Wozu Nationalökonomik?

Abstract [ENG] National economics seeks to analyze and stimulate economic events in a regional and temporal network so that natural and legal persons as well as social groups, the community and friendly states achieve the best possible results. The systemic driving mechanism of overall economic development is, if possible, depicted in a dynamic macro model, which is linked to anticipations and resourses over time, but never remains constant due to many innovations and behavioral changes. “Evolutionary economics” is a new way of looking at irregular development spurts of “step cycles” of growth rates under changing secondary conditions of growth in economic areas characterized by constitutional, demographic and technological aspects. “Growth” as a summary of highly motivated people must be possible in every civil society that wants to be a “market economy democracy”, includes capitalist system elements and thus achieves a known high “allocative efficiency”. Limited possibilities of national economic knowledge are inherent in the “limited rationality” of decision-makers, in the potential degeneration of systems due to “chaos mathematics” and in the collective effects of the Arrow paradox.


„Anweisung an Sisyphos:
Was du tust, ist aussichtslos. Gut:
Du hast es begriffen, gib es zu,
aber finde dich nicht damit ab,
Mann mit dem Stein. ....“

HANS M. ENZENSBERGER   (1929-2022)

Systemdenken – mikro- und makroökonomisch

Walter Eucken (1891-1950) veröffentlichte 1947 in Godesberg in dritter Auflage ein Büchlein mit diesem Titel: „Wozu Nationalökonomie?“ Meine Antwort ist kurz: „Zum Einüben des Systemdenkens.“ Zu diesem Systemdenken wirtschaftlicher Zusammenhänge kann man das Buch des US-Starjournalisten von ehedem Henry Hazlitt (1894-1993), veröffentlicht 1946 und nochmals 1979, heranziehen: „Economics in One Lesson“ – The shortest and surest way to understand basic economics. Üblich sind viel längere Einführungen in die Prinzipien von Angebot, Nachfrage, Dispositions- und Marktgleichgewicht der Wirtschaftseinheiten sowie Markt- und Wettbewerbsformen durch Lehrbücher der Standard-Mikroökonomik. Mein Lehrbuch „Mikroökonomik. Volkswirtschaftliche Strukturen I“, von der Erstauflage 1988 in Stuttgart bis zur fünften Auflage 2009 in Marburg erschienen, war durch ein methodologisches Kapitel „Zur empirischen Gültigkeit ökonomischer Theorien“ eingeleitet, sowie um ein Kapitel „Zur Einkommensverteilung über Märkte“ und eine Überleitung “Von der Mikroökonomik zur Makroökonomik“ angereichert. Jede Volkswirtschaft ist in einen Staat und seine Gliederungen eingebunden, der die Bedingungen des Wirtschaftens maßgeblich mitbestimmt.

Deshalb spricht man in der kontinentaleuropäischen Lehre seit eh und je von Nationalökonomien und der begleitenden Nationalökonomik (so Friedrich List, 1789-1846), wobei stets auch rechtlich und demografisch bedeutsame Untergliederungen berücksichtigt werden.

Nicht unmittelbar praxistauglich

Für ausführliche und kurze Fassungen der mikroökonomischen Lehrbuch-Nationalökonomik vor allem gilt, was namhafte Fachvertreter wie Alfred Marshall (1842-1924), Paul Mombert (1876-1938) und John M. Keynes (1882-146) ihren irritierten Studenten sagten: Man kann damit „nichts unmittelbar Praxistaugliches“ erfahren, sondern lediglich methodische Arbeitsanleitungen gewinnen. Es gibt „keine allgemeingültigen nationalökonomischen Wahrheiten“, wie Rudolf Stammler (1856-1938) bereits 1896 schrieb. Die Lehrbuch-Nationalökonomik (1.) bietet nur eine Vor- oder Meta-Ökonomik zur Erarbeitung spezieller Zusammenhänge von regional und temporal konkretisierten Nationalökonomien (2.), die sodann als raumzeitlich beschränkte „Quasi-Theorien“ oder als „perspektivische Wahrheiten“ gelten dürfen.

