Abstract [en]: After the boom of tourism beginning in the 1960s, people regarded the historic Old Town of Brazil’s metropolis Salvador de Bahía as an ideal means for making massive profits. The following redevelopment measures led to a boom as desired but at the expense of the local society from which about 90% were displaced to the peripherical slum areas. People in power pretended an incompatibility of interests of the residents and stakeholders of tourism. In this way, they tried to justify the restaurations, totally ignoring the welfare of lower class people. Salvador de Bahía became a prime example for the unequal distribution of wealth which is characteristic of Brazil; the unmeasurable wealth of just a few faces the precarious situation of the masses living in poverty.

Abstract [de]: In Folge des in den 1960ern einsetzenden Tourismusbooms sah man die im kolonialhistorischen Stil errichtete Altstadt der brasilianischen Millionenmetropole Salvador de Bahía als ideales Mittel, um massive Gewinne einzuholen. Die darauffolgende Sanierungsphase brachte den Akteuren zwar den gewünschten ökonomischen Aufschwung, ging jedoch eindeutig auf Kosten der angestammten Bevölkerung, von der rund 90% in die Elendsviertel am Rande der Stadt verdrängt wurden. Indem man eine angebliche Unvereinbarkeit der Verfolgung von Bewohnerinteressen und einer für den Tourismus angemessenen Infrastruktur proklamierte, versuchte man die Restaurationsarbeiten, die das Wohl der sozialen Unterschicht gänzlich ausblendeten, zu rechtfertigen. Salvador de Bahía wurde zum Musterbeispiel der für Brasilien charakteristischen Verteilungsungerechtigkeit, bei der der unermessliche Reichtum einiger Weniger der prekären Situation der Massen, die ihr Leben in Armut fristen, gegenübersteht.


November 2016

Gentrifizierung und ‚Recht auf Stadt’ in Salvador de Bahía

Ein Beitrag von




1. Einführung

Aufgrund ihrer im Kolonialstil errichteten Altstadt wurde die heute rund drei Millionen Einwohner umfassende brasilianische Metropole Salvador de Bahía (Rothfuß 2007: 237) 1985 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt.

Gerade das Phänomen der Gentrifizierung, bei dem sozial schwächere Gruppen in die Peripherie verbannt werden, während wohlhabendere Bürger sich im Zentrum niederlassen und es so zu einer Aufspaltung der Gesellschaft kommt, kann in Salvador de Bahía beobachtet werden. Infolge des Tourismusbooms wurden die ohnehin schon in einer äußerst prekären Lage lebenden Anwohner in umfassenden Sanierungsprozessen von zahlungskräftigeren Schichten und internationalen Akteuren verdrängt. Derartige Prozesse widerstreben dem französischen Philosophen und Soziologen Henri Lefebvre (1901-1991), der die Forderung eines ‘Rechts auf Stadt’ stellt. 

Dieser Beitrag soll das Problem der Gentrifizierung in der Millionenmetropole Salvador beleuchten und überprüfen, inwiefern sich Lefebvres Theorie des ‘Rechts auf Stadt’ auf die Wirklichkeit übertragen lässt.

