Nationalökonomik – das mehrdeutige Herrschaftswissen

[DE] Wirtschaftshistoriker bescheinigen dem Fach „Wellen der Anerkennung und des Versagens“ (so Knut Borchardt, 1929-2023). Auf Höhepunkten fühlten sich Nationalökonomen im Besitz einer „politischen Klugheitslehre“ mit der gefährlichen Versuchung, einer alten Anregung auf Übernahme einer „wissenschaftsbasierten Leitung“ der Gesellschaft zu folgen (so Wilhelm Dilthey, 1833-1911). Inzwischen muss man eine unmissverständliche Feststellung von 1896 respektieren, dass es keine allgemeingültigen nationalökonomischen Wahrheiten gibt, die pauschal immer und überall, jetzt und in Zukunft gelten (so Rudolf Stammler, 1856-1938). In der Gegenwart wollen Einflüsse der staatlichen Einbindung jeder Volkswirtschaft, das Miteinander von Markt- und Demokratiemechanismen in Demokratien sowie ein oft faktenfernes „Management der öffentlichen Meinung“ – bei spezifisch „Angewandter Nationalökonomik“ stärker beachtet werden.
[ENG] Economic historians attest to the subject’s “waves of recognition and failure” (Knut Borchardt, 1929-2023). At its high points, national economists felt they were in possession of a “political doctrine of wisdom” with the dangerous temptation to follow an old suggestion to adopt a “science-based management” of society (according to Wilhelm Dilthey, 1833-1911). In the meantime, we must respect an unequivocal statement from 1896 that there are no universally valid national economic truths that apply across the board always and everywhere, now and in the future (Rudolf Stammler, 1856-1938). In the present day, the influences of state involvement in every economy, the interaction of market and democratic mechanisms in democracies and the often fact-free “management of public opinion” need to be given greater consideration in specifically “applied national economics”.
Aufgabenbezogenes Wissen
Das Wählervolk, Regierende und Parlamentarier sollten in etwa wissen, wie es in einem Land zur Produktion bestimmter Güter (Waren und Dienstleistungen) aus den verfügbaren Ressourcen kommt, nach welchen Prinzipien die Verteilung in einer Marktwirtschaftlichen Demokratie geschieht, welche Rolle dabei altes und neues Eigentum spielt, und welche hochmotivierten Menschen in welcher Weise agieren. Klar sollte allen Führenden sein, wie der Wohlstand für alle und für das Gemeinwesen entsteht. Der Philosoph Max Scheler (1874-1928) hat sich mit dem funktionalen Herrschaftswissen über das Naheliegende hinaus beschäftigt. Manche bringen das erforderliche Wissen aus Hochschulen mit. Andere sind sehr darum bemüht, im Selbststudium nachzulernen. Dies ist nicht einfach, weil die Wissenden oft selbst nicht sicher über ihre methodologische und wahrheitstheoretische Basis Auskunft geben können.
Der „gesunde Menschenverstand“ ist überfordert
Es ist nicht ganz richtig, was Charles E. Wilson (1890-1961) einst mit Überzeugung verkün-dete: „Was gut ist für ‚General Motors‘, ist auch gut für die USA.“ Partial- und Globalziele stehen nur zum Teil in Harmonie (so Wolfgang Stützel, 1925-1987). Von betriebswirtschaftlichem Denken aus führen volkswirtschaftliche Schlussfolgerungen bisweilen sogar zu Paradoxien. Gesunder Haus- und Menschenverstand ist mit seinen Analogieschlüssen auf Nationalökonomisches überfordert (so Walter Eucken, 1891-1950). Gleichwohl versuchen sich Mutige mit einem „Management der öffentlichen Meinung“ das Vertretbare zu überspielen. Nachwachsende verlangen blauäugig, die Wissenschaft müsse politikfähiger und die Politik wissenschaftsfähiger werden. Ein US-Präsident der Demokraten ließ wissen: „Wenn die Gesellschaft den vielen, die arm sind, nicht helfen kann, so kann sie auch die wenigen nicht retten, die reich sind“ (so John F. Kennedy, 1917-1963). Vor jeder Wahl und auch danach verfechten Kandidaten und Gewählte ihre vorgeblich allein richtigen Empfehlungen zum bestmöglichen Wirtschaftsgeschehen und zur Beherrschung der „Magischen Vielecke“ von Zielkatalogen mit drei bis zehn Ecken ohne jede Hexerei. Sogar „Sachverständige“ kommen sich mit Kontroversem ins Gehege.
Niemand liest im Buch des Tübingers Manfred Wulff (1933-2022) von 1985: „Das Versagen der Wirtschaftswissenschaftler als Berater der Politiker kann mit der Eigenart des Untersu-chungsobjekts der Wirtschaftswissenschaft erklärt werden.“ Und: „Die Eigenschaften, die ein Funktionär oder Politiker braucht, um gewählt zu werden, weichen von den Eigenschaften ab, die für den Arbeitserfolg nach der Wahl entscheidend sind. Es ist deshalb nicht gewährleistet, dass sich durch Wahlen eine leistungsfähige Elite bildet.“ Niemand denkt darüber nach, weshalb im „Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrats zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ vom 14. 8. 1963 mit Mehrheits- und Minderheitsgutachten, die zu veröffentlichen sind, Raum für Vielfalt gegeben wurde.
Komiker, Journalisten und Ordinarien kritisieren
Der US-Komiker Danny Kaye (1911-1987) spottete: „Wirtschaftswissenschaft ist das einzige Fach, in dem jedes Jahr auf dieselben Fragen andere Antworten richtig sind.“ Er dachte dabei nicht an das langfristige und stetige Heranwachsen besseren Wissens in der Nationalökonomik für die staatlich eingebundene Volkswirtschaft. Ihn irritierte die kurzfristig wechselnde „herrschende Meinung“ unter den Fachleuten. Eine andere Art von Verunsicherung über die Verlässlichkeit nationalökonomischen Fachwissens bewegte den US-Journalisten Henry Hazlitt (1894-1993): Mehr als in jeder anderen Wissenschaft lauern in der Volkswirtschaftslehre überall Irrtümer und Trugschlüsse, Modelle würden interessengesteuert und sogar betrügerisch missbraucht. Heute noch trifft der Tourist in den USA auf ökonometrische „Model-Shops“, die speziell zugeschnittene Wirtschaftsbilder mit bestimmten, scheinbar zwingenden „Folgerungen“ verkaufen. Es ist nicht verwunderlich; denn diffuses Wissen kam stets auch von den Lehrstühlen der Ordinarien.
Werner Sombart (1863-1941) soll 1909 in einer Debatte des Vereins für Socialpolitik ausge-rufen haben: „Wer glaubt denn heutzutage außerhalb unserer Kreise noch an die nationalökonomische Wissenschaft?“ Joseph Stiglitz (geb. 1943), im Jahre 2001 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet, schrieb 2010: „Innerhalb der Kathedrale der Volkswirtschaftslehre gibt es viele Kapellen, die speziellen Problemen geweiht sind. Jede hat eigene Priester und sogar ihren eigenen Katechismus.“ Paul Krugman (geb. 1953), be-kannter Schüler von Paul A. Samuelson (1915-2009), gibt es im Lehrbuch an den Nachwuchs weiter: Mit fünf Fragen zur Geldpolitik und zur Fiskalpolitik, die unterschiedlich beantwortet werden, zeigt er die Unterschiede einiger Theorierichtungen auf: Klassische und Keynesianische Makroökonomik, Monetarismus und Moderner Konsens implizieren unterschiedliche und teilweise klar gegensätzliche Empfehlungen für die Wirtschaftspolitik. Mit andeutungsweisen wirtschaftsstatistischen Befunden suchte Hans Brems (1915-2000) das unklare Erscheinungsbild der nationalökonomischen Makroökonomik 1980 mit einem Kombi-Modell aus allen wichtigen Konzeptionen aufzubessern.
Verleger, Antiquare und Wähler sind irritiert
Verlage, die noch vor einigen Jahrzehnten damit glänzten, „Ökonomen verändern die Welt“ oder „Die neuen Ökonomen“ zu präsentieren, haben resigniert. Als Münchener Wirtschafsredakteure 2016 die 36 rasch arrivierten Jungordinarien Deutschlands vorstellten und befragten, war dies ein letzter Versuch. Sie kamen auf „überraschende Einblicke“ und enttäuschend enge, spezielle Tätigkeitsfelder. Gescheite halten sich zurück, und gestehen dies manchmal erst in der späten Nobelrede: „Die vorherrschenden Ideen, so irrig sie auch sein können, gewinnen einfach durch ständige Wiederholung den Charakter von etablierter Wahrheit, die man nicht in Frage stellen kann, ohne sich dem Bannstrahl des ‚Establishments‘ auszusetzen“ (so Maurice Allais, 1911-2010, am 9. 12. 1988). Es klingt wie die Weisheit bei dem spanischen Philosophen Baltasar Gracian (1601-1658): „Besser mit allen ein Narr als allein gescheit!“ Antiquare sind längst nicht mehr dazu bereit, natio-nalökonomische Fachliteratur anzukaufen. Sie sind von der Vielfalt irritiert, wie die Wähler insgesamt auch.
Der Irrglaube an eine exakte Einheitswissenschaft
Der Irrglaube an eine exakte nationalökonomische Einheitswissenschaft mit dem Charakter einer Art von „Sozialphysik“ wird aus mehreren Quellen gespeist. Obenan stehen dabei Stolz und Ehrgeiz der Nationalökonomen. Sie unterliegen unausgesprochen dem „Koexistenzparadoxon“, das Hans Werner Holub (geb. 1940) im Jahre 1978 in seiner Münchener Habilitationsschrift in dem Bewusstsein formulierte, dass eine Einheitswissenschaft sich schrittweise verbessernd fortentwickelt. Dies macht auch den bislang gepflegten „naturwissenschaftlichen Denkstil“ verständlich, der sich auf dreierlei stützt: (a) Genaue Ausdrucksweise, (b) Überprüfbarkeit der Zusammenhangsvermutungen, (c) Suche nach Gesetzmäßigkeiten. Bei (a) stören durchwegs unscharfe Definitionen und ungenaue Daten. Bei (b) und (c) sind völlig überzogene Erwartungen an die Ökonometrie zu erwähnen, die Jack Johnston (1923-2003) noch im Jahre 1992 ambitioniert formulierte. Lässt man überlebte Nationalökonomien der Vergangenheit beiseite, so müsste eine vertretbare Einheitstheorie alle gegenwärtigen Nationalökonomien der Welt sowie alle jemals in der Zukunft vorkommenden – unbekannten – Nationalökonomien erklärend abdecken können, was selbstverständlich entfällt. Mit einer Kombination von allem Altbekannten – wie von Hans Brems erwähnt – kann dies auch nicht abgetan werden. Die Nationalökonomik als ein Fach von „geschichtlicher Natur“ zu verstehen, war wohl angemessener (so 1920 von Othmar Spann, 1878-1950, und 1986 von Hans Brems, 1915-2000).
Perspektivische Wahrheiten und Quasi-Theorien bleiben
Die „Theoretische Nationalökonomik“, eine Art Sozialphilosophie mit Mathematik für die staatlich eingebundene Wirtschaft, kann und will nichts unmittelbar Praxistaugliches bieten (so Alfred Marshall, 1842-1924, Paul Mombert, 1876-1938, und John M. Keynes, 1882-1946). Ganz zutreffend liest man bereits 1896: Es gibt „keine allgemeingültigen nationalökonomischen Wahrheiten“ (so Rudolf Stammler, 1856-1938). Wer dies nicht weiß oder nicht wahrhaben will, sucht weiter nach der immer und überall empirisch gültigen nationalökonomischen Einheitstheorie – und gerät dabei immer wieder auf einen „Holzweg“ (so Erich Welter, 1900-1982).
Vertretbar sind nur spezielle Analysen einer „Angewandten Nationalökonomik“ für bestimmte Gebiete und Zeiträume, deren Ergebnisse wahrheitstheoretisch als „Perspektivische Wahrheiten“ und methodologisch als „Quasi-Theorien“ zu werten sind. Aufgrund der mehrstufigen Komplexitätsreduktion bei modelhaften Beschreibungen des zu erklärenden dynamischen Ursachengeflechts eröffnen sich unweigerlich parallel mehrere Möglichkeiten für vertretbare Modelle und Theorien. Diese sind nicht übertragbar und nicht zu verallgemeinern. Mit dynamischen Makromodellen – bei zeitlichen Vorgriffen (Leads) und Rückgriffen (Lags) einiger der Variablen – ergibt sich die interessante Möglichkeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft rechnerisch zu verbinden. Tatsächlich aber ist die mathematische Sicht historisch allenfalls „vorwärts“ glaubhaft. Modellarbeit kann dabei nach Jürgen Wolters (1940-2015) entweder datenorientiert oder theorieorientiert ansetzen. Man gelangt sodann – theoretisch und ökonometrisch bezeichnet – zu Keynes-Klein-, Phillips-Bergstrom-, Walras-Johansen-, Walras-Leontief- und Muth-Sargent-Modellen. Daraus sind für Impulse und Auswirkungen – mit unterschiedlicher Dauer und Stärke – Gedankenfolgen abzuleiten, wie es sich Alexander G. Granberg (1936-2010) vorstellte, und wie es sich „Klassiker“ sowie andere nach ihren jeweils höchst unterschiedlichen Erfahrungswelten dachten.
Weil das „System Nationalökonomie“ keiner festgefügten Maschine entspricht, sondern sogar einem turbulenten Wandel mit allerlei Innovationen und Verhaltensänderungen bei demografischen Erneuerungen unterliegt, sind die ungefähren zukunftsgültigen Verknüpfungen kaum verlässlich fassbar. Experten mit „tacit knowledge“ allenfalls kommen dabei mit subjektivistischer Wahrscheinlichkeitstheorie zum Erfolg. Die breit angelegte vergangenheitsbasierte Makroökonometrie – das MEMMOD-Modell der Deutschen Bundesbank verfügt über 690 Gleichungen (für einen Verbund von 9 Ländern), das QUEST-Modell der Europäischen Kommission hat 1.030 Gleichungen (für einen Verbund von 16 Ländern) – befindet sich an Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit.
Die Mehrdeutigkeit der Nationalökonomik
Zusammenfassend sind die folgenden Punkte zu notieren:
- Der Zweig „Theoretische Nationalökonomik“ mit seinem überwältigenden literarischen Angebot an philosophierenden und mathematisch eingekleideten bloß „denkbaren“ Erklärungen möglicher Nationalökonomien kann und soll nichts unmittelbar Praxistaugliches bieten. Inhalte von Lehrbüchern dürfen nicht als die Weitergabe von „nationalökonomischem Erfahrungswissen“ missverstanden werden.
- „Theoretische Mikroökonomik“ – obwohl besonders konsistent präsentiert – scheidet so-fort als praktisch irrelevant aus, weil die elementaren Grundlagen (Nutzenfunktion, kardinale Nutzenmessung potentieller Nachfrager und kostendeckende Mindestpreise potentieller Anbieter) nicht feststellbar und in freiheitlichen Gesellschaften nicht fortlaufend abfragbar sind.
- „Angewandte Nationalökonomik“ nur kommt – als Angewandte Makroökonomik -anregend für Praktiker in Betracht. Dabei müssen – mit Anregungen der Theoretischen Nationalökonomik – bestimmte Gebiete und Zeitabschnitte untersucht werden.
- Es ergeben sich – parallel – unterschiedliche Modelle (und Theorien) mit mehrdeutigen Ursache-Wirkungs-Deutungen. Da kein „ein-eindeutig wahres Modell“ möglich ist, sind Fachleute zur einigenden Absprache nach Plausibilität gehalten.
- Nicht zu vergessen ist das „Ungefähre“ aller Nationalökonomik (Fuzzy-Logik): Unscharfe Definitionen von Variablen, ungenaue angepaßte Daten, weiche und alternative Verknüpfungen mit divergierenden Zeitmustern der Leads und Lags (Verknüpfung unscharfer Mengen).
- Nicht zu vergessen ist der beobachtbare „zirkuläre Fortschritt“ in Theoretischer wie in Angewandter Nationalökonomik, der verlässliche persönliche Zuordnungen von Erster-kenntnissen und von Irrtümern unmöglich macht.
- Welche Vorgehensweise bleibt fachlich Interessierten und Aufgeschlossenen? (a) Für Eingriffsentscheidungen in der laufenden Periode: Auf der Grundlage eines anerkannten dynamischen Modells der Nationalökonomie (ggfs. auch mehrerer Modelle) Entscheidung über Art und Stelle des Maßnahmeneinsatzes, (Strategie mit Input-Output-Ansatz) oder vielleicht auch einer erwartbaren Selbstregulierung. (b) Für Erwartungen in der nächstfolgenden Periode und dafür zu setzende Impulse ungefähr verändertes Gegenwartsmodell in allen Teilen – ungefähr – kontrollieren und revidieren (Stützel-Raabe-Vorgehensweise).
- Tatsächlich wird eine Vielzahl von Meschen in Vereinfachungen und Stereotypen denken und – wegen zu großer Schwierigkeiten genauen Nachdenkens – nach Personalisierungen des Vertrauens entscheiden, wem sie die Stimme geben und wessen Vorschlägen sie zustimmen (so Murray Edelman, 1919-2001).
Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. Adolf Wagner, Universität Leipzig, Post: 72108 Rottenburg, Burglehenweg 7
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