April 2020

Selbstbestimmtes Leben in der Corona-Krise

Ein Lernprogramm für solidarische Identitätsbildung

Krisen haben ganz unterschiedliche Ursachen: Der Zerfall Jugoslawiens nach dem Zusammenbruch des Kommunismus führte zum Bürgerkrieg, die leichtsinnige Kreditvergabe an finanziell schwache Hauskäufer in den USA löste die Finanzkrise 2008/2009 mit ihren „Subprime-Krediten“ aus, und nun erleben wir mit dem Corona-Virus eine weltweite Gesundheitskrise.

Ist die Globalisierung damit am Ende? Eine solche Schlussfolgerung wäre vorschnell. Wenn Menschen das Virus übertragen, kommt es zu Reisebeschränkungen. Der digitale Austausch von Informationen und Unterhaltungsprogrammen geht aber weiter. Auch der Austausch von Gütern und Dienstleistungen wird auf Dauer nicht zurückgehen: zu groß sind die beidseitigen Vorteile aus guten Handelsbeziehungen.

Werden autoritäre Regimes erstarken? Verliert die Demokratie? Das ist ebenso unsicher, denn gesundheitliche Folgen spürt nun mal jeder Mensch am eigenen Leib unmittelbar. Gesundheit ist eine Frage der Primärerfahrung: Ich weiß, wann es mir schlecht geht, dafür brauche ich weder eine Zeitung noch Twitter-Nachrichten. Wer hier als autoritärer Herrscher den Clown gibt, dem bleibt alsbald das Lachen im Halse stecken. Demokratische Politiker sind nicht die besseren Menschen, aber sie stehen vor dem Zwang, ihre Handlungen zu erklären, Maßnahmen zu begründen und ganz generell in Kommunikation einzutreten. Der Vorteil der Demokratie ist folglich ihr Zwang zur öffentlichen Kommunikation. Das schafft Vertrauen, weil die Gewissheit besteht, dass auch die Meinungen anderer zum Ausdruck kommen und gehört werden.

Hat der Kapitalismus ausgedient?  Stößt die soziale Marktwirtschaft an ihre Grenzen?  Auch wer solche Gedanken testet, kommt nicht weit. Zum einen gibt es einen riesigen Unterschied zwischen einem ungezähmten, auf Kapitalanhäufung ausgerichteten Kapitalismus (oder „Casino Capitalism“, wie die Engländer sagen) und dem, was wir in Deutschland zu Recht soziale Marktwirtschaft nennen. Denn die soziale Markwirtschaft setzt auf die Kombination von wirtschaftlicher Freiheit mit staatlicher Regulierung. Sie setzt auf soziale Mindeststandards und begrenzt die Auswüchse ungehinderten Profitstrebens. Und genau deshalb ist sie überlebens- und wandlungsfähig: Selbst die im Eiltempo durchgepeitschten Notgesetze spiegeln dies, etwa wenn säumigen Mietzahlern in der Notsituation das weitere Nutzungsrecht für ihre Wohnung zugesprochen wird.

Aber was ändert sich dann überhaupt, wenn soziale Marktwirtschaft, Demokratie und Globalisierung weiter gehen? Eine mögliche Antwort ist nicht ganz leicht, denn sie umfasst technische, soziale und psychologische Momente.

Technisch wirkt die gegenwärtige Corona-Krise wie ein Katalysatorr für die Digitalisierung. Telefon- und Videokonferenzen, digitale Arbeitsformen, ja sogar digitale Veranstaltungen bis hin zu digitalem Schulunterricht haben in wenigen Wochen einen Schub bekommen wie zuvor in Jahren nicht. Die digitale Transformation wirkt aber schon in sich selbst wie ein Epochenbruch, weil sie Verhaltensweisen im Alltags- und Berufsleben so tief durchdringt, dass wir von einem „vorher“ und einem „nachher“ sprechen können. Lernen in der Krise heißt dann, sich neu und verstärkt auf die digitale Welt einzustellen, aber auch einzuüben, wo deren menschliche und sozialen Grenzen liegen sollen.