2. Gentrifizierung

Der Begriff „Gentrifizierung“ bezeichnet gemeinhin einen „soziale[n] Umstrukturierungsprozess […], der sich in vielen Städten beobachten lässt: eine statusniedrige Bevölkerung wird durch eine tatushöhere Bevölkerung ausgetauscht.“ (Meyer 2007: 275) Vor der Industrialisierung zeichneten sich die noch von der Aristokratie bewohnten städtischen Zentren durch ein ausschweifendes soziales und politisches Leben, das von hoher Konsumbereitschaft geprägt war, aus. Mit der Zeit wurden die Zentren von niedrigeren Bevölkerungsschichten eingenommen und als Wohnfläche genutzt, wodurch diese zunehmend verschmutzten und an Pracht verloren (Meyer 2007: 274). Schließlich erfolgte eine umfassende Sanierung der Gebäude, so dass wohlhabende Bürger sich dort erneut niederließen und so das niedriger situierte Volk an den Stadtrand verdrängten (Meyer 2007: 275). Somit kommt es bei der Gentrifizierung zu einer fortschreitenden Trennung der Gesellschaft, die beispielsweise nach Gruppen oder Ethnien mit je unterschiedlichen Aktivitäten, Kenntnissen und Funktionen erfolgen kann. Auf dem Prinzip der Impulsion und Expulsion beruhend bildet das Stadtzentrum einen auf Wissen, Reichtum und Macht beruhenden Lebensmittelpunkt, der die weniger Privilegierten, die aus diversen Gründen nicht zur Teilhabe fähig sind, in die Peripherie verbannt (Meyer 2007: 272). Ein solcher Umwandlungsprozess führt somit dazu, dass die städtischen Randbezirke immer weiter wachsen, während die Kernstädte zunehmend an Bevölkerung verlieren (Meyer 2007: 361). Um derartigen Prinzipien der aktiven Verdrängung und des Ausschlusses breiter Bevölkerungsschichten entgegenzuwirken, stellt Lefebvres ,Recht auf die Stadt’ einen sinnvollen Ausgangspunkt dar.

3. Recht auf Stadt

Das ,Recht auf Stadt’ impliziert die Möglichkeit des Stadtbewohners, in sämtlichen Bereichen des urbanen Lebens teilzunehmen (Meyer 2007: 273), also auch selbstbestimmt dort leben und sich aufhalten zu können, wo er im Zuge der Gentrifizierung womöglich verdrängt worden ist.

Gerade die für die Globalisierung charakteristische neoliberale Umstrukturierung stellt laut Mark Purcell ein zentrales Problem dar, da die Kontrolle nur noch indirekt von den Bürgern und den von ihnen gewählten Regierungen ausgeht und stattdessen ein zunehmender Einfluss seitens transnationaler Unternehmen und Organisationen vorliegt (Purcell 2002: 99). Die Stadtbewohner verlieren mehr und mehr ihr Mitspracherecht und somit auch ihr Recht, an Entscheidungen bezüglich Gestalt und Leben in ihr aktiv teilzuhaben (Purcell 2002: 100). Da die Institutionen, die eine Entscheidungsgewalt innehaben, im Zuge der Globalisierung zunehmend außerhalb des jeweiligen Staates ansässig sind, werden Entscheidungen auch vermehrt von Akteuren getroffen, die in keinerlei Verbindung zum eigentlich demokratischen Wähler stehen. So sind laut Purcell neue Strategien, die der wachsenden Entmündigung der Bürger entgegenwirken, vonnöten; Lefebvres ,Recht auf Stadt’ stellt hier eine geeignete Alternative dar (Purcell 2002: 101). Hier fordert Lefebvre, sich diesen neuen Strategien der Globalisierung zu widersetzen, damit der Stadtbewohner sein Mitspracherecht zurückerlangt (Purcell 2002: 99) und so eine neue Form urbaner Demokratie ins Leben gerufen werden kann (Purcell 2002: 100). Auch von derzeitigen Formen des Stimmrechts in liberalen Demokratien distanziert Lefebvre sich, da der Bürger die sozialen Prozesse, die seine Stadt betreffen, meist nur indirekt beeinflussen kann. Lefebvre erstrebt stattdessen, allen Bewohnern, die sich in der Stadt aufhalten – also nicht nur Staatsangehörigen – eine direkte Stimme und Entscheidungsgewalt zu geben (Purcell 2002: 102f.).

