Wohin geht unsere offene Gesellschaft?

Abstract [en]: This talk tackles the crisis of the normative project of the West and the topicality of an illiberal world view that is ‘similar to national socialism’, as we are reminded by historian Fritz Stern. [1] We are experiencing a societal “rollback” that shows trends parallel to those of the inter-War times. The “rollback” is a reaction to liberal impositions that some do not want to bear any more. It seems like the upheaval of 1968 has been a lot more fundamental and has posed a much greater challenge for those beyond liberal-academic circles than previously thought. With the appearance of the “new right” an inauspicious past is coming to life that had seemed long forgotten.

Just like during the Weimar Republic the racial nationalism labels that against which it is fighting as “liberal” – it is a rallying cry for the defamation of political opponents that hold on to the ideas of 1776, 1789, 1848 and 1968. “1968” regains importance because of anti-liberal ambitions to define society, sexuality, democracy and the state in racist, “Volk”-terms. The question this talk discusses are; what role do the ideas of 1968 play for the new reactionary nationalism? How can its rise in the western world be explained? What are we in for? What can be done?

Abstract [de]: Der Vortrag handelt von dem krisenhaften Zustand in dem sich heute das normative Projekt des Westens befindet und von der Aktualität einer illiberalen Weltanschauung, die, wie der Historiker Fritz Stern erinnert, „dem Nationalsozialismus ähnlich“[1] ist. Wir erleben einen gesellschaftlichen Rollback mit Parallelen zur Zwischenkriegszeit. Das Rollback ist eine Reaktion auf liberale Zumutungen, die manche nicht länger ertragen wollen. Offensichtlich war der Umbruch seit 1968 viel fundamentaler und jenseits liberal-akademischer Milieus eine viel größere Herausforderung als bislang gedacht. Mit dem Auftreten der Neuen Rechten wird eine unheilvolle Vergangenheit lebendig, die vergessen schien.

Wie schon in der Weimarer Republik etikettiert der völkische Nationalismus alles, wogegen er kämpft, als „liberal“ – für ihn ein Kampfbegriff zur Diffamierung der politischen Gegner, die an den Ideen von 1776, 1789, 1848 und 1968 festhalten. „1968“ gewinnt seine aktuelle Bedeutung mit den antiliberalen Bestrebungen, Gesellschaft, Sexualität, Demokratie und Staat völkisch zu definieren. Die Fragen, mit denen der Vortrag sich beschäftigt, sind: Welche Bedeutung haben die Ideen von 1968 für den neuen reaktionären Nationalismus? Wie ist sein Aufstieg in der westlichen Welt zu erklären? Womit muss man rechnen? Was kann man tun?


Oktober 2020

Das Erbe von 1968 und die Konservative Revolution

Wohin geht unsere offene Gesellschaft?

Vortrag am 23.10.2019 im Rahmen einer Veranstaltung der Humanistischen Vereinigung und der Gesellschaft für kritische Philosophie Nürnberg in der Kulturwerkstatt auf AEG, Nürnberg

Erschienen auf der Homepage der Gesellschaft für kritische Philosophie Nürnberg 

1968 – der »Feind« der Konservativen Revolution.

Der Kulturkampf um »1968« ist aktueller denn je. Wer beherrscht den Diskurs, wer setzt die Begriffe? Der politische Journalist Heinrich Wefing merkte im August 2018 in der Zeit dazu an:

In der Bundesrepublik schien das lange klar zu sein: zuerst die sogenannten Achtundsechziger, dann mehr und mehr die Grünen, obwohl sie nur kurz an der Macht waren, bis schließlich die Merkel-CDU deren Ideen aufsaugte und sich anverwandelte. […] Zum ersten Mal seit Langem wird die kulturelle Hegemonie der Linksliberalen und Grünen massiv herausgefordert.[1]

Noch im Sommer 2018 schien es nicht ausgeschlossen, dass die Diskurshoheit sich nach ganz rechts verschiebt. Besonders die in den neuen Bundesländern stark gewordene Alternative für Deutschland (AfD) begreift sich „in programmatischer Hinsicht als eine regelrechte Anti-68er-Partei.“[2] Dass es den Rechtsnationalisten um eine „fundamentale Kehrtwende“ in der Politik geht, hat Jörg Meuthen 2016 auf dem Stuttgarter Programmparteitag der AfD unter frenetischem Beifall seiner Anhänger erklärt:„Wir wollen weg vom links-rot-grün-versifften 68er-Deutschland und hin zu einem friedlichen, wehrhaften Nationalstaat.“[3] Männer sollen wieder das Land verteidigen, diesmal gegen „Umvolkung“  und „Islamisierung“ – und Frauen viele Kinder kriegen. 

