Abstract [DE]: Politikverdrossenheit bringt die Staatsbürger und Wähler auf Distanz zu den Demo-kratiemechanismen, denen sie fortan misstrauen. Einer von mehreren Gründen dafür ist die Unkenntnis der gegebenen wissenschaftlichen Basis von Mehrdeutigkeit und Widersprüch-lichkeit der Maßnahmen sowie der angestrebten und der erreichbaren Ziele. Verfehlte Vorein¬stellungen der Leute betreffen die „wissenschaftliche Leitung“ einer staatlich eingebundenen Volkswirtschaft (Nationalökonomie) sowie eine immer und überall gültige „Einheitstheorie“ für das bestmögliche Funktionieren einer Nationalökonomie.

Abstract [EN]: Political disillusionment causes citizens and voters to distance themselves from democratic processes, leading to a growing mistrust of them. One key reason for this is the lack of understanding of the scientific foundation behind the ambiguity and contradictions in policies, as well as the difference between intended and achievable goals. People often hold misguided assumptions about the “scientific management” of a government-controlled economy (national economy) and the idea that there is a single, universally valid theory for the best possible functioning of such an economy.

Für das neue Großterritorium „Vereintes Europa“ aus derzeit 27 Ländern gilt immer noch das Sachurteil eines früheren deutschen Bundespräsidenten: „Die gewachsenen Elemente Europas sind die Nationen. Die Nation ist nicht überholt. Überholt ist die uneingeschränkte Souveränität des Nationalstaates“ (so Walter Scheel, 1919-2016). Es gibt darin – an verschiedenen Stellen und aus unterschiedlichen Gründen „Politikverdrossenheit“ – aus erfüllten wie aus unerfüllten Erwartungen. Viel wurde darüber schon gemutmaßt, geredet und geschrieben. Nie aber wurde dabei die Rolle sozialwissenschaftlichen Unwissens beachtet und betrachtet.

Der Anfang wissenschaftsimmanenter Ursachen für die Politikverdrossenheit

Den Anfang kann man bei dem Philosophen und Kulturhistoriker Wilhelm Dilthey (1833-1911) und seiner Anregung einer rationalen, wissenschaftsbasierten „Leitung der menschli­chen Gesellschaft“ setzen, mit der er im Jahre 1900 das Interesse der Sozialwissenschaften weckte. Es war die Zeit, als die Nationalökonomik – für die Kombination von Staat und Wirt­schaft – als „politische Klugheitslehre“ selbstbewusst wurde und sich in der Lage wähnte, eine immer und überall gültige Einheitstheorie zu präsentieren. Damit geriet die Nationalöko­nomik zwar immer wieder – und oft unbemerkt – auf Holzwege (so Erich Welter, 1900-1982). Vereinzelte kluge Stimmen, es könne „keine allgemeingültigen nationalökonomischen Wahr­heiten“ geben (so Rudolf Stammler, 1856-1938), wurden allzu gerne überhört. Bis in die jün­gere Zeit hielt sich die Hoffnung, das soziale Geschehen vernünftiger zu lenken, um die Ge­fährdung der Menschheit zu vermeiden (so Konrad Lorenz, 1903-1989).

Manche verfielen da und dort sogleich in die Denkweise von Wladimir I. Lenin (1870-1924), dem Gründer der Sowjetunion, man müsse eine Volkswirtschaft so organisieren wie die Deut­sche Reichspost von ehedem: Vorgesetzte und Untergebene überall in strenger Befehlsord­nung. Er wusste noch nicht, dass man Leute nicht bis ins Kleinste hinein befehligen darf, weil sie sonst zweierlei verlieren:

(1.) Die Lust an der engagierten Mitarbeit.