Sein ,Recht auf Stadt’ beinhaltet dabei zwei grundlegende Rechte: zum Einen das Recht auf Teilnahme, das dem Bewohner die Möglichkeit gibt, an der Produktion seines spezifischen städtischen Raums teilzuhaben. Zwar müssen Entscheidungen hier nicht nur von Bewohnern getroffen werden, diese sollen allerdings eine zentrale und direkte Rolle spielen (Purcell 2002: 102). Zum Anderen soll der Bewohner das Recht auf Aneignung haben, den Raum also so nutzen können, dass er ein selbstbestimmtes Leben führen kann, in dem auch die Integration alternativer Lebensentwürfe möglich ist. Somit spricht Lefebvre sich eindeutig gegen kapitalistische Produktionsprozesse aus, die die genannten Rechte eindeutig bedrohen würden (Purcell 2002: 103). Da Lefebvre allen Bewohnern eine politische Teilhabe einräumt, widersetzt er sich Marginalisierung und Ausschluss von Randgruppen (Meyer 2007: 278). 

Im Folgenden sollen Lefebvres Ansätze am Beispiel der brasilianischen Stadt Salvador de Bahía veranschaulicht werden. Es wird sich zeigen, dass der Tourismus eine zentrale Rolle in der Verdrängung niedriger Bevölkerungsschichten spielt.

4. Eine Stadt wird zum Weltkulturerbe – Die Sanierungsmaßnahmen in Salvador

Im Nordosten Brasiliens gelegen war Salvador de Bahía von 1549 bis 1763 erste Hauptstadt der noch portugiesischen Kolonie (UNESCO), wobei florierende Exporte von Zuckerrohr und Kakao sie zur bedeutendsten Hafen- und Handelsstadt machten (Rothfuß 2007: 237). Als Arbeitskräfte auf den zahlreichen Plantagen fungierten Sklaven, die von Afrika nach Brasilien, auf den ersten Sklavenmarkt in der Neuen Welt, gebracht wurden (UNESCO). Menschenverachtend wurden diese seit 1807 an einem Pranger mitten in der Stadt, dem sogenannten Pelourinho, öffentlich ausgepeitscht. Dieser wurde namensgebend für die Altstadt, so dass letztere noch heute als Pelourinho bekannt ist (Rothfuß 2007:238).

In der Oberstadt, die als „Herzstück aus kolonialbarocker Architektur“ (Rothfuß 2007: 237) bezeichnet wird, entstanden in Zeiten des Zucker- und Tabakbooms bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts Gebäude, die sich im Besitz der Oberschicht und Großgrundbesitzer befanden; das Pelourinho wurde zur vornehmsten Gegend Salvadors (ibid.). Dies änderte sich Mitte des 19. Jahrhunderts: Der Rückgang in den Exporterfolgen von Kaffee und Zucker einhergehend mit zunehmender Arbeitslosigkeit zwang die Hauseigentümer, ihren Besitz zu verkaufen, so dass dieser zum Beispiel von Banken und Versicherungsgesellschaften übernommen und weiter vermietet wurde. Mit dem Abwandern der Oberschicht siedelten sich zunehmend Angehörige der unteren sozialen Schichten an (Rothfuß 2007: 238). Im Zuge der Erdölforderung im Hinterland Salvadors im 20. Jahrhundert folgte eine Migrationswelle aus anderen Gegenden des Bundesstaats Bahía, so dass es in den Folgejahren zu einem massiven Bevölkerungsanstieg kam. Zählte Salvador 1940 noch etwa 290.000 Bewohner, waren es 1970 bereits 1,1 Millionen, was sich auch in der Nutzung der Wohngebäude zeigte. Diese wurden in regelrechte Massenunterkünfte mit mehr als 100 Bewohnern in einem zwei- bis dreistöckigen Haus umgewandelt, wobei die durchschnittliche Wohnfläche für ganze Familien selten mehr als 4m² aufwies (Rothfuß 2007: 239). Die einst vornehmste Gegend Salvadors hatte sich innerhalb weniger Jahrzehnte in ein einziges Elendsviertel verwandelt.