Die „Partei des gesunden Menscheneverstands“, wie sich die AfD in ihrem Grundsatzprogramm 2016 nennt, behauptet darin, „Berufspolitiker“ würden in illegitimer Weise die politische Meinung steuern. „Heimlicher Souverän“ sei „eine kleine, machtvolle politische Führungsgruppe innerhalb der Parteien“. „Nur das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland“ könne „diesen illegitimen Zustand beenden.“[4] Dies kann man als Aufruf zur vermeindlichen Wiederherstellung des Rechtsstaates durch gewaltsamen Widerstand nach Artikel 20 Abs. 4 GG lesen. Der Bundestagsabgeordnete Marc Jongen, Philosoph und kulturpolitischer Sprecher der AfD und ehemaliger wissenschaftlicher Assistent von Peter Sloterdijk, benannte 2018 als sein vorrangiges Ziel, „die Entsiffung des Kulturbetriebs in Angriff zu nehmen.“[5] Wie dies zu bewerkstelligen sei, erläutert Björn Höcke so: „Diese Republik und das sie beherrschende medial-politische Establishment sind zu einem Augias-Stall geworden. Wir, liebe Freunde, müssen diesen Augias-Stall ausmisten! Dieses Land braucht eine politische Grundreinigung!“[6] Höcke will also den „Volkskörper“ vom „links-grünen Schmutz“ reinigen. Höckes klinische Sprache ist keine demokratische mehr. Sie hat den Boden des Grundgesetztes verlassen. Das Verwaltungsericht Meiningen hat jetzt bestätigt: Höcke darf als „Faschist“ bezeichnet werden, weil diese Meinungsäußerung auf einer „überprüfbaren Tatsachengrundlage“ beruhe. Das Urteil sei mit Zitatstellen aus einem Buch Höckes „Nie zweimal in denselben Fluss“ und Presseberichten „ausreichend belegt“. Höcke trete für eine „Reinigung“ Deutschlands von politischen Gegnern ein und relativiere den Hitler-Faschismus.[7]

Auch der CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt forderte zwei Jahre nach dem Stuttgarter Parteitag der AfD eine „Konservative Revolution“. Er stellte sich damit in eine unheilvolle Tradition, die zur Zerstörung der Weimarer Demokratie beigetragen hatte. So beklagte Dobrindt eine „linke Meinungsvorherrschaft“ sowie „selbsternannte Volkserzieher“ in Politik und Medien, die eine „bürgerliche Mehrheit“ zu ertragen hätte.[8] Damit war gleich zu Beginn des Jahres 2018 mit dem schillernden Begriff Konservative Revolution, den Dobrindt verharmlosend politisch „Mitte-Rechts“ verortete, der Startschuss für das neue Jahr, in dem auch in Bayern gewählt werden sollte, gegeben: Innenminister Horst Seehofer machte sich in der Folgezeit zur Speerspitze dieser „konservative Revolution der Bürger“, aber auch wider Willen zum verlängerten Arm der AfD. 

Die „Köpfe“ der Neuen Rechten.

Der Verleger Götz Kubitschek, gilt neben Karlheinz Weißmann als einer der Vordenker der Neuen Rechten. In ihren Texten argumentieren sie gegen das, was sie „Liberalismus“ nennen. Der Historiker Alexander Ruoff kritisierte „relativierende Äußerungen“ Weißmanns über die NS-Zeit als „Trivialisierung des Holocaust.“[9] Im März 2018 wurde Weißmann in das Kuratorium der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung berufen. Die Flüchtlingskrise sieht Kubitschek als große Chance für einen Umschlag in die rechte Position. Wer wie Kubitschek, Jongen, Weißmann, Höcke und Gauland, den Nationalsozialimus verharmlost und seine raum- und völkischen Konzepte aus dem NS-Kontext herauslöst, der kann die Ideen der Konservativen Revolution und die völkischen NS-Konzepte umsetzen, ohne als Nazi zu gelten. Dem entspricht das Bemühen dieses Teils der AfD, Begriffe wie „völkisch“, „Umvolkung“, „Volkstod“ oder „Lügenpresse“ wieder positiv zu besetzen und schließt, der historischen Wahrheit der Begriffe nach, die „Säuberung“ der Gegner dieser Politik und die Exklusion von Minderheiten, mit ein. 

Kampf um die neurechte Hegemonie seit 1968.