Das tagtägliche Wirtschaftsleben

Im realen Mikrobereich pulsiert das tagtägliche Wirtschaftsleben mit Abermillionen Aktivitäten von Produktionen und Transaktionen, die zumeist als Marktvorgänge und als die Erfüllung von Kaufverträgen zu deuten sind. Im angebrochenen „digitalen Zeitalter“ erfahren manche planwirtschaftlichen Ideen unter Technokraten eine Wiederbelebung, wie etwa die der „Instant Economics“ einer „real-time revolution“ im Economist vom 23. 10. 2021: Alle Wirtschaftseinheiten, insbesondere jene des Produktionsbereichs, mit einem Zentralrechner verknüpfen, damit tagesgenaue Einzelmeldungen als Unterbau der Volkswirtschaftsrechnungen für Erwartungen, Planungen und politische Maßnahmen gleichsam per „laufender Vollerhebung“ verfügbar sind. Dies ergäbe jedoch in einer freiheitlichen Gesellschaft eine größtmögliche Störung der informationellen Selbstbestimmung und des Datengeheimnisses.

Ein Friedrich August von Hayek (1899-1992), der sein warnendes Buch „Der Weg zur Knechtschaft“ von 1944 „Den Sozialisten in allen Parteien“ gewidmet hatte, könnte sich nach der Einführung der „Instant Economics“ tatsächlich „im Grab umdrehen“, wie man so sagt.

Keine Stilisierung

Festzuhalten ist, dass die Modellierung des gesamten Mikrobereichs einer Nationalökonomie mit stilisierten Einheits-Personen – wie z. B. bei Gerard Debreu (1921-2004) – keine hinreichende Vorgehensweise im Sinne von Alexander G. Granberg (1936-2010) wäre, um eine Gesamtwirtschaft zu modellieren, deren Funktionsweise – eingebunden in den Staat – es zu erklären gilt. Die reichhaltige menschliche Vielfalt der Bevölkerung an Begabungen, Neigungen und Motivationen ist als „gegebene“ Heterogenität über Analyse-Perioden hinweg per aggregativer Stabilität zu unterstellen, ohne sie im Detail modellieren zu können.

Das System „Marktwirtschaftliche Demokratie“

Eine „Marktwirtschaftliche Demokratie“ wie die deutsche „Soziale Marktwirtschaft“ ist nach den Gründervorstellungen eine „Mixed Economy“, die sich zwar weitgehend auf die Verfahrensgerechtigkeit der Marktmechanismen stützt, aber auch Ergänzendes und Korrigierendes der Demokratiemechanismen hin zu einer politisch tragbaren Ergebnisgerechtigkeit vorsieht. Ein völliges „Laisser-faire“ im Vertrauen auf eine gesicherte Harmonie durch „Selbststeuerung“ über die Preise wäre demnach systemfremd.

Die Verfahrensgerechtigkeit der Marktmechanismen kann weite Spreizungen der Ergebnisse mit sich bringen, weshalb mein Namensvetter Adolph Wagner (1835-1917) für dämpfende staatliche Korrekturen eintrat, die zeitnäher ein Carl Föhl (1901-1973) als „demokratieverträgliche Abstufungen der Lebenslagen“ per Steuerpolitik verlangte. Für die Maßstäbe „fairer“ und insofern „gerechter“ Verteilung und Abstufung wäre eine ethische Fundierung der Demokratiemechanismen zu erarbeiten, vielleicht aber auch die tagespolitische Mehrheitsmeinung heranzuziehen (so N. Gregory Mankiw, geb. 1958). Eingriffsanlässe bieten darüber hinaus die Marktmechanismen.

Reguläre und andere Märkte

Nicht nur reguläre Märkte, die gleichgewichtig und selbststabilisierend wirken sowie den Mikrobereich insgesamt harmonisch regeln, gilt es zu beachten. Es gibt auch labilungleichgewichtige Märkte sowie ferner ausgesprochen pathologische Märkte mit unüberbrückbarer Distanz von Anbietern und Nachfragern, die gemäß der Mankiw-Regel Nr. 7 eine staatliche Flankierung erfordern. Bekannte Anlässe sind (verfahrenstechnisch) bestehende Externalitäten, d. h. Auswirkungen der Handlungen von Marktparteien auf die Wohlfahrt unbeteiligter Dritter sowie der Umwelt, ferner nicht selten (ergebnistechnisch) Fälle von Marktmacht mit unerwünschten Verteilungswirkungen. Ein grenzenloses Vertrauen in die Wirksamkeit des marktlichen Wettbewerbs, wie es Ludwig Erhard (1897-1977) nach theoretischen Überlegungen zu haben schien, ist in der Wirtschaftspolitik nicht zu erwarten.