(2.) Die Entfaltung ihrer Findigkeit. Im Übrigen gibt es

(3.) das Peter-Prinzip von Lawrence I. Peter (1919-1990) für die Aufsteiger und die später anordnungs­geneigten Vorgesetzten: „In einer Hierarchie neigt jeder Beschäftigte dazu, bis zu seiner Stufe der Unfähigkeit aufzusteigen.“ Die Bürger sind Untergebene, die der Diktator einer Zentralverwaltungs-Wirtschaft gelegentlich

(4.) in ungewollte Kriege schickt. Dies alles ist ein Gegenbild der Marktwirtschaftlichen Demokra­tie, das hier eigentlich nicht weiter interessiert. Doch gibt es Varianten einer „Planification“, die „von Brüssel her“, wie manche sagen, das neue Großterritorium „Vereintes Europa“ ord­nungspolitisch gefährden.

Der freiheitliche Mensch im Zentrum

Als Friedrich A. von Hayek (1899-1992) im Jahr 1944 den „Weg zur Knechtschaft“ kommen sah, schrieb er „Den Sozialisten in allen Parteien“ sein warnendes Buch gegen die „große Illusion“. Dabei knüpfte er an Friedrich Hölderlin (1770-1843) an: „Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.“ Exemplarisch nehme man den Freiheitsbegriff eines Benjamin Constant (1767-1830): „Unter Freiheit verstehe ich den Triumph der Individualität, sowohl über die Autorität, die durch Despotie regieren wollte, als auch über die Massen, die das Recht beanspruchen, die Minderheit der Mehrheit zu unterwerfen.“ Ohne diese individuelle Freiheit – mit Geld materiell umsetzbar und erlebbar – „gibt es für die Menschen weder Frieden noch Würde noch Glück“. Wen alle Verästelungen im großen Baum der Freiheit interessieren, der lese einschlägige Bücher des Philosophen Claus Dierksmeier (geb. 1971). „Die Methoden, mit denen Menschen andere Men¬schen steuern und kontrollieren, scheinen zahllos zu sein“ (so Charles E. Lindblom, 1917-2018), war die allgemeine Meinung im Rückblick auf Dilthey.

Die Rückbindung der Menschen an viele Hoffnungen

Lehrgeschichtlich befriedigend ist die These namhafter Nationalökonomen zu werten, das Studium des Menschen sei die wichtigste Seite der Nationalökonomik (so Carl Jentsch, 1833-1917, und Alfred Marshall, 1842-1924). Treffend passt dazu die Erkenntnis von Alexander Rüstow (1885-1936), dass alle Ökonomik in „überwirtschaftlicher Rückbindung“ steht. Diese Tatsache musste im West- und Restdeutschland der Nachkriegszeit eine umfassende begeis­ternde Zustimmung auslösen, als Alfred Müller-Armack (1901-1978) die damals neue „Sozia­le Marktwirtschaft“ im Jahre 1950 mit diesen Worten ankündigte: „Das sittliche Wollen des Sozialismus, der Ordogedanke des Katholizismus, die Beseelung der Berufsidee und die brü­derliche Hilfsbereitschaft der Protestantismen können im Verein mit der Einsicht in neue Or­ganisationsprinzipien im neuen Liberalismus [die Marktmechanismen waren gemeint, A. W.] viel bewirken.“

Das neue Gesamtsystem war – aus der Froschperspektive – auf reguläre Marktmechanismen (mit Stabilisierung) sowie auf faire Demokratiemechanismen (mit noch zu schreibender Ethik) ausgerichtet. Aus der Vogelperspektive betrachtet sollte der „Sozialen Marktwirtschaft“ der übergroße Strauß an Hoffnungen für die Menschen gelingen. Die Gesellschaft als ein Verband einmaliger, einzigartiger und wandelbarer Individuen im Sinne des biowissenschaftlichen Populationsdenkens nach Ernst Mayr (1904-2005) aus Kempten vermag dabei keinem je bekannten mathematischen System zu entsprechen. Damit verträgt sich keine „repräsentative Mikrofundierung“ der Theoretiker und nicht einmal die Denkfigur des „mittleren Menschen“ nach Adolphe Quetelet (1796-1874).