Als man in den 1960er Jahren weltweit eine massive Zunahme des Tourismus verzeichnen konnte, verfolgte die Stadtverwaltung Salvador de Bahías Sanierungsmaßnahmen für die gesamte Altstadt. Ein erster Schritt war 1967 mit der Gründung der bundesstaatlichen Denkmalbehörde IPAC getan, worauf wenige Jahre später erste Ausbesserungen in der Infrastruktur folgten. Während diese noch vorrangig von der UNESCO und der Weltbank finanziert wurden, übernahmen 1972 die brasilianische Regierung und der Bundesstaat Bahía die Kosten (Rothfuß 2007: 240f.). Auch in den 1980ern fuhr man mit den Sanierungsmaßnahmen fort. Man beschränkte sich fast ausschließlich auf die Restauration kulturhistorischer Objekte, nachdem der bahianische Handelsverband in Folge von Finanzschwierigkeiten gefordert hatte, nur wirtschaftliche Angelegenheiten „im Sinne des höherwertigen Gemeinwohls“ (Rothfuß 2007: 243) in den Blick zu nehmen und alle Maßnahmen zur Verbesserung der Wohnsituation einzustellen. Dies änderte sich auch nicht, als Salvador zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurde und man im immer größere Ausmaße annehmenden Tourismus einen vielversprechenden Wirtschaftsfaktor sah (ibid.). UNESCO, Weltbank und diverse Kreditanstalten des Bundesstaats unterstützten die Millionenmetropole Salvador erneut in finanzieller Hinsicht, verfolgten mit ihrer Forderung des Objektschutzes jedoch ausschließlich ökonomische Interessen. Als Kernziele formulierte auch die IPAC lediglich die „Förderung der baulichen Rehabilitierung und Restaurierung“ sowie eine „Entwicklung ökonomischer Aktivitäten“ (Rothfuß 2007: 244); die Interessen der Bewohner wurden gänzlich in den Hintergrund gerückt. Stattdessen betrachteten privatwirtschaftliche Akteure, der Handelsverband, Teile der IPAC-Leitung sowie der damalige Gouverneur Magalhães die Bewohner als eigentlichen „Störfaktor“ (Rothfuß 2007: 245), der eine umfassende Entwicklung des Tourismus als vermeintlich „einzig wahre Heilsbringung“ (Rothfuß 2007: 234) verhindere.

So wurde die ansässige Bevölkerung im Laufe der Sanierungsarbeiten systematisch aus ihren Wohnungen verdrängt. Während eine Umsiedlungspraxis anfangs noch zögerlich umgesetzt wurde, ging man in den Folgejahren dazu über, den Betroffenen eine einmalige Entschädigungssumme zu zahlen und sie dazu zu zwingen, ihre Wohnungen innerhalb von drei Tagen zu verlassen. Zwar hatten die meisten Bewohner mit der Entschädigung von umgerechnet etwa 400€ noch nie über so viel Geld verfügt; realiter war diese Summe jedoch immer noch deutlich geringer als die, die den Bewohnern eigentlich zugestanden hätte. Dies zeigt sich auch mit Blick auf die gesamten Kosten, die für die Sanierung aufgebracht wurden: Ungefähr 3.600 Familien wurden mit insgesamt etwa 4,1 Millionen Real entschädigt. Da die Gesamtkosten sich auf rund 114 Millionen Real beliefen (Rothfuß 2007: 248), betrug der finanzielle Aufwand für die zahlreichen Bewohnerschicksale nicht einmal 4% der kompletten Ausgaben.

Zu legitimieren versuchte man eine derartige menschenverachtende Praxis im Wesentlichen durch zwei Diskursstränge. Auf der einen Seite erklärte man das Pelourinho zur gefährlichsten Zone der Stadt, in der sich nur zwielichtige Gestalten aufhalten würden. Gerade das Maciel-Viertel genoss einen durchweg zweifelhaften Ruf, da es einerseits als das Prostitutionsviertel der Stadt galt, in dem sich einer Untersuchung zufolge mehr als jede zweite Frau im erwerbsfähigen Alter prostituierte. Aufgrund hoher Kriminalisierung wurde die Gegend in den Medien andererseits als „Schule des Verbrechens“ verurteilt, wobei gerade der damit einhergehende Drogenhandel als Gefahr für umliegende Gebiete dargestellt wurde. Auch die unhaltbaren hygienischen Zustände motivierten die Akteure der Sanierungsarbeiten nicht, den Bewohnern bei Säuberungen zu Hilfe zu kommen, sondern stigmatisierten das Pelourinho lediglich als eine einzige große „Müllhalde“ (Rothfuß 2007: 241f.).