Zur Frage nach dem Funktionieren der Koordinationsmechanismen – per freiheitlicher „Selbststeuerung“ sowie staatlich flankiert – kommt das Interesse an qualitativen Ergebnissen hinzu: Einzelwirtschaftlich, mikroökonomisch betrachtet, nach dem Glück des einzelnen (so Léonard Simonde de Sismondi (1773-1842), gesamtwirtschaftlich, makroökonomisch betrachtet, nach dem Wohlergehen aller, angestrebt zunächst in einem Verbund von vier Zielen des „Magischen Vierecks“: Angemessenes und stetiges Wirtschaftswachstum (Vermeidung von Stagnation und Konjunkturen), Stabilität des Preisniveaus (Vermeidung von Inflation und Geldwertschwund), Außenwirtschaftliches Gleichgewicht (Vermeidung von großem Verschuldungs- und Forderungsaufbau zum Ausland hin), Hoher Beschäftigungsstand (Vermeidung von Arbeitslosigkeit)

Magisches Neuneck

Im Jahre 1990 wurde daraus mit gebotenen Ergänzungen ein „Magisches Neuneck“ (so Wolfgang Eichhorn, geb. 1933) anzustrebender Ziele: Eher gleichmäßigere Einkommens- und Vermögensverteilung, Senkung der Umweltbelastung durch Wirtschaft und Technik, Steigerung der Sicherheitsstandards für technische und soziale Systeme, Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, Vergrößerung der Elastizität der Volkswirtschaft (damit zeitliche, örtliche und sachliche Störungen bestmöglich abgefangen werden können).

Komplexität und Bevölkerungsdenken

Die unübersehbare Vielfalt menschlicher Glücksvorstellungen und Befähigungen sowie auch die kaum fassbaren Input-Output-Verknüpfungen üblicher Mehrprodukt-Unternehmungen bei häufigen Mehrverfahren machen sogenannte mikroökonomische Totalmodelle undurchführbar. Notwendig ist für Modellierungen und Erklärungen eine Komplexitätsreduktion durch Aggregat-Variablen (so Ragnar Frisch, 1875-1973) und funktionalen Gruppenbeziehungen in dynamischen Makromodellen.

Besonders bekannt sind dafür hierzulande das MEMMOD-Modell der Deutschen Bundesbank (mit 690 Gleichungen für einen Verbund von 9 Ländern) und das QUEST-Modell der Europäischen Kommission (mit 1.030 Gleichungen für einen Verbund von 16 Ländern). Hinter jeder Makro-Variablen agieren beliebig heterogene Gruppen von Menschen – inländische wie auch ausländische Bürger anderer Staaten.

Bei der Handhabung der Makromodelle wird unauffällig die „Annahme der aggregativen Stabilität“ über den Analysezeitraum hinweg benützt. Das „Bevölkerungsdenken“ erhielt unter Nationalökonomen erst wieder durch die Arbeitsrichtung der „Evolutorischen Ökonomik“ die gebotene Beachtung, als man die biowissenschaftliche Konzeption von Ernst Mayr (1904-2005) aus Kempten wahrnahm.

Unscharfe Variablen, ungenaue Daten und weiche Verknüpfungen

Die Variablen sind durchweg unscharf und die dazu „adäquierten“ statistischen Daten alle zusätzlich ungenau (so Heinrich Strecker, 1922-2013), womit sich bei Modellierungen in der Tat nur „weiche Verknüpfungen“ ergeben (so Hans W. Brachinger, 1951-2011). Das Ungefähre gehört, trotz scheinbar präziser mathematischer Formulierung und der „Mathematical Economics“ insgesamt, zur Natur der Nationalökonomik. Weitere Ebenen der Unschärfe werden offenkundig, wenn Nationalökonomen die seit Gründung der „Econometric Society“ im Jahre 1930 erwünschte erweiterte Kompetenz einzusetzen wissen: (1.) Wirtschaftstheorie als Denkökonomik der Gelehrten (wegen der Problemstellungen und der Ergebnisdeutungen von Analysen), (2.) Ökonometrie (wegen der Test- und Schätzverfahren), (3.) Wirtschaftsstatistik (wegen des Zustandekommens und der Fehlerrisiken statistischer Daten und anderer Informationen).