Ein ungeheuerlicher Spannungsbogen für Nationalökonomen der freiheitlichen Systeme, vor allem der „Marktwirtschaftlichen Demokratie“, bestimmt bis zum heutigen Tage die Arbeiten der Wirtschaftstheoretiker, die mit Ökonometrie und Wirtschaftsstatistik den aktuellen historischen Befunden zu Leibe rücken. Einerseits hat man riesige, völlig unscharfe Begriffe von „Wohlfahrt“ im Auge – M-Wohlfahrt nach John-Stuart Mill (1806-1873) und R-Wohlfahrt nach John Ruskin (1819-1900) – und andererseits muss man als Binsenweisheit registrieren: „Economics is the scientific study of wealth, and yet we cannot measure wealth“ (so Joan V. Robinson, 1903-1983).

Fachleute in der Politik und ihre Kontroversen

In der Bundesrepublik Deutschland agierten in der Öffentlichkeit stets Persönlichkeiten, de­nen das Publikum einschlägigen Sachverstand zutrauen konnte. Es waren die „vertrauenerwe­ckenden Symbole“ (so Murray Edelman, 1919-2001). Es waren ordentliche Professoren der Wirtschaftswissenschaften als Minister, in Beiräten der Ministerien sowie in Sachverständi­genräten. Ferner wusste man Tausende einschlägig vorgebildete Bedienstete in den Ministe­rien. Die Öffentlichkeit war beeindruckt von dem versammelten Sachverstand und erwartete deshalb eine bestmögliche Wirtschafts- und Finanzpolitik.

Im Jahre 1985 kam Skeptisches dazu aus Tübingen: „Die Eigenschaften, die ein Funktionär oder Politiker braucht, um gewählt zu werden, weichen von den Eigenschaften ab, die für den Arbeitserfolg nach der Wahl entscheidend sind. Es ist deshalb nicht gewährleistet, dass sich durch Wahlen eine leistungsfähige Elite bildet“ (so Manfred Wulff, 1933-2022).

Groß war das Erstaunen über Kontroversen der Fachleute, die sich besonders auffällig in Mehrheits- und Minderheits­voten des bekannten Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Ent­wicklung zeigten. Unverstand und Unwissen methodologischer Art ließen die Durchschnittsbürger einheitliche Sachurteile wie aus der Blickrichtung einer Art „Sozialphysik“ erwarten. Unermesslich war der Vertrauensverlust, sobald sich ein Laie mit absonderlichem Urteil als Minister durchsetzen konnte. Man war nicht bereit, eine Fest­stellung so sachlich anzunehmen, wie sie gemeint war: „Die Nationalökonomik ist zwischen theoretischen Fiktionen und empirischen Illusionen angesiedelt“ (so Prof. Willy Meyer, Mar­burg). Der laienhafte Spott des US-Komikers Danny Kaye (1911-1987) trug ein Übriges zum Misstrauen bei: „Wirtschaftswissenschaft ist das einzige Fach, in dem jedes Jahr auf dieselben Fragen andere Antworten richtig sind.“

Die Unkenntnis der Vielzahl von Modellen und Theorien

Die Nationalökonomik – für das gute Funktionieren des Gesamtsystems „Staat und Volkswirt­schaft“ – existiert in zwei Varianten:

  1. Theoretische Nationalökonomik [NAT 1] (Lehrbuch-Nationalökonomik), die nichts un­mit­telbar Praxistaugliches liefert (so Alfred Mars­hall, 1842-1924, Paul Mombert, 1876-1936, und John M. Keynes, 1882-1946), sondern – als Meta-Makroökonomik – Ar­beitsanregungen gibt. Sie ist mit scheinbar exakten Aussagensyste­men mathema­tisch for­mu­liert, dabei philosophierend als „Denköko­nomik“ konzipiert sowie mit vielerlei Illusio­nen befrachtet, gele­gentlich sogar mit weltan­schaulichen Einschränkungen von Variab­lenlisten und Zusammen­hängen.

Die Lehrbücher sind in ihren Akzenten und Anregungen unterschiedlich, wobei die Auto­ren beiläufig einer subjektiven „Wahrheitstheorie“ folgen (so Gunnar Skirbekk, geb. 1937). Ein bemerkenswertes Beispiel für alles „Denkbare“ legte Hans Brems (1915-2000) im Jahre 1980 mit dem Lehrbuch „Dynamische Makrotheorie“ vor, einem Versuch der Syn­these sämtlicher bekannten Makro-Konzeptionen. 