Im sozialen und politischen Bereich erleben wir eine Renaissance der Staaten. Dabei geht es nicht mehr wie im 19.Jahrhundert einfach um „Nationalstaaten“ mit ethnisch scharf gezogenen Rändern. Ein solches Konzept stößt ja auch dort auf eine Grenze, wo es versucht wird und wurde, so etwa in Ungarn und Polen. Seinen abstoßenden Ausdruck fand es im Begriff der „ethnischen Säuberung“, der in den Balkankriegen vor gut 20 Jahren unsägliches Leid über die betroffenen Menschen gebracht hat. Nein: Die Renaissance des Staates bezieht sich auf die Balance flexibler Handlungsfähigkeit in der Krise. Dabei geht es weder um den eigenen Kirchturm noch um die ganze Welt. Genau aus diesem Grund richten sich die Menschen eher nach ihrem Bundesland, vielleicht nach der Bundesregierung, aber jedenfalls nicht nach der EU-Kommission aus. Das muss kein Misstrauen sein oder Euroskepsis ausdrücken. Stattdessen ist es wichtig, ein Gespür für die richtige Ebene politischen Handelns zu gewinnen. 

Dabei gibt es Übertreibungen, etwa wenn der kleine Grenzverkehr zwischen Tschechien und Bayern aufgehoben wird oder wenn saisonale Erntearbeiter nicht mehr ins Land gelassen werden – man könnte die betreffenden Personen auch testen statt auszusperren. Trotz solcher Auswüchse gehört es zu den Lernerfahrungen der Krise auch, dass gelebte Solidarität wieder ein Gesicht erhält. Wir erfahren, dass Menschen sich füreinander einsetzen, dass sie mehr tun, als sie müssen, und dass der Zusammenhalt uns guttut. Die Eindämmung des Virus durch soziale Distanzierung bewirkt eben auch das Gegenteil: ein neues Gespür für soziale Nähe, mit den eigenen Nächsten, aber auch mit Fremden.

Lernen in der Krise hat aber auch psychologische Aspekte. Wir erfahren uns selbst neu. Wir sind gezwungen innezuhalten und zu überlegen, wer wir sind, was wir wollen und wohin wir gehen. Wir erfahren, dass unser Verhalten Folgen hat. Denn es wirkt sich aus, wenn wir aus dem Haus gehen; es wirkt sich aus, wenn wir Toilettenpapier horten oder eben bewusst darauf verzichten; es wirkt sich aus, dass wir um die älteren und kranken Familienmitglieder bangen. Wir haben Angst und müssen mit der Angst umgehen, ohne in Panik zu geraten. Wir entdecken, wie schön es zuhause sein kann, fühlen uns aber auch eingesperrt und ausgesetzt. Das sind menschliche Erfahrungen, die im scheinbar unbegrenzten Meer der Möglichkeiten vor der Krise bisweilen untergegangen waren.

Lernen in der Krise kann also einen Anstoß geben zu dem, was ich gerne solidarische Identitätsbildung nennen möchte. Wir sind nicht allein. Wir haben Verantwortung für uns selbst und die uns anvertraute Welt. Wir haben Grenzen, aber wir gehen auch mit den Grenzen anderer um, im Idealfall gütig und kreativ. Die Weltethos-Idee, die sich als Lernprogramm für Selbst- und Weltverantwortung versteht, spiegelt diese Gedanken ganz ausgezeichnet. Nein, niemand wünscht sich eine Krise, erst recht nicht von diesem gigantischen Ausmaß. Aber wenn uns die gegenwärtige Zeit hilft, im Sinn solcher solidarischer Identitätsbildung zu lernen und zusammenzuwachsen, dann wird es auch gelingen, das Beste aus ihr zu machen und an ihr zu wachsen- menschlich, sozial und politisch.


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Posted by Ulrich Hemel

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