Zeitenwende über den Kaukasus hinaus (1989/1990). Ein fast normaler Tag in Eriwan

Erstveröffentlicht – Zeitenwende über den Kaukasus hinaus (1989/1990)- Ein fast normaler Tag in Eriwan
[ENG] On March 26, 2025, the Armenian parliament decided to begin the process of joining the EU. Traditionally, Russia was Armenia’s „protecting power,“ but during the Russian war in Ukraine, the Armenians felt abandoned by Russia in their dispute with Azerbaijan over Nagorno-Karabakh. After several decades, Armenia lost the conflict with Azerbaijan over Nagorno-Karabakh in September. Azerbaijan launched a major offensive on the predominantly ethnic Armenian-populated area on September 19, 2023, with the help of Turkey. A ceasefire was agreed upon on September 20, and Nagorno-Karabakh announced its dissolution on September 28, effective January 1, 2024. By the end of September, over 100,000 ethnic Armenians had fled the region.
Hintergrund
Am 26.3.25 beschloss das armenische Parlament den Beginn des EU-Beitragsprozesses Traditionell war Russland die „Schutzmacht“ Armeniens, doch während des russischen Krieges in der Ukraine fühlten sich die Armenier in ihrer Auseinandersetzung um Berg-Karabach mit Aserbaidschan von Russland enttäuscht. Im September unterlag Armenien nach mehreren Jahrzehnten den Konflikt mit Aserbaidschan um Berg-(Nagorny-)Karabach, nachdem Aserbaidschan mit Hilfe der Türkei am 19.9.23 eine Großoffensive auf das überwiegend von ethnischen Armeniern besiedelte Gebiet gestartet hatte. Am 20.9.23 wurde ein Waffenstillstand vereinbart und Berg-Karabach am 28.9.23 seine Auflösung zum 1.1.24 angekündigt hatte. Bis Ende September waren über 100.000 ethnische Armenier aus der Region geflohen.
Ein weiteres für Armenier sehr wichtiges Ereignis war der Völkermord an Armeniern (Armenozid) im Jahre 1915 und 1916 unter Verantwortung der jungtürkischen Regierung des Osmanischen. Dabei wurden durch Massaker, Todesmärsche und gezielte Vernichtungspolitik geschätzt 300.000 der über 1,5 Millionen Armenier getötet. Das armenische Siedlungsgebiet umfasste neben dem heutigen Armenien damals auch sechs armenische Provinzen (Erzurum, Van, Bitlis, Diyarbekir, Mamuret ül Aziz (heute Elazig) und Sivas in Ostanatolien sowie Gebiete im Südosten (Südtürkei) rund um Adana, Maras und die historische Hauptstadt Sis. In Istanbul, Izmir und Alexandrien bildeten armenische Gemeinden bedeutende Minderheiten in Handel und Handwerk. In Eriwan, der heutigen Hauptstadt Armeniens gibt es eine Gedenkstätte an diesen Armenozid, an dem diesem jährlich gedacht wird. Dort brennt eine ewige Flamme und es werden dort ständig viele Blumen abgelegt.
Am 7. 12.1988 um 11.41 Uhr Ortszeit erschütterte ein schweres Erdbeben insbesondere die Regionen Spitak und Leninakan, bei dem geschätzt 70.000 Menschen umkamen und viele Gebäude, die in Sowjetzeiten nicht erdbebensicher erstellt worden waren, zerstört wurden. Nach diesem Erdbeben lief noch in Zeiten der Sowjetunion eine große internationale Hilfsaktion westlicher Länder an, in deren Rahmen ich für das Deutsche Rote Kreuz von März bis September 1990 in Armenien humanitär (im Wiederaufbau) tätig war.
In dieser Zeit schrieb ich den nachfolgenden Text:
Geschichte wird geschrieben
29.8.1990
Ein ganz normaler Tag. Wie gewöhnlich sind morgens schon Eriwans
Verkehrschaos in Eriwan
Ein ganz normaler Tag. Wie gewöhnlich sind morgens schon Eriwans Straßen erfüllt von Autohupen und Abgasen: Ampeln sind, wie üblich, Diskussionsgrundlage und ehe man sich einig geworden ist, ob sie rot oder grün war, ist sie schon Geschichte. Etwas erstaunt nur der Stau an ungewohnter Stelle direkt hinter dem Hotel auf dem Weg zum Büro, doch lange wundert man sich in einer Stadt hierüber nicht, in der jeden Tag andere Straßen gesperrt sind, weil irgendwo Leitungen repariert werden oder sonst etwas gebuddelt wird. Vollkommen gewöhnlich ist dabei auch, dass es zum Stau kommt, weil die viel zu enge Einbahnstraße in beiden Richtungen befahren wird. Die Bedeutung dieses Staus erfahre ich erst später …
Die Ursache der Staus
Nachts konnte man vom Hotel Schüsse hören, doch auch das ist nicht das erste Mal. Dann jedoch wird zunehmend klar, dass der Tag alles andere als normal ist. Die Übliche, noch etwas müde, Ausgelassenheit des ersten Kaffees im Büro des Deutschen Roten Kreuzes in der Puschkinstraße 3a fehlt heute morgen. Unsere armenischen Mitarbeiter erscheinen bedrückt und erzählen von einer nächtlichen Schießerei zwischen „HeHeSche“ und „HAP, bei der zwei Menschen ums Leben gekommen sind. Einer der beiden Toten ist ein Deputierter der neuen armenischen Regierung.
Auch in den anderen Büros im „Journalistenhaus“ herrscht Unruhe. Man redet miteinander, tauscht Informationen aus, und berät sich über zu treffende Maßnahmen, um Eventualitäten vorzubeugen und die Sicherheit der Mitarbeitenden so weit wie möglich zu gewährleisten. Wir telefonieren mit dem Vizepräsidenten des Armenischen Roten Kreuzes und dem Präsidenten der Katastrophen-Schutz-Gruppe „Spitak“ . Beide haben gute Kontakte zur neuen Regierung, die erst vor wenigen Tagen die Unabhängigkeit Armeniens ausgerufen hat, wie dies schon zuvor andere Sowjetrepubliken in der ein oder anderen Form getan haben.
Beide waren Freunde des ermordeten Abgeordneten. Mit unserer Dolmetscherin Marina fahre ich zum Oberstem Sowjet, um zusätzliche Informationen und deren Lageeinschätzung zu hören.
Eigentlich ist die Straße gesperrt, an der die Hauptpapiere von HeHeSche und HAP sich schräg gegenüber in einer Entfernung von nur etwa einhundert Metern liegen. Deshalb entstand heute morgen der Stau, da die enge Einbahnstraße als Umleitung herhalten musste. Doch öffnen das Rot-Kreuz-Auto und Marinas Geschick uns alle Sperren. Auch am Obersten Sowjet brauchen wir nicht lange auf Einlass zu warten – zu gut ist das Ansehen gerade des DRK in Armenien, da das DRK sofortige und umfassende Erdbebenhilfe geleistet hat. Nach kurzer Wartezeit empfängt uns der Staatssekretär. Ja, die Lage sei ernst, doch könnte man die Sicherheit unserer Mitarbeiter garantieren. Heute Nachmittag um 16.oo Uhr werde eine Erklärung der Regierung in Fernsehen und im Rundfunk ausgestrahlt. Es bestehe eine nächtliche Ausgangssperre von 22.00 bis 6.00 Uhr. Man werde uns auf dem Laufenden halten.
Die Vorkommnisse der Nacht
Was war passiert? Nach Informationen des Staatssekretärs und unserer anderen Gesprächspartner waren einige Leute von HeHeSche zu einer Tankstelle gefahren, um dort Ordnung zu schaffen. Durch die Blockade herrscht Benzinmangel in Armenien – das Auto ist aber auch des Armeniers „liebstes Kind“. So kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen an den Tankstellen, um ein paar Tropfen Benzin. Nach einer Weile kam ein Auto mit Bewaffneten (offensichtlich HAP-Mitglieder), die das Feuer eröffneten. Drei Personen wurden verletzt. Außerdem war in der Nacht das Hauptquartier von HeHeSche durch HAP-Kämpfer angegriffen worden. Eine Abordnung von HeHeSche unter der Leitung des Deputierten fuhr zum Hauptquartier von HAP, um dort zu erfahren, was das alles sollte. Als sie aus dem Auto stiegen, wurde sofort das Feuer eröffnet. Zwei Menschen starben im Kugelhagel.
Zurückgekehrt hören wir in Radio. Die Regierung hatte folgendes erlassen: nächtliche Ausgangssperre von 22.00 bis 6.00 Uhr HAP ist nicht länger eine illegale Organisation. Ultimativ werden alle Mitglieder von HAP aufgefordert, ihre Waffen abzugeben. Jeder, der diesem Ultimatum nicht nachkommt, ist an morgen früh kriminell. Die Regierung kann sich auf eine breite Zustimmung beim Volk stützen: auch wenn HAP bislang viele Anhänger hatte. Die Ermordung des Deputierten jedoch stößt auf allgemeines Unverständnis und Missbilligung.
Wer ist HAP? Wer ist HeHeSche?
HeHeSche ist hervorgegangen aus dem Karabach-Komitee“, jener politischen Gruppierung, die sich (damals) seit längerer Zeit für die Unabhängigkeit der in Aserbaidschan liegenden Exklave „Nagorny-Karabach“ oder deren Angliederung an Armenien bemüht. Diese Exklave ist (war – bis 2023) größtenteils von Armeniern bewohnt, doch wurde sie Aserbaidschan angegliedert und unter aserbaidschanische Verwaltung gestellt. Hieran entzündeten sich die Auseinandersetzungen zwischen Aserbaidschan und Armenien. Das Karabach-Komitee versucht die Aktivitäten unzähliger kleiner und großer Gruppierungen von „Freiheitskämpfern“ zu organisieren und zu koordinieren. HeHeSche ist seit wenigen Wochen die Partei, die die neue armenische Regierung zu großen Teilen stellt; auch der Anfang August neu gewählte Präsident Armeniens, Lewon Ter-Petrosjan kommt aus den Reihen von HeHeSche.
HAP (Nationale Befreiungsarmee Armeniens) ist eine konkurrierende Gruppierung. Oberflächlich betrachtet haben sie die gleichen Ziele. Auch sie wollen die Befreiung Karabachs, auch sie wollen das gefahrlose Leben der in Karabach lebenden Armeniern gewährleisten. Neben HeHeSche ist HAP die größte und einflussreichste Gruppierung in der ziemlich unübersichtlichen Landschaft von Gruppen und Grüppchen. Wie viele Mitglieder HAP hat, weiß keiner so genau, fünfstellig ist ihre Zahl sicherlich. Bewaffnet sind sie bis an die Zähne; neben Gewehren, Maschinengewehren und „was man sonst so braucht“, besitzen sie auch Panzer und Hubschrauber.
Die Hintergründe der Auseinandersetzung sind unklar. Gerüchte gibt es, dass HAP mit dem KGB zusammenarbeitet oder von Aserbaidschan oder der „armenischen Mafia“ bezahlt werde, und die Aktion unter dem Stichwort „Provokation“ anzusiedeln sei; und tatsächlich ist auch das am meisten gehörte Wort auf Armeniens Straßen.
Sicher scheint nur, dass HAP einen Teil ihrer Waffen und sonstigen Ausrüstung von der ehemaligen Regierung Armeniens erhalten haben. Zu Zeiten der Auseinandersetzungen mit Aserbaidschan und der schweren Übergriffe in Baku und Nagorny-Karabach in den Jahren 1988 unde 1989 wurden Freiwillige, die die Grenze Armeniens und die Armenier verteidigen wollten, mit Waffen und Fahrzeugen ausgerüstet. Ein anderer Teil der Waffen kam durch Diebstahl in den Besitz von HAP. Auch wird ihnen vorgeworfen, eine größere Anzahl von Privatautos – vor allen geländegängige und weitverbreitete, also unauffällige Lada-Niva – gestohlen zu haben.
Beratung und Beruhigung der Situation
Abends kommen der Vizepräsident von Armcross und der Präsident der „Spitak“-Gruppe ins Hotel, um uns nochmals zu berichten und unsere Sicherheit zu garantieren. Wir beschließen, uns die Nacht über ruhig im Hotel zu verhalten und am nächsten Morgen die Lage zu erkunden, bevor wir unsere Mitarbeiter ins Büro kommen lassen. Das Ultimatum der Regierung steht: ob HAP seine Waffen jedoch freiwillig abgibt, muss angezweifelt werden. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass es nachts zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen wird. Für die neue Regierung, auf die viele Armenier ihre Hoffnungen gründen, ist diese Situation eine echte Bewährungsprobe.
Am nächsten Morgen kommt der Präsident der „Spitak-„Gruppe freudestrahlend ins Hotel. Fast alle Mitglieder von HAP in Eriwan haben vergangene Nacht gegen 5.00 Uhr ihre Waffen abgegeben. Nur eine kleine Gruppe von ca. 30 Leuten ist der Aufforderung noch nicht nachgekommen. Die Situation ist völlig unter Kontrolle, die akute Gefahr ist vorbei. Wir informieren unsere Mitarbeitenden und nehmen unsere Arbeit wie gewohnt wieder auf. Uns allen fällt ein kiloschwerer Stein vom Herzen, unsere armenischen Mitarbeiter lachen und scherzen wieder. Auch sie haben wieder Hoffnung und Zuversicht in ihr Land erlangt und die Befürchtungen von gestern überwunden.
Normalisierung
An diesem Tag, dem 30.8.1990, bekommen wir Sondergenehmigungen, um unsere Arbeit auch nachts fortzusetzen. Als ich wenige Nächte später zum Flughafen muss, um sechs Mitarbeiter abzuholen, passiere ich sechs Straßensperren auf den ca. 12 Kilometer vom Hotel zum Flughafen. Ich werde angehalten, freundlich gegrüßt und ein Blick auf meine Papieren geworfen. Auf der Rückfahrt winkt man mir schon nur noch zu, und ich kann ohne Kontrolle weiterfahren.
Einige Tage später gibt auch ein Großteil der HAP-Kämpfer in den Rayons (Provinz) Armeniens ihre Waffen ab.
Armenien ist eine sehr alte Kultur (Foto: Stefan Hagelüken – 1990: Der Tempel von Garni ist der einzig erhaltene Tempel aus griechisch-römischer Zeit, dem 1. Jhd. n. Chr., umgeben von Bergpanoramen)