  • Angewandte Nationalökonomik [NAT 2] mit speziellen Analysen für bestimmte Gebiete und Zei­ten, etwa als dynamisches, ökono­metrisches Makromodell für ein Zusammenwir­ken von Gruppen, wobei sich aus demsel­ben Daten­fundus zumeist unter­schiedliche und bei simulativem Gebrauch widersprüch­liche Makro­modelle der Natur von Quasi-Theorien, perspektivischen Wahrheiten oder „Vernacular Eco­nomics“ fundie­ren lassen. Es ist die Na­tionalökonomik der politi­schen und un­ternehmerischen Ent­scheidungsträ­ger.

Bekannte Bei­spiele sind – vom 1969er Lüdeke-Modell im IAW Tübin­gen (mit 36 Glei­chungen) aus­ge­hend – das QUEST-Modell der Europäischen Kommissi­on (mit 1.030 Glei­chungen für einen Verbund von 16 Län­dern) und das MEMMOD-Modell der Deut­schen Bundesbank (mit 690 Gleichun­gen für einen Verbund von 9 Län­dern). Doch gibt es auch für staats- und verwaltungs­rechtlich be­stimmte kleinere Ein­heiten (Bun­desländer, Regierungsbezirke, Gemein­den) ent­sprechende Ana­ly­sen.

Alles in allem weiß der Fachkundige viererlei:

  • Eine Volkswirtschaft oder Nationalökonomie entspricht keiner festgefügten Maschine, deren System man mit wissenschaftlichen Methoden allgültig ausforschen könnte. Turbu­lenter Wandel mit Innovationen und potenziellen Verhaltensänderungen gestatten nur kurzfristig gültige dynamische Viel-Gleichungs-Modelle.
  • Es gibt keine immer und überall anwendbare nationalökonomische Einheitstheorie, die -im Sinne von (2.) oben – gar „verallgemeinerungsfähig“ wäre, wie einzelne streitbare Geis­ter meinen.
  • Fachleute können aus gleichem Datenfundus unterschiedliche Modelle mit implizit unter­schiedlichen politischen Folgerungen erstellen. Man kennt und unterscheidet: Keynes-Klein-Modelle, Phillips-Bergstrom-Modelle, Walras-Johansen-Modelle, Walras-Leontief-Modelle und Muth-Sargent-Modelle. Oft begnügt man sich mit der Einordnung „klas­sisch“, „keynesianisch“ und „monetaristisch“.
  • Nach dem „Arrow-Paradoxon“ von Kenneth J. Arrow (1921-2017) ist es unmöglich, die individuellen Präferenzen von Gruppenmitgliedern (der Parteien, der Abgeordneten, der Wähler usw.) gleichsam widerspruchsfrei zu summieren und in eine Gesamt-Präferenzordnung überzuleiten.  

Tiefere „wahrheitstheoretische“ Betrachtung

Was sich theoretische Nationalökonomen axiomatischer Art in etwa vorstellen können – das uhrwerkähnliche Funktionieren eines mikroökonomischen Totalmodells der Nationalökono­mie mit einheitlich stilisierten Wirtschaftseinheiten – ist in der angewandten Nationalökono­mik nicht sinnvoll machbar und nicht bezahlbar. Man nimmt eine erste Komplexitätsreduktion mit der Aggregation zu Gruppen für eine „Makroökonomik“ vor (so Ragnar Frisch, 1895-1973). Gruppen (z. B. Konsumenten, Unternehmer, Staatliche Stellen, Wirtschaftseinheiten des Auslands) wirken mit Lags und mit Leads so zusammen, dass sich gesamtwirtschaftliche Entwicklungspfade für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als rechnerisch „erklärende Beschreibungen“ ergeben. Doch sind die so ermittelten Entwicklungspfade auch wahr, d. h. vergangenheitsgültig und zukunftsfest (so Gunnar Skirbekk, geb. 1937)? Mit Einschränkun­gen; denn die erste Komplexitätsreduktion führt zu „unscharfen Variablen“ und eine zweite Komplexitätsreduktion bringt für diese Variablen „ungenaue Daten“ ein, die zu „weichen Verknüpfungen“ („fuzzy relations“) führen.