Gefürchtet war vor allem die Petrulha mista, bei der die Militärpolizei immer wieder gewaltsam in die Häuser drang, um teils die gesamte Einrichtung zu zerstören. Vollkommen willkürlich wurden auf den Straßen Passanten und Prostituierte niedergeschlagen und verhaftet, um eine „Säuberung“ des historischen Stadtzentrums voranzutreiben (Rothfuß 2007: 243). Der Großteil der Bewohner wurde so in die Elendsviertel am Stadtrand verdrängt (Rothfuß 2007: 245), so dass von den rund 10.000 Menschen, die 1980 noch im Stadtzentrum lebten, 2005 keine 1.800 Bewohner mehr geblieben waren (Rothfuß 2007: 234).

Zeitgleich hoben die Medien erste Erfolge der Sanierungsprozesse hervor (Rothfuß 2007: 246). Diese zeichneten sich vor allem durch enorme Transformationen hinsichtlich der touristischen Infrastruktur aus, da inzwischen rund ein Drittel der Gebäude im Pelourinho ausschließlich für touristische Zwecke in Form von Souvenirläden, Gastronomie, Hotels und Ähnlichem genutzt wurde, während nur noch etwa 6% der Anlagen eine Wohnfunktion zukam. Gerade die Entstehung zahlreicher Galerien und Ateliers verdeutlicht darüber hinaus den Wandel hin zur konsumorientierten, auf Ästhetik erpichten Gesellschaft (Rothfuß 2007: 247).

Zwar legte man den Schwerpunkt der letzten 2002 beginnenden Restaurationsphase auf die Wohnnutzung und schuf im Zuge dessen rund 300 neue Wohneinheiten. Diese waren jedoch für Familien mit einem monatlichen Einkommen zwischen drei und sechs Mindestlöhnen vorgesehen. Da der Großteil der verbliebenen alteingesessenen Bewohner nur über ein bis maximal drei Mindestlöhne verfügte, war es diesen in der Regel nicht möglich, die wenigen Wohneinheiten zu beziehen, so dass diese fortan vor allem von wohlhabenderen Bürgern, die nicht selten im Tourismus tätig waren, genutzt wurden (Rothfuß 2007: 248).

5. Gentrifizierung und Recht auf Stadt in Salvador

Die soziale Transformation, die sich über mehr als vier Jahrzehnte in Salvador de Bahía vollzogen hat, kann zweifelsohne als Gentrifizierung beschrieben werden: die einstigen Prachtbauten wurden in Zeiten ökonomischer Krisen von der Unterschicht besiedelt und für diese über Generationen hinweg zur Heimat. Mit einer umfassenden Gebäudesanierung einhergehend zogen zahlungskräftigere Schichten zu und verdrängten infolgedessen die weniger gut Situierten. Da letztere sich gezwungen sahen, sich an den Stadträndern niederzulassen, kam es zu einer fortschreitenden Trennung der Gesellschaft in soziale Klassen.

Die Gefahr transnationaler Unternehmen für die lokale Bevölkerung zeigt sich in Salvador in der UNESCO und der Weltbank, ohne deren Hilfe die umfassenden Sanierungsarbeiten nicht in die Tat hätten umgesetzt werden können. Eine besondere Rolle spielt hier der Tourismus, der mit seiner Ausbreitung erst das Interesse internationaler Firmen an der Altstadt steigern konnte und schließlich dafür sorgte, dass die aus aller Welt kommenden Akteure nur noch einen möglichst großen ökonomischen Aufschwung verfolgten und zeitgleich die Interessen der Anwohner gänzlich ignorierten.