Politische Angriffe gegen »68,« wie wir sie von Meuthen oder Dobrindt kennen, sind nicht neu. Eine ähnliche Front errichteten bereits Anfang der 70er-Jahre Hans Filbinger, Ministerpräsident von Baden-Württemberg und der konservative Sozialphilosoph Günter Rohrmoser. Das von Filbinger gegründte Studienzentrum Weikersheim setzte auf den rechten Rand der Unionsparteien, dem ein Großteil seiner Mitglieder auch heute noch angehört. So feierten im März 2017 die Rechtskonservativen Thilo Sarazin auf Burg Lichtenberg im baden-württembergischen Landkreis Ludwigsburg. Als Redner fanden auch Götz Kubitschek (2003) und Alice Weidel (2017) Erwähnung. Filbinger betrachtete das SZW als „Antwort“ auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule und der sogenannten „Kulturrevolution aus den 60er Jahren“. Filbinger und Rohrmoser zielten auf eine „geistig-moralische Wende“, die an die Zeit vor 1789 anknüpfen sollte.[10] Sie richtete sich gegen die von der Studentenbewegung eingeleitete gesellschaftliche Demokratisierung und kulturelle Liberalisierung und sollte den Nationalkonservatismus der CDU befördern. Über die 68-Kulturrevolution sagte Rohrmoser unter Verkennung der historischen Tatsachen, sie habe „tiefer in das Selbstverständnis der Deutschen eingegriffen, als es vermutlich der nationalsozialistischen Kulturrevolution gelungen“ sei.[11] Filbingers und Rohrmosers Auftrag, der Kulturrevolution von 1968 eine neue konservative Kulturevolution entgegenzusetzen, trug 2013 Früchte. Wie »68« fiel die Gründung der AfD nicht vom Himmel, sondern hatte einen langen Vorlauf. Der „Nationalismus in Deutschland war nie weg“,[12] bemerkt der Historiker Norbert Frei. Armin Mohler, Journalist, Privatsekretär von Ernst Jünger, Bewunderer der am italienischen Faschismus orientierten Autoren wie Oswald Spengler und Carl Schmitt, versuchte bereits nach 1945 eine Neubestimmung des radikalen rechten Lagers, indem er sich vom etablierten Konservatismus abgrenzte und den völkischen Nationalismus der 20er-Jahre auch mit seiner Schrift Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932 wiederzubeleben versuchte. Die alliierten Besatzungsmächte und ihre „liberalen Erfüllungsgehilfen“, so Mohlers Mantra, hätten die Deutschen „domestiziert“. Die deutsche Politik würde durch ein Kartell aus Siegermächten und Meinungsmachern „im Banne von Auschwitz“[13] gehalten. Die christlichen Kirchen seien in einem Linksschwenk begriffen. Die Konservativen waren für ihn Liberale geworden. Mohlers Konstruktion einer Konservativen Revolution führte in den 60er-Jahren zur Gründung einer neuen Rechten in Frankreich und Deutschland, die sich vom NS, aber auch vom klassischen Konservatismus abzugrenzen suchte. Als Antwort zur Neuen Linken wurde 1969 die Neue Rechte von dem französischen Rechtintellektuellen Alain de Benoist gegründet, dessen Schriften bald in Deutschland aufgegriffen wurden und den Mohler seit Mitte der 70er-Jahre förderte. Von allen Übeln empfand Mohler, wie schon der konservative Revolutionär Arthur Moeller von den Bruck, den Liberalismus und die sog. „alles zerstörende Dekadenz“ als die größte Gefahr. Mohler: „An Liberalismus gehen Völker zu Grunde“.[14]

„Deutsche Leitkultur“ – „Wir und die anderen“.

So wie der Vordenker der Neuen Rechten Carl Schmitt unterscheidet auch die AfD zwischen „wir“ und den „anderen“, zwischen. Freund und Feind. Freund ist, wer durch Abstammung und Tradition zum „Volk“ gehört, Feind wer nicht dazu gehört oder wie Marc Jongen formuliert: „Der Pass allein macht noch keinen Deutschen.“[15] Jenseits des Ressentiments gegen die „linksrotgrünversiffte Mainstreamkultur“ „bekennt“ sich die AfD in ihrem Programm zur „deutschen Leitkultur“. Die Ideologie der Leitkultur wurde in der Romantik entwickelt, gegen die sich schon Goethe wehrte. Der Begriff Leitkultur beinhaltet ein Paradox. Denn Kultur ist, wie der Philosoph Ernst Cassirer ausführt, keine feste Substanz, sondern ein dynamischer nationale Grenzen übergreifender, sich wechselseitig befruchtender Prozess, der nie stillsteht. Alle historischen Versuche, ein spezifisches Deutschtum zu kreieren und kulturell zu unterlegen, haben zu Gewalt und Unterdrückung geführt.[16] »Deutsche Leitkultur« ist ein konstruierter politischer Kampfbegriff, der Ende der 1990er-Jahre vom damaligen Fraktionsvorsitzenden der CDU Friedrich Merz in die „Asyldebatte eingeführt wurde. Von einer Debatte zu sprechen, grenzt an Euphemismus, es war schlicht Hetze. Theo Sommer notierte 1998 in der Zeit dazu: „Um den Rechtsextremen Wählerstimmen abspenstig zu machen, haben sich die Bajuw-Arier von der CSU noch nie gescheut, ein paar Blut-und-Boden-Furchen auf dem braunen Acker zu ziehen. Es gilt die Parole: Wahlkampf ist’s, haut drauf!“[17] Im Mittelpunkt der Asyldebatte in den 1980er und Anfang der 1990er Jahre standen wie heute Begriffe wie „Asylmissbrauch“, „Scheinasylant“, „Asylschmarotzer“ oder „Asylantenflut“. Sie wurden von Springerpresse und Spiegel, von CDU, CSU, Republikanern und NPD im Wahlkampf offensiv eingesetzt. Wörter als Brandsatz. Die Folge war eine Welle von Brandanschlägen auf Ausländerunterkünfte in Hoyerswerda (