Hinzu kommt, dass angesichts der unermesslichen Vielfalt jeder nationalökonomischen Reali­tät jegliche Zugriffe auf eine gewisse beschränkte Variablen-Liste „lückenhaft“ sind und wei­tere, gleichwertige alternative Modelle (und Theorien) denkbar bleiben. Überdies handelt es sich bei den Modellierungen um regional und temporal spezielle Nationalökonomien (oder kleinere Realitätsausschnitte), die nicht verallgemeinert werden können.

Moderne Nationalökonomien unterliegen insgesamt und mit ihren Viel-Gleichungs-Modellen einem turbulenten Wandel mit Innovationen und Verhaltensänderungen wechselnder Popula­tionen. Eigenschaften künftiger Nationalökonomien sind als – noch völlig unbekannt – mitzu­denken. Weder die Vorstellung eines festgefügten Maschinenmodells noch die Nationalöko­nomik als eine Art Sozialphysik können erkenntnisleitend sein. Prognosen sind schier unmög­lich, weil das wirklich Neue (auch das neue Struktur-Modell) nicht antizipierbar ist.

Management der öffentlichen Meinungen

Marktmechanismen und Demokratiemechanismen sind keineswegs „machtfrei“. „Wirtschaft­liche Machtkämpfe gibt es, seit der Mensch wirtschaftet“ (so Walter Eucken, 1891-1950). Früh schon war die Frage nach „Macht oder ökonomischem Gesetz“ aufgeworfen worden (so Eugen von Böhm-Bawerk, 1851-1914). Im Ergebnis muss man dabei wohl ein „und“ für das „oder“ der Problemstellung setzen. Man kannte Namen und Adressen der wirtschaftlich Mächtigen, nämlich des Geldadels alter Zeit und der Großvermögenden, der Großaktionäre oder des „Klassenmonopols“ (so Erich Preiser, 1900-1967) neuerer Zeit. In Märkten domi­nierten der Cournot-Monopolist nach Augustin Cournot (1801-1877) und der Pfister-Monopolist nach Bernhard Pfister (1900-1987), wobei man dem Cournot-Monopolisten das Ziel des maximalen Perioden-Gewinns zuschrieb, dem Pfister-Monopolisten jedoch ein be­scheideneres, „suffizierendes“ Gewinn-Ziel zutraute.

In Demokratien kommt die „Meinungsmache“ Durchsetzungsfähiger mit der Organisation von Einfluss hinzu. Angeregt hat diese Sicht der US-Politologe Murray Edelman (1919-2001). Wirksam wurde sie – wieder – ab 1988 im „Management der öffentlichen Meinung“ als einer neuen Komponente von Wirtschaftspolitik (so Alfred Meier, 1937-2022): dem Um­gang und dem Aufgreifen von Scheinproblemen und von Scheinlösungen – oftmals mit Lö­sungsver­sprechen jenseits aller Möglichkeiten der Verwirklichung. Positiv eingesetzt, war es wohl bereits „Moral Suasion“, von Ludwig Erhard (1897-1977) erfolgreich als Wirtschafts­minister zur allgemeinen Verhaltensänderung angewandt. Man kam damit den bewusst „halb­richtigen“ Analysen im Gruppeninteresse nahe (so Henry Hazlitt, 1894-1993) oder den „be­stellten Lösungen“ der US-Model-Shops.

„Die größte Macht im demokratischen Zeitalter ist diejenige, die sich der öffentlichen Diskus­sion entziehen kann“ (so Henning Ritter, 1943-2013). Dahinter stehen möglicherweise Pres­seorgane, die „Mehrheitsmeinungen“ fabrizieren, die nicht als repräsentativ für die Bevölke­rung gelten können: Die „Vierte Gewalt“ (neben Legislative, Exekutive und Jurisdiktion) (so Richard D. Precht, geb. 1964, und Harald Welzer, geb. 1958). Die Beschreibungen und die Thesen des Buches von 2022 sind zutreffend, was die Betroffenen jedoch nicht weiter beach­ten und diskutieren.

Abschließende Bemerkungen

Die Sozialwissenschaften, insbesondere die Nationalökonomiken für das gute Funktionieren einer staatlich eingebundenen Volkswirtschaft, setzen sich anspruchsvoll hohe Ziele und prä­sentieren diese gerne als richtig, als wahr und oft auch als „ohne Alternative“. Sie nehmen damit die Position einer unfundierten „Selbstüberschätzung“ ein. Dies wird weithin als ärger­lich wahrgenommen. Es trägt zweifellos zu einer beklagenswerten Politikverdrossenheit bei, sobald Fachleute und Gruppen nachgeschulter Laien die methodologische Situation durch­schauen und sich im Stillen Rechenschaft geben. Die Leistungsfähigkeit der Sozialwissen­schaften, insbesondere auch der Nationalökonomik, kann zum einen überschätzt und zum anderen unterschätzt werden. Überfordert und überschätztwird die Nationalökonomik z. B. durch Leute, die dem Philosophen Hans Jonas (1903-1993) folgen und fragen, welches Tun oder Unterlassen „das Nichtsein künftiger Gene­rationen wegen des Seins der jetzigen zu wäh­len oder auch nur zu wagen“ wäre und deshalb unterbleiben muss. Unterschätztwird die Nati­onalökonomik als eine „kritische Instanz“ von allen, die es nicht für möglich halten, ungute Politikmaßnahmen – oftmals mit historischer Erfahrung – zu mar­kieren und zu verhindern (so Ernst Helmstädter, 1924-2018)

Selbstverständlich gibt es noch andere Gründe als wissenschaftliche Unkenntnis für die ver­breitete Politikverdrossenheit, die kurz anzusprechen sind:

(1.) Ein beständiger, systemati­scher und stiller Umverteilungsdruck zugunsten schwächerer Gebiete nach der These von Bernhard Külp (1933-2022), der eine Abwehr des vermeintlichen Zuviel bei den leistungs­starken und eine ständige Position des vermeintlichen Zuwenig in den schwächeren Gebieten mit sich bringt.

(2.) Eine beständig erhöhte Inflationsneigung nach der These von Murray N. Rothbard (1926-1995), die auf der fiskalpolitischen Freiheit der Euro-Mitglieder beruht.

(3.) Ein gesamtgesellschaftlicher Pessi­mismus, wie man ihn für geburtenschwache und überdurch­schnittlich alternde Staatsvölker (der Staatsangehörigen) als typisch erachtet.

(4.) Eine nach Ausführungen des US-Soziologen Daniel Bell (1919-2011) zu erwartende Verschlimmbesse­rung der Rechtsordnung im Kleinen (aus der Sicht von „Law and Economics“) und im Gro­ßen beim lähmenden Erfordernis der Einvernehmlichkeit.

(5.) In drei großen Nationalökono­mien der EU sind gestörte Demokratiemechanismen zu be­obachten, wobei zahlreiche Abge­ordnete zwar formalrechtlich exakt installiert, aber faktisch von den übrigen Parteien als „un­demokratisch“ beurteilt und ausgeschlossen sind.

(6.) Zuletzt ist schließlich eine Informa­tionsflut zu erwähnen, die eher als ärgerlich und weniger als nütz­lich empfunden wird. Mit Kopfschütteln nehmen die Zeitungle­ser oftmals den europäischen Politikbetrieb so wahr, als hätten die viel zu vielen Abgeordne­ten den verschmitzten Satz des spanischen Philosophen Baltasar Gracian (1601-1658) gelesen und verinnerlicht: „Besser mit allen ein Narr als allein gescheit.“ Dazuhin agiert die Europäi­sche Kommission mit überreich­lichem Informationsma­terial für Abgeordnete, Presse und Publikum so, als wollte sie dem „Kleinen Handbuch für den Umgang mit Unwissen“ von Nassim Nicholas Taleb (geb. 1960) genügen: „Will man einen Narren zugrunde richten, ver­sorge man ihn mit Informationen”.

Foto von Farah Almazouni auf Unsplash

Posted by Adolf Wagner