forderung nach Widerspruchsfreiheit. Die „Faktenorientierung“ nimmt Maß am weiten Feld empirischer Wahrheit und Wirklichkeit. Dabei gilt es als ausgemacht, dass es hier stets eine Fülle von Interpretationen gibt, die nicht für sich stehen, sondern einander ergänzen, teilweise aber auch widersprechen können. Daher zeigt die Forderung der „Revidierbarkeit“ den Raum jenseits festgelegter Ideologien auf. Mit „Revidierbarkeit“ wird außerdem eingeräumt, dass Menschen sich irren können, aber auch die Fähigkeit und Chance haben, ihren Irrtum zu revidieren. 

Dies freilich gelingt nur, wenn Ideologie nicht die Oberhand gewinnt. Zur Revidierbarkeit muss also die „Unvoreingenommenheit“ kommen, also jene Offenheit, die den Mut umfasst, auch lieb gewonnene Sichtweisen in Frage zu stellen. Genau das ist Teil jener ethischen Standards, die hier etwas vereinfacht mit „Moralität“ bezeichnet wurden. Zur Moralität im Sinn der Wahrheitserkenntnis gehört dann aber auch das Methodenwissen, idealerweise auch die Reproduzierbarkeit, zumindest aber die Nachvollziehbarkeit von Erkenntnis. Der Punkt der „Ausgewogenheit“ bezieht sich schließlich auf die effektive Wahrnehmung unterschiedlicher Perspektiven und Standpunkte. Nicht eine einzige Facette soll absolut gelten, sondern es geht um eine Balance, eine Fairness in der Gewichtung, einer klugen Abwägung von Standpunkten und Perspektiven.

Vertrauensaufbau ohne eine Haltung der Wahrhaftigkeit wird also auf Dauer nicht gelingen, so könnten wir schlussfolgern. Dabei ist es von besonderem Interesse, dass die hier zitierten Forschungen im Kontext der „Leadership“ stehen, also der Führung von gewinnorientierten Unternehmen.  Paradoxerweise ist die Haltung des Vertrauensaufbaus und der Vertrauensförderung eine Voraussetzung für Höchstleistung. Und das gilt auch dann, wenn Vertrauen zu Unrecht geschenkt oder gar missbraucht werden kann.

Die gegenwärtige Krise der Wahrheit und die Wahrheitsfähigkeit der Welt

Die innere Spannung in dem, was Wahrheit ist und sein kann, ergibt sich aus der Spannung zwischen der Endlichkeit und Vorläufigkeit menschlicher Erkenntnis und dem sozusagen „absoluten“, von endlichen Zusammenhängen losgelösten Anspruch von „Wahrheit“. 

Dies wird heute häufig übersehen, führt aber auch zur gegenwärtigen Krise der Wahrheit. Jeder einzelne Mensch sieht sich und die Welt ja zwangsläufig aus seiner eigenen Perspektive. Eine andere hat er ja nicht. Die Besonderheit der menschlichen Vernunft erlaubt es uns aber, andere Standpunkte wahrzunehmen und uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Die eigene Wahrheit ist folglich doppelt vorläufig: deshalb, weil sie unserer eigenen, revidierbaren Perspektive folgt, und deshalb, weil wir nicht immer die Zeit und Kraft haben, uns ein umfängliches Bild von einer Sache zu verschaffen.

Wie oben schon angesprochen, kann die soziale Durchsetzung von Wahrheitsansprüchen zur Exklusion anderer führen. Wer ein „Definitionsprivileg“ für Wahrheit beansprucht, fördert bisweilen auch die Denkfaulheit derer, die unter dem Einfluss solcher Ansprüche stehen, etwa Mitarbeitende eines Unternehmens, Mitglieder einer Partei oder Angehörige einer Religionsgemeinschaft. Abgeschlossene Weltbilder, die nicht mehr offen für neue Ideen, kritisches Hinterfragen und bessere Erkenntnisse sind, werden leicht zur Ideologie. Mit Wahrheit und der Suche nach Wahrheit haben diese vorgegebenen „Wahrheiten“ dann nichts mehr zu tun, eher mit dem Spiel rund um Interessen und Macht.

Nun sind Interessen und Machtverhältnisse nicht grundsätzlich negativ zu sehen. Neben legitimen gibt es freilich auch nicht legitime Interessen und Formen der Machtausübung. Die Spannung entsteht dann aus der möglichen Instrumentalisierung, also der „Verzweckung“ von Wahrheit, die Einseitigkeit fördert und neue Erkenntnisse bremst und hemmt.