Hier setzt Lefebvres Konzept des ,Rechts auf Stadt’ an, welches das Ziel verfolgt, dem eigentlich demokratischen Bürger sein direktes Mitspracherecht zu geben sowie die Möglichkeit, sich aktiv an der Gestaltung seiner Stadt zu beteiligen. Gleichzeitig soll der Bewohner ein selbstbestimmtes Leben führen können. Diese zentralen Forderungen lassen sich auch auf die aus dem Zentrum verdrängte Bevölkerung Salvadors projizieren, da diesen Mitspracherecht und Entscheidungsfreiheit in den zahlreichen vollzogenen Ausgrenzungspraktiken genommen wurden. Die in Zeiten der Globalisierung dominierenden kapitalistischen Gesellschaften, die Lefebvre stark kritisiert, finden sich im beschriebenen Beispiel in Form der privatwirtschaftlichen Akteure, der IPAC, des Handelsverbands und der bahianischen Regierung. Auch UNESCO und Weltbank zählen als maßgebliche Investoren zu diesen.

Lefebvres Forderungen vermögen die Masse der Bevölkerung bei einer gelungenen Umsetzung aus ihrer derzeitigen Position einer regelrechten „Unterstaatsbürgerschaft“ (Rothfuß 2007: 252) zu befreien und auf den Weg zu gleichen staatsbürgerlichen Rechten zu verhelfen. Bestenfalls würden die Beteiligten das zur Verfügung stehende Kapital nutzen, um die Zustände in den wenigen noch nicht sanierten Wohnhäusern zu verbessern und auch für zahlungsschwächere Schichten weiterhin zugänglich zu machen. Eine im Zentrum der Stadt lebende vielschichtige Gesellschaft würde dem einst so lebendigen Herzen Salvadors womöglich seinen Charme zurück verleihen und den Touristen so ein authentisches Bild der brasilianischen Gesellschaft zeigen.

Fraglich ist jedoch, ob eine solch ideale Vorstellung wirklich umzusetzen wäre. Will Lefebvre die von ihm beschriebenen Bürger nicht mit der Arbeiterklasse gleichsetzen, sondern alle Bewohner einbeziehen, zählen zu diesen zwangsläufig auch die oberen Bevölkerungsschichten, die sich einer zuvor beschriebenen Transformation wahrscheinlich widersetzen würden. Zudem gestaltet sich die Umsetzung eines direkten Mitspracherechts in einer Millionenmetropole wie Salvador zunehmend schwierig. Die Frage, ob Lefebvres ,Recht auf Stadt’ wirklich zu einem größeren Maß an Demokratie im urbanen Raum führen kann oder doch nur neue Formen von Dominanz ins Leben ruft, erscheint somit im Beispiel Salvador de Bahías durchaus angebracht.

6. Literaturverzeichnis

Meyer, Kurt. 2007. Von der Stadt zur urbanen Gesellschaft. Jacob Burckhardt und Henri Lefebvre. München: Wilhelm Fink Verlag.

Purcell, Mark. 2002. „Excavatating Lefebvre: The right to the city and its urban politics of the inhabitant“. In: GeoJournal 58. 99-108.

Rothfuß, Eberhard. 2007. „Der Risikodiskurs über das historische Zentrum von Salvador (Brasilien) – Eine diskursanalytische Annäherung an den Prozess der Innenstadtsanierung anhand der Presse zwischen 1967 und 2005“. In: Wehrhahn, R. (Hrsg.). Risiko und Vulnerabilität in Lateinamerika. Kieler Geographische Schriften 117. 233-255.

UNESCO. „Historic Centre of Salvador de Bahia“. URL: http://www.whc.unesco.org/en/list/309 (Stand 10.07.2016).


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Posted by Monique Schumacher

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