Der Leiter des Kompetenzbereichs Flüchtlinge, Bildung und Arbeitswelt am IfS, Jean-Paul Kühne, berichtet über den stattgefundenen Begegnungstag am 29. Juli 2016.

August 2016

Werkstattbericht des Kompetenzbereichs Flüchtlinge, Bildung und Arbeitswelt des Instituts für Sozialstrategie zum Begegnungstag am 29.07.2016

Je mehr Dialoge institutionell verankert sind, die Teilnehmer benannt werden z. B. von Kommunen, Betrieben, Initiativen, desto eher verlaufen sie in Bahnen erwartbarer, oft vorab abgestimmter, Konsensfähigkeit. Dass dies hier anders war, lag u.a. daran, dass sich die aktuell anliegenden Probleme erst in den vorhergehenden Telefon- und e-mail-Kontakten herausstellten.

Der Weinbauverband sagte sogar erst drei Tage vor Tagungsbeginn zu. Auch die Kommunikationspartner, sogar der Ort des Treffens, erwiesen sich erst im Verlauf der Kommunikation. Von den aktuellen Ereignissen und Problemlagen, bis hin zur Zusammensetzung der Teilnehmer-Gruppe sowie den Resultaten für die Arbeit mit Flüchtlingen, soll in diesem Werkstattbericht die Rede sein. Es nahmen teil:

  • Frau Daniela Rüden, Mitarbeiterin des Karlsruher Institut für Technologie (KIT) der TU Karlsruhe
  • Frau Alina Berger, Mitarbeiterin des KIT
  • Herr Werner Bader, Geschäftsführer des Weinbauverbandes Württemberg
  • Herr Herrmann Hohl, Präsident  des Weinbauverbands Württemberg
  • Frau Figen Sülün, Handwerkskammer Franken, Heilbronn
  • Herr Bernhard Seidl, Steinbeis Sibe
  • Herr Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel, Direktor des ifs
  • Frau Amparo Hemel, ifs
  • Jean-Paul Kühne, Kompetenzzentrum Flüchtlinge, Bildung und Arbeitswelt des ifs, Berichterstatter

Der Teilnehmerschwerpunkt lag also im Bereich Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung. Heterogen in der Zusammensetzung, ließ die Kontroverse in der Runde nicht lang auf sich warten:

Der direkteste Anstoss für die Arbeits- und Berufsperspektive von Flüchtlingen kam von den Vertretern des Weinbauverbandes, die ein aktuelles  Anliegen hatten, nämlich die Suche nach Lesehelfern für die bevorstehende Weinernte im Herbst (s.u.). Drei weitere Akteurinnen, die mit Tipps und Hinweisen geholfen und gesteuert hatten, sassen nicht selbst mit am Tisch: Frau Prof. Dr. Nicole Jung vom KIT, Karlsruhe, die die mangelnde Effizienz internetgestützer Information und Vermittlung von Flüchtlingen beklagt hatte, Frau Wiebke Backhaus M.A., Referentin für Gleichstellung und Diversität an der Hochschule Heilbronn, die eine Anfrage für die Vermittlung eines Studierenden/Flüchtlings von Heilbronn nach Karlsruhe vorliegen hatte und Frau Prof. Ruth Fleuchaus, Prorektorin der Hochschule Heilbronn für Internationalisierung, an der Hochschule, den Bereich Weinmarketing vertretend.

Frau Figen Sülün von der HWK wies darauf hin, dass ein Grossteil der Flüchtlinge mit  islamischen Hintergrund im Thema Weinbau vermutlich ein tabugeladenes Thema sähe, mithin eines, das der Integration entgegenstünde. Dagegen die Beiträge seitens des Weinbauverbandes: Regelungen  für Saisonarbeiter umfassten einen Zeitraum von 70 Tagen/Jahr und sämtliche Arbeiten im Weinbau, längst nicht nur die Weinernte. In Berührung mit Alkohol (im Weinkeller) käme niemand, der das nicht wolle. Diese Informationen versachlichten die Debatte. Ein weiterer Aspekt: Wer schon einmal in einem der arabischen Herkunftsländer war (meine Beobachtungen stützen sich auf Marokko), weiss, dass Weinbau in diesen Ländern ein nicht zu unterschätzender ökonomischer Faktor ist.

Die substantiellsten Informationen aber vermitteln sich erst mittels dieser Positionen:

  • Es besteht Bedarf an nicht-industriellen Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft.
  • Es geht überwiegend um Familienbetriebe, die Familienanschluss bieten.

Angesichts der Herkunft vieler Flüchtlinge aus ländlichen Räumen und den weltweiten Perspektiven (Ernährung) ist Arbeit in der Landwirtschaft eine reale und dringliche Perspektive. So lässt sich als (freiwilliger) Erntehelfer das Berufsfeld erkunden und bei Neigung und Eignung in eine Ausbildung  einmünden, und zwar in einer Branche, die Auszubildende sucht. Auch mangelnde Sprachkenntnisse seien durch die familiäre Anbindung anfangs kaum eine Hürde, so die Vertreter des Weinbauverbandes, und der gesetzliche Mindestlohn sei ohnehin Pflicht. Das vergleichsweise positiv ausfallende Signal im Verband Württemberg sei auf die starke Dominanz von Familienbetrieben zurückzuführen. Die Betriebe hätten zudem in Flüchtlingsinitiativen und Helferkreisen nicht-kommerzielle Partner, die nicht am Ernte-Einsatz des Flüchtlings mitverdienen wollten.