Eine solche Verzweckung der Wahrheit lässt sich grundsätzlich in zwei Richtungen denken. So kann die Möglichkeit von Wahrheit aufgrund der Endlichkeit und der Perspektivität menschlichen Erkennens selbst bestritten werden. Frei nach Friedrich Nietzsche können wir dann sagen: „Es gibt keine Fakten, sondern nur Interpretationen“. 

Der neuzeitliche Relativismus und Skeptizismus wirkt im gegenwärtigen Kontext auf den ersten Blick sympathisch, denn er erkennt die Endlichkeit des menschlichen Erkennens vorbehaltlos an. Gleichzeitig lässt er eine kluge Vorsicht gegenüber überzogenen ideologischen Geltungsansprüchen wie in totalitären Staaten oder fundamentalistisch interpretierten Religionen walten.

Heute, im 21.Jahrhundert, kommt aber auch dieser Relativismus und Skeptizismus an eine Grenze. Das liegt daran, dass er eben die andere Seite des Sprechens über Wahrheit ausblendet: den schon erwähnten transzendentalen Horizont von Wahrheit. Dieser setzt ja eine Wahrheit und Wirklichkeit jenseits des einzelnen Menschen, ja sogar jenseits der gesamten Menschheut voraus.

Die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit der Welt insgesamt ist aber eine sehr steile, ja geradezu metaphysische, vielleicht sogar religiöse Frage. Paradoxerweise werden solche Fragen heute als „Spezialthema“ abgegrenzter Wissens- und Lebensbereiche wie etwa von Theologie und Kirche angesehen. Sie können innerhalb der verschiedenen christlichen und nicht-christlichen Theologien und Religionen angesprochen werden. Für im engeren Sinn wissenschaftliche Zusammenhänge bezeichnet die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit der Welt eher eine Leerstelle und ein Raum schweigsamer Tabus. 

In der Philosophiegeschichte gab es selbstredend zahlreiche Antworten und Antwortversuche auf die Wahrheitsfrage und die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit der Welt. Grob gesehen, lassen sich drei Richtungen unterscheiden, die bis heute wirksam sind, aber meist den nicht explizierten Hintergrund wissenschaftlicher, politischer und alltäglicher Diskussionen bilden.  Bei Platon und den Vertretern seines Denkens (bis hin zu  Joseph Ratzinger oder zu Papst Benedikt XVI) geht es um den „Realismus“ der Ideen. Ohne die vorgängige Idee einer Sache kann es die Sache selbst nicht geben. Ohne die Idee eines Stuhles kann es keine Wirklichkeit des konkreten Stuhles geben, auf dem ich gerade sitze. Es ist sozusagen die „Stuhlheit“ meines Stuhles, der seine Wirklichkeit verbürgt.

Ein solches Denken wird dann besonders plausibel, wenn die Existenz eines Gottes vorausgesetzt wird, der am Anfang allen Anfangs steht und sozusagen den Anfang des Anfangs selbst geschaffen hat. Gott wird in solchem Denken sozusagen zum epistemologischen Garanten der Wirklichkeit der Welt, der Wahrheit von Wirklichkeit und der Wirklichkeit von Wahrheit.

Tatsächlich ist diese Denkform im heutigen gesellschaftlichen Diskurs nicht sonderlich verbreitet. Wir leben vielmehr überwiegend in einer eher „empiristischen Weltsicht“, genauer gesehen in einer aristotelischen Welt, wie sie unter anderem Thomas von Aquin im 13.Jahrhundert wiederentdeckt und neu formuliert hat. Dabei wird die Wirklichkeit der Welt vorausgesetzt, gleich ob sie mit der Existenz Gottes verbunden wird oder nicht. Wahrheit entsteht in dieser Denkform aus dem Akt des Erkennens, der gesehen wird als adaequatio intellectus ad rem, also eine Anpassung des Geistes an die Wirklichkeit. Die menschliche Erkenntnisfähigkeit wird dann mit unserer sinnlichen und intellektuellen Kompetenz verknüpft, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie eben ist.

Zu diesen Thesen wurden und werden leidenschaftliche philosophische Diskussionen geführt, die insbesondere die Grenzen des menschlichen Verstandes und der menschlichen Vernunft in den Blick nehmen. Denn wie sollen wir die Wirklichkeit je so sehen, wie sie ist? Dazu reichen weder unsere Sinne noch eine Denkfähigkeit aus. Und so gibt eben auch eine skeptisch-dekonstruktivistische oder auch pragmatisch-hermeneutische Sicht auf Wahrheit und Wirklichkeit. Gemeint ist damit zunächst die kritische Analyse der Voraussetzungen wahrer Erkenntnis. Jeder Mensch hat ja nur seine eigene, in Raum und Zeit, Kultur und Lebensgeschichte eingebettete Erkenntnis. Wenn es also überhaupt so etwas wie wahre Erkenntnis gibt, dann ist diese stets dreifach konditioniert. 

Denn unsere „Apperzeption“ von Wirklichkeit und unsere Form der Weltwahrnehmung funktioniert nicht ohne den Rückgriff auf Sprache, mit allen Unwägbarkeiten und Verzerrungen, die allein diese mit sich bringt. 

Zweitens können wir selbst beim besten Willen nicht aus dem Gehäuse unserer Zeit und aus dem Gehäuse unseres Körpers herausspringen. Der Lichtkegel unseres Denkens hat eben einen Ausgangspunkt, hier beispielsweise das Jahr 2019 in Mitteleuropa. Unsere Vernunft wird nun sagen, diese Kontextualität spiele keine Rolle: entweder sei eine Sache wahr oder eben nicht wahr. Beim zweiten Nachdenken ist die soziokulturelle Konditionalität eine unhintergehbare anthropologische Bedingung jedes menschlichen Erkennens. Sie ist Ermöglichungsform und Grenze zugleich.

Drittens gibt es kein Erkennen ohne den zumindest impliziten Hintergrund von Wollen und Können, von Interesse und Macht. Unterschiedliche Menschen haben unterschiedliche Interessen. Das gilt für Mieter und Vermieter, für Käufer und Verkäufer, für Wähler und Gewählte. Die Suche nach wahrer Erkenntnis in der Wissenschaft gleicht dabei manchmal dem Schopf des Münchhausens, an dem dieser sich aus dem Sumpf zieht. Anders gesagt: Auch wissenschaftliche Erkenntnis hat Voraussetzungen, folgt Interessen und nimmt Teil am Spiel um Einfluss und Macht. Auch deshalb entbrennt derzeit eine neue Diskussion rund um „Responsible Science“ in Spannung zum Objektivitätsideal der Wissenschaft des 20.Jahrhunderts.

Eine skeptisch-dekonstruktivistische Sicht würde aus den gesagten Randbedingungen zum Schluss neigen, allgemeine Erkenntnis oder wahre Erkenntnis sei nicht möglich. Die „Einheit“ in der Vielheit sei allenfalls ein Trick des Verstandes, um menschliches Zusammenleben halbwegs friedlich zu ermöglichen.

Eine pragmatisch-hermeneutische Sicht würde sich eher einer praxisnahen Haltung verpflichtet wissen. Sie würde sich einer Antwort auf die Aporien der Wahrheitsfrage enthalten und sich so einem epistemologischen Schwebezustand oder einem „Suspendieren“ epistemologisch kontroverser Aspekte der Wahrheitsfrage verpflichtet wissen. Hintergrund dieser Haltung wäre ein Zugang zum Wissen und zum Handeln in der Welt, der praktische Zielsetzungen in den Vordergrund stellt und sich einer Stellungnahme zu metaphysischen Fragen enthalten will.

Wahrheit, Perspektivität und Religion

Wenn wir von Wahrheit sprechen, dann kommen wir an der Spannung zwischen unserer „eingebetteten Erkenntnis“ und dem „großen“ Anspruch der Wahrheit von Wirklichkeit, an der Spannung zwischen unserer Perspektivität und der stillschweigenden Voraussetzung einer Ganzheit und Einheitlichkeit der Welt nicht vorbei (vgl. auch I.Dalferth/Ph.Stoellger 2004).

Was so freundlich als „unterschiedliche Perspektive“ daherkommt, kann freilich zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten führen. War der 9.Mai 1945 für Deutschland ein Tag der Befreiung von der Hitlerdiktatur? Oder der Tag des Zusammenbruchs? War er ein Tag der Katastrophe oder des Neuanfangs?

Historische Beispiele eignen sich besonders gut für die Veranschaulichung des polyphonen Charakters von Wahrheit. Sie können auf Unterschiede der Zugehörigkeit, der Weltanschauung und der Deutungsinteressen verweisen. Im sozialen Raum muss es daher Regeln für den Umgang mit Unterschiedlichkeit, mit Differenz, Divergenz und Diversität geben. Damit friedliches Zusammenleben möglich wird, darf dann eben eine bestimmte Perspektive nicht mit Gewalt durchgesetzt werden können. Darin liegt das Wesen einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft. 

Der Preis dafür ist aber für die Wahrheitsfrage keineswegs trivial. Gerade weil unterschiedliche Perspektiven im Interesse des guten Zusammenlebens mit der Forderung nach Toleranz verbunden werden, zieht die Frage nach dem Horizont der Wahrheit wirklich oder scheinbar die Gefahr nach sich, eine bestimmte Sichtweise zu verabsolutieren.

Eine solche Gefahr entsteht aber nur dann, wenn Menschen auf das vernünftige Argument, auf den Austausch im Dialog, auf das Lernen voneinander und miteinander und auf die Rationalität eines solchen humanen Zugangs zur Welt verzichten.

Versteht man die Suche nach Wahrheit hingegen als ein großes Gespräch der Menschheitsfamilie, lässt sich diese geradezu als Polyphonie verstehen. Denn unterschiedliche, legitime Perspektiven ergänzen einander und schaffen ein vielstimmiges und vielschichtiges Bild von Der Welt. Die Legitimität unterschiedlicher Perspektiven wird dabei vorausgesetzt und eher als Reichtum denn als Bedrohung empfunden.

Wahrheit wird dann zu einem Anspruch an Methode und Miteinander. Die „Symphonie“ der Wahrheit entsteht erst dadurch, dass wir miteinander um die Vorläufigkeit unseres Erkennens wissen und mit diesem Wissen produktiv umgehen. 

Das Streben nach Wahrheit wird sich dann in höchst unterschiedlichen Formen entfalten. Da ist zunächst einmal die lebensgeschichtliche Wahrheit jeder Person, die in ihrer Eigenart, mit ihrer Familiengeschichte, mit ihren biographischen Wegen und Irrwegen Wahrhaftigkeit und Autentizität sucht. 

Eine andere Form ist das Streben nach Wahrheit in der Wissenschaft. Hier ist die Suche nach Wahrheit eingebettet in den Rahmen nachvollziehbarer Methodik. Sie ist aber auch abhängig von Messverfahren und Messtechnik, von sozialen Konventionen und Anerkennungsverhältnissen für Argumente und Gegenargumente. Gute Wissenschaft wird trotz dieser ausgewiesenen Abhängigkeiten offen bleiben für das bessere Argument. Sie wird einer Hermeneutik der Neugier folgen, die Wege jenseits etablierter Denkschulen sucht und findet. Sie wird unterschiedliche Perspektiven anerkennen, aber ihren Erkenntniswert auch kritisch schärfen.

Schließlich können auch Religionen als eine Form des Strebens nach Wahrheit gesehen werden. Die Suche nach religiöser Wahrheit hält die Widersprüchlichkeit menschlicher Existenz aus, ohne sie komplett rational auflösen zu können oder zu wollen. Der rationale Kern von Religion liegt daher in gewisser Weise in der inneren Anerkennung der Endlichkeit und Unabgeschlossenheit menschlichen Erkennens. Nicht das Vorgeben von Dogmen, sondern das Aushalten der Unabgeschlossenheit menschlicher Wahrheitssuche kennzeichnet Religion- auch und nicht zuletzt das Christentum.

Vorausgesetzt wird dabei in axiomatischer Art und Weise die Einheit von Welt und Wirklichkeit.  In religiöser Sprache wird diese Welteinheit durch Gott garantiert. In nicht-religiöser Sprache wird die Einheit der Welt mit Blick auf die Geltung der Naturgesetze stillschweigend vorausgesetzt, aber in aller Regel nicht weiter thematisiert. Wer von Wahrheit spricht, kann aber vom Horizont der Einheit von Welt und Wirklichkeit trotz aller Differenz nicht absehen. Dies ist trotz aller Vorläufigkeit menschlichen Erkennens eine spannende Einsicht.

Die Weltethos-Idee als Chance für gutes Zusammenleben in Wahrheit und Vertrauen

An dieser Stelle führt die Frage nach Wahrheit in praktischer Absicht zur Aufgabe des guten Zusammenlebens und der bestmöglichen Form der Wahrheitssuche.  Denn es ist unser aller Aufgabe, in der Welt des 21.Jahrhunderts Verantwortung für uns und unsere Welt zu übernehmen. Dazu brauchen wir Formen der „praktischen Wahrheit“, die die Spannung zwischen Einheit und Vielheit, zwischen der Perspektivität der Wahrheitserkenntnis und der Absolutheit eines Horizontes von Wahrheit und Wirklichkeit zusammenhält.

Hier bietet sich tatsächlich die von Hans Küng inspirierte und seitdem weiter entwickelte Weltethos-Idee an (vgl. H.Küng 1999, U.Hemel 2019). Denn hier geht es darum, den Eigenwert unterschiedlicher Formen und Perspektive der Wahrheitssuche in Religionen und Wissenschaften zusammenzudenken und im Sinn der Vertrauensförderung, aber auch des guten weltweiten Zusammenlebens zur Entfaltung zu bringen.

Speziell an der Weltethos-Idee ist die Anerkennung eines axiomatischen Ganzen von Wahrheit und Wirklichkeit, so wie er in den Suchprozessen der Religionen, implizit aber auch in den Bemühungen der Wissenschaften zum Ausdruck kommt. Die Anerkennung dieses Suchprozesses muss aber ergänzt werden durch die Einsicht in die Vorläufigkeit aller menschlichen Welterkenntnis, auch in religiösen und auch in wissenschaftlichen Fragen. 

Die Suche nach Wahrheit im Kontext der Weltethos-Idee setzt also eine gewisse Bescheidenheit, aber auch einen sowohl diskursiven wie auch dialogischen Lernweg voraus. Dieser Lernweg zeigt sich biographisch in offener, pluralitätsfähiger Identität, also in einer Lebensform, die das Recht auf die eigene Perspektive mit der inneren und äußeren Anerkennung der Perspektive anderer zu verbinden weiß.

Der Königsweg der Suche nach Wahrheit jenseits aller technischen Methodik ist daher das Begegnungslernen und das Ringen im Dialog. Wahrheit wird dann nämlich zu einem kollektiven Suchprozess in verschiedenen Lebensbereichen, von der Wissenschaft bis zur Religion, von der Unternehmenspraxis bis zur nationalen und globalen Politik.

Für Unternehmen bedeutet dies beispielsweise, dass sie als Akteure ihrer Zivilgesellschaft ihrerseits den aktiven Austausch mit der sie umgebenden Gesellschaft als Teil ihrer Berufung suchen müssen.  Unternehmen kommunizieren ja mit ihrer Umwelt. Dazu gehören nicht zuletzt das Bemühen um Vertrauen durch die Suche nach der stets noch besseren Lösung und die Offenheit für die neue Forderung nach Werteorientierung und ethischer Unternehmenskommunikation.

Für Wissenschaft und Gesellschaft bedeutet dies die Organisation des Strebens nach Wahrheit im Sinn kollektiver Suchprozesse. Thematisch geht es dann beispielsweise und unter vielen anderen Fragen um die digitale Transformation, die Herausforderungen durch künstliche Intelligenz oder die gegenwärtige Klimakrise.

Ziel ist dabei ein gutes Zusammenleben („Buen Vivir“) in Mitwelt, Umwelt und Nachwelt. Vorausgesetzt wird dann die ausdrückliche Anerkennung der Wahrheitsfähigkeit der Welt, des über den Menschen hinausweisenden Horizonts der Wahrheitsfrage, aber auch der Ergebnisoffenheit und Bescheidenheit der Suche nach der Wahrheit. Wahrheit ist und bleibt in diesem Sinn ein Anspruch an Methode und Miteinander, auch in der Demokratie, auch in der globalen Zivilgesellschaft.

LITERATUR

I.Dalferth/Ph.Stoellger (Hrsg.), Wahrheit in Perspektiven, Probleme einer offenen Konstellation, Tübingen 2004

R.Forst, Toleranz im Konflikt, Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt/M. (Schöningh) 2004

J.Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd.1-2, Berlin (Suihrkamp) 2019

U.Hemel, Tolerance and the “Right of Error” in a World of Religious Plurality, in: Markus Krienke/Elmar Kuhn (Hrsg.), Two Indispensable Topoi of interreligious Dialogue, Wien 2017, 65-78 

U.Hemel (Hrsg.), Weltethos für das 21.Jahrhundert, Freiburg/Br. (Herder) 2019

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G.S.Leventhal, J.Karuza, W.R.Frey, Beyond Fairness: A Theory of Allocation Preferences, in: G.Mikula (Hrsg.), Justice and Social Interaction, New York 1980, 167-218

D.M.Rousseau, S.B. Sitkin, R.S.Burt, C.Camerer, Not so Different After All: A Cross-Discipline View of Trust, in: Academy of Management Review (23), 1998,  393-404


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Posted by Ulrich Hemel