Gleiche Daten fundieren vielerlei Modelle

Mit ein- und demselben Datenfundus lassen sich ökonometrisch formal gleichwertige dynamische Makromodelle fundieren, die sich zur „Erzeugung“ oder „Reproduktion“ der Makro-Zeitreihen statistischer Befunde eignen. Die modische und methodische „Umarbeitung“ des QUEST-Modells der Europäischen Kommission von der Version I zur Version II hin hat dies 1996 deutlich im Großformat gezeigt. Im Kleinformat war dies bereits – numerisch unspezifiziert – im Methodenteil meines Mikroökonomik-Lehrbuchs von 1988 zu lesen (nun 5. Auflage von 2009). Bei der simulativen Handhabung der Modelle zur Beurteilung der Wirksamkeit verschiedener wirtschaftspolitischer Maßnahmen zeigen sich selbstverständlich unterschiedliche und zum Teil konträre Aussagen. Paul Krugman hat seinem Lehrbuch markante Beispiele dafür beigefügt.

Viele Modelle gleicher Anwendung mit unterschiedlichen Folgerungen

Paul Krugman (geb. 1953) und Robin Wells (geb. 1959) haben „Klassische Makroökonomik“, „Keynesianische Makroökonomik“, „Monetarismus“ und „Modernen Konsens“ nach fünf Schlüsselfragen gekennzeichnet. Die einst heftigen Kontroversen hätten sich zwar beruhigt, doch bleiben markante Unterschiede, die zu der scharfsinnigen Kurzkritik von Danny Kaye (1911-1987) passen könnten: „Wirtschaftswissenschaft ist das einzige Fach, in dem jedes Jahr auf die selben Fragen andere Antworten richtig sind.“ Auf den politischen Alltag gewendet könnte man daraus sogar weiterhin von Verlockungen des Lehrbuchwissens sprechen. Wer von der Unwirksamkeit der Geldpolitik überzeugt ist (und in diesem Sinne andere überzeugen möchte), bekennt sich zu „Klassischer Makroökonomik“. Wer gegenteiliger „Meinung“ ist, bekennt sich als „Monetarist“.

Können Geldpolitik und/oder Fiskalpolitik auf lange Sicht die Arbeitslosenquote verringern? Ein klares Ja von „Keynesianischer Makroökonomik“, ein entschiedenes Nein jedoch von „Klassischer Makroökonomik“ und vom „Monetarismus“. Im Jahre 1983 bestanden nach D. W. Challen und A. J. Hagger noch weit größere Bandbreiten der Meinungsunterschiede im Fach, die sich einerseits wirtschaftstheoretisch und andererseits ökonometrisch gegeneinander abgrenzten, und zwar als: Keynes-Klein-Modelle, Phillips-Bergstrom-Modelle, Walras-Johansen-Modelle, Walras-Leontief-Modelle und Muth-Sargent-Modelle.

Modellierung in praktischen Schritten

Die Arbeitsschritte zu einem dynamischen makroökonometrischen Modell lassen Variations-möglichkeiten erkennen: Die Strukturen werden präzisiert durch

a) die Liste und Definition der Makro- oder Meso-Variablen (einschließlich Zufallsvariablen),
b) die Unterscheidung von Strom- und Bestandsgrößen,
c) die Aufteilung in endogene (im Modell erklärte) und exogene (im Modell nicht erklärte)
Größen,
d) die Liste der ökonomisch sinnvollen Funktionsformen der Zusammenhänge (zumeist
linear in den Variablen), inhaltlich unterscheidbar als Verhaltensgleichungen,
Institutionengleichungen, Technologiegleichungen, Budgetgleichungen sowie den
Zeitmustern der Lags (Rückgriffe) und der Leads (Vorgriffe),
e) die vorzugsweise Verwendung von Differenzengleichungen (anstatt von Differential-
gleichungen) mit Blick auf verfügbares Datenmaterial und empirisches Arbeiten,
f) die Definitionsgleichungen, und zwar Realdefinitionen (mit Realitätsbezug) und
Formaldefinitionen (als bloße formale Schließmechanismen),
g) die Dimensionsgleichungen zu d) und e), damit statistische Adäquation und
ökonometrische Spezifikation gelingen können,
h) die versuchsweise Berücksichtigung möglicher Fehler mit Error-Shock-Modellen,
i) die Ausprägungen der numerischen Konstanten oder strukturellen Parameter.
j) der zeitliche Modellhorizont (Ein-Perioden-Basierung nach Raabe und Stützel oder Mehr-
Perioden-Basierung nach makroökonometrischen Modellen).

Mathematische Wirtschaftstheorien

Im Jahre 1980 kritisierte Joan Robinson (1903-1983) pauschal und nicht in allen Punkten zutreffend die „Mathematical Economics“: „Contrary to the hopes of its practitioners, the apparent precision of mathematics has generated vagueness. Mathematical operations are performed upon entities that cannot be defined; calculations are made in terms of units that cannot be measured; accounting identities are mistaken for functional relationships; correlations are confused with causal laws; differences are identified with changes; and one-way movements in time are treated like movements to and fro in space. The complexitiy of models is elaborated merely for display, far and away beyond the possibility of application to reality.“ Die Mathematik ist geeignet, “Problemverschlingungen” (so Wolfgang Stützel, 1925-1987) überschaubar aufzubereiten. Ihre Anwendung in der Nationalökonomik bringt unscharfe Definitionen und ungenaue angepasste statistische Daten mit sich, so dass funktionale Zusammenhänge zu „weichen Verknüpfungen“ werden (so Hans W. Brachinger, 1951-2011). Nicht objektivierbar messbar sind „Nutzen“ und „Wohlfahrt“. Dass in der Regel kein „Hin-und-her“ möglich ist, bestätigte frühzeitig die Arbeitsrichtung „Evolutorische Ökonomik“.

Das stumpfe Schwert der Ökonometrie

Modelle zeichnen angeblich die Nationalökonomik im Kreis der Sozialwissenschaften aus (so Axel Leijonhufvud, 1933-2022, und Dani Rodrik, geb. 1957). Als der Ökonometriker Jack Johnston (1923-2003) im Jahre 1992 behauptete und schrieb, man könne „mit ökonometrischem Darwinismus“ die unterschiedlichen Makromodelle mit ihren irritierend unterschiedlichen Theorien auf empirische Gültigkeit hin prüfen und aussondern, vertrat er eine offenbar ungültige Position. Doch dieser Tatsache sind sich einige Sachverständige und Beiräte in Ministerien auch gegenwärtig noch nicht bewusst. Mit diesem Unwissen sind bisweilen unterschiedliche Mehrheits- und Minderheitsvoten erklärlich. In klarer Sicht hatte die Schweizer Fachkollegin Heidi Schelbert-Syfrig (1934-2019) bereits im Jahre 1986 die seinerzeit uneinigen Sachverständigen aufgefordert, ihre persönlichen, zeitgemäßen Modelle der deutschen Volkswirtschaft offenzulegen, aus denen sie ihre unterschiedlichen Begründungen für ihre bevorzugten Maßnahmen ableiten.

Eine neue „Angewandte Ökonomik“

Der britische Fachkollege G. M. Peter Swann (geb. 1955) setzte an diesem Punkt mit seinem Buch „Putting Econometrics in its Place“ von 2008 wiederum kritisch an. Der „naturwissenschaftliche Denkstil“ – mit genauer Ausdrucksweise, Überprüfbarkeit von Zusammenhangs-vermutungen und irgendwelchen Gesetz- oder Regelmäßigkeiten – hat sich in der Sozialwissenschaft der Nationalökonomik erschöpft. Man ist im Nachhinein verwundert, wie man jemals der Ansicht sein konnte, dass sich der naturwissenschaftliche Denk- und Arbeitsstil für eine Sozialwissenschaft eignet.

Ein Blick auf das Arbeitsfeld der Nationalökonomen ergibt: Von der Cowles-Commission-Ökonometrie (2.) hat sich die Arbeitsweise der Nationalöko-nomen nun auf die schlichten Möglichkeiten der Wirtschaftsstatistik (3.) verlagert. Durch Swann erhält Karl-Heinz Raabe mit seinen „Gesamtwirtschaftlichen Prognosen und Projektionen“ (ohne übliche Modell-Ökonometrie) eine späte Rechtfertigung. Raabe lieferte ein Beispiel für die vielfältigen Ansatzpunkte der Swann-Methodik und die schwierigen Versuche, die neuen Strukturen der Zukunft aufzuhellen, die man unterschiedlich einschätzen kann. „The good economist must try to develop techniques that help us to look forward, to think out what will be the analytical tools that can be useful in the concrete situations that will prevail tomorrow” (so Ragnar Frisch, 1895-1973). Dagegen: „Vermauert ist dem Sterblichen die Zukunft“, wie Friedrich Schiller (1759-1805) eine Haupterkenntnis der Evolutorischen Ökonomik vorwegnahm.

Lebenswichtige Fragen – nach Rechtsräumen und Demografien spezifiziert

Die Nationalökonomik behandelt für die staatlich eingebundene Wirtschaft lebenswichtige Fragen der Bürger: nach dem Funktionieren des Zusammenwirkens schlechthin, aber auch nach den nützlichen, wohlstandswirksamen Ergebnissen für alle. Nirgendwo auf der Welt ist das Wirtschaftsgeschehen von den regional herrschenden Rechtsrahmen zu lösen. Wirtschafts- und Rechtsfakultäten waren deshalb an europäischen Universitäten stets eng verbunden. Die Spezifika der Rechtsrahmen sind so wichtig, dass sogar die dynamischen, makroökonometrischen Modelle für Großräume die wichtigsten Teilräume gesondert berücksichtigen: QUEST der Europäischen Kommission weist 16, MEMMOD der Deutschen Bundesbank immerhin 9 Länder im Verbund aus. Größere und kleinere Teilräume müssen bei institutionell festgelegter Entscheidung und Leitung ähnlich wie nationalstaatliche Gliedrungen unterschieden werden.

Die Ökonomik der Fachleute (Expert Economics) wird dabei in der Wirtschaftspolitik oftmals durch die Laienökonomik (Folk Economics) herausgefordert, worauf kritisch zu achten ist (so Ernst Helmstädter, 1924-2018); denn „schlechte Logiker haben unabsichtlich mehr Verbrechen angerichtet als schlechte Menschen absichtlich“ (so Pierre S. du Pont, ein französischer Abgeordneter, den Milton Friedman, 1912-2006, absichtsvoll in seiner Nobelrede zitierte). Nach Frédéric Bastiat (1801-1850) kann dabei eine Instrumentalisierung des Staates drohen: „Der Staat ist die große Fiktion, mit deren Hilfe sich jeder bemühe, auf Kosten aller zu leben.“ Sämtliche Entscheider sind im Wirtschaftsleben und in der Wissenschaft nur zu „beschränkter Rationalität“ fähig (so Herbert A. Simon, 1916-2001). Die Zusammenarbeit in Gremien erfordert deshalb eine rundum einvernehmliche Abstimmung der Wirtschaftsmodelle, von denen Empfehlungen abgeleitet werden. Allerdings ist noch völlig ungeklärt, wie man trotz des ARROW-Paradoxons von der Unmöglichkeit konsistenter Gruppen-Präferenzen wissenschaftlich zu argumentieren hätte.


Zusammenfassung: Die Nationalökonomik sucht das Wirtschaftsgeschehen im regional und temporal geprägten Verbund zu analysieren und zu stimulieren, so dass natürliche und juristische Personen wie auch soziale Gruppen, das Gemeinwesen und befreundete Staaten zu bestmöglichen Ergebnissen gelangen. Der systemhafte Antriebsmechanismus der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wird dabei möglichst in einem dynamischen Makromodell abgebildet, das über Zeiträume hinweg mit Vorgriffen und Rückgriffen verknüpft ist, jedoch wegen vielerlei Innovationen und Verhaltensänderungen niemals konstant bleibt. „Evolutorische Ökonomik“ ist eine neue Betrachtungsweise für unregelmäßige Entwicklungsschübe von „Step Cycles“ der Wachstumsraten unter jeweils veränderten Nebenbedingungen eines Wachstums der staatsrechtlich, demografisch und technologisch geprägten Wirtschaftsräume. „Wachstum“ als summarische Wirkmöglichkeit der hochmotivierten Menschen muss in jeder Zivilgesellschaft möglich sein, die „Marktwirtschaftliche Demokratie“ sein will, kapitalistische Systemelemente einschließt und damit eine bekannt hohe „allokative Effizienz“ erreicht. Eingeschränkte Möglichkeiten der nationalökonomischen Erkenntnis sind in allseits „beschränkter Rationalität“ der Entscheider, in den potenziellen Entartungen der Systeme durch die „Chaos-Mathematik“ sowie in kollektiven Effekte des Arrow-Paradoxons angelegt.

Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. Adolf Wagner

Universität Leipzig, Post: 72108 Rottenburg, Burglehenweg 7, Absolvent der Ludwig-Maximilians-Universität München, promoviert und habilitiert für „Volkswirtschaftslehre und Statistik“ an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, war Gründungsdirektor des Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung (IEW) der Universität Leipzig, vormals auch Direktor des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) der Universität Tübingen und Co-Direktor des Instituts für Sozial- und Familienpolitik der Universität Marburg sowie Lehrstuhlinhaber an der Hochschule Reutlingen und an den Universitäten Marburg, Tübingen und Leipzig. Wagner war mehrfach Dekan und an der Universität Leipzig auch Prorektor. Im vorakademischen Berufsleben war er erfolgreich im bayerischen Sparkassenwesen engagiert.

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