Die Ergebnisse:

  1. In der Online-Ausgabe von Rebe und Wein (www.rebeundwein.de) erschien Mitte August eine ausführliche Fachinformation über Flüchtlinge als Lesehelfer, dem.Anfang 09/16 die Printausgabe.folgt.
  2. Im persönlichen Kontakt wurde die Anfrage seitens der HS Heilbronn an die Vertreter des KIT persönlich weitergeleitet, worauf eine Einladung des Bewerbers in die Studienberatung persönliche zugesagt wurde.
  3. In Anschluss an die Tagung sagte Frau Prof. Dr. Fleuchaus zu, die Erntehelfer-Initiative im Weinbau an der Hochschule zu “kommunizieren soweit wir Anknüpfungspunkte sehen”, womit diese Anregung wieder in die Beratung der Flüchtlinge/Studenten einfliessen würde.

Es waren die persönlichen Kontakte, die sich als belastbar und weiterführend erwiesen. Im Schlussresumee  fiel denn auch der Begriff “Tandem-Partnerschaft” seitens einer Teilnehmerin (KIT). Darin könnte eine Anregung für Mitarbeiter auch des ifs liegen, die ja zum nicht geringen Teil im Wissenschafts- und Bildungsbereich engagiert sind. Überregionale Tandems von Mitarbeitern treten miteinander in Kontakt, um für Flüchtlinge die richtige Beratung, den richtigen Studien- und Arbeitsort im Einzelfall zu finden. Die Resonanz auf die Kontaktarbeit des ifs zeigt: Die Mitarbeiter in den mit Flüchtlingen befassten Bereichen stehen unter erheblichem Druck und gehen auf Entlastungen (“wo es klemmt”) aktiv ein. Sonst ist zu befürchten, dass Initiativen untergehen in der Vielzahl der Optionen, Hinweise und Verweise, die an der “grossen Zahl” orientiert sind, den Einzelnen aber zu selten persönlich erreichen.

Sehen wir uns die Bildungsbiografien von Flüchtlingen näher an, denn an ihnen machen sich ja die Perspektiven fest. Bildungsbiografien, oftmals rudimentär und fragmentiert, gekennzeichnet von Abbrüchen, Not- und  Zwangslagen. Daraus folgen zwei konkurrierende Zielstellungen:

  1. der Integration wegen kurzfristig zu reagieren mit dem Angebot (auch niedrig qualifizierter) Arbeit
  2. der langfristigen Perspektive systematisch durch Aus- und Weiterbildung Rechnung zu tragen

Wie schon die Diskussion um Erntehelfer zeigte, befürchten die einen eher, dass mit billigen Arbeitskräften und Aushilfen vor allem dem Markt entsprochen würde, während die anderen den möglichen Einstieg in Ausbildung höher bewerten. Auf diese, teils sich ergänzenden, teils widersprüchlichen Zielstellungen, kann durch “komplementäre” Ansätze auch in der Pädagogik und Bildung reagiert werden. “Komplementär” versteht sich einerseits als ergänzend, andererseits aber auch als Handeln, das zwar Gegensätze thematisiert und problematisiert, diese jedoch als Teil eines “grossen Ganzen” begreift. Komplementäres Denkansätze finden heute in den Kommunikationswissenschaften (Paul Watzlawick), der Ethnologie, Medizin Beachtung. So findet bspw. der Begriff “Komplementärmedizin” statt des Gegensatzpaares “Alternativmedizin – Schulmedizin” in Teilbereichen der Naturheilkunde Anwendung. Bezogen auf die Bildung von Flüchtlingen hätte dies zu bedeuten, sich ein Stück weit von den Anforderungen des Bildungssystems zu lösen, um (im Einzelfall) andere, weniger systemkompatible Wege zu gehen, allerdings ohne diese wiederum zum verbindlichen System zu erheben.

“Sind wir bereit, unsere hohen Qualifikationsanforderungen zu senken? Ein Auge zuzudrücken, um den Einstieg zu ermöglichen? Vielleicht kann der Betroffene den Abschluss im Job nachholen und nachreichen. …  Wenn wir peinlich genau immer auf unsere Standards pochen, wird die Integration immer schwieriger. …  Manche europäische Nachbarn sind deutlich schneller bei der Vermittlung in kleine Jobs. Sie fahren gut mit dem Prinzip, sofort Arbeit, sofort Sprachkurse. Bei uns wird mir zuweilen bei dem Thema Flüchtlinge zu sehr das Ideal des Facharbeiters hoch gehalten” (Frank Jürgen Weise, Chef des Bampf im Interview mit dem Tagesspiegel am 18.04.2016).

Sprachlich benennt Flucht ein Geschehen in der Aussen- wie der Innenwelt. Aus Einzelschicksalen der Flüchtlinge wird so verbindendes Merkmal menschlicher Existenz. Dies begründet den Zugang aller Menschen zu dem, was Flucht bedeutet. Flucht spielt sich zudem in einem Raum ab. Die Ankommenden werden Fremde, die dort schon Vorhandenen zu Einheimischen. Ort wird zum “Standort” und weiter zum “Bildungsstandort”, der Standards setzt. Dazu nahm Im zweiten Teil der Tagung Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel vertiefend in einem Vortrag gesondert Stellung. Das Thema: Die Fremden und die Fremde, das dialogische Prinzip.

Dialoge werden bspw. seitens der Arbeitsverwaltung, der Bildungsberatung und auch des Personalrecruitings durch  Fragen eröffnet wie:

  • Welche Arbeitserfahrungen bringen die Ankommenden mit (aus anderem Kontext)?
  • Wo  haben sie ihr Engagement gezeigt?
  • Worin sehen sie den Sinn ihres Tuns, woran haben sie Freude?

Posted by Jean-Paul Kühne M.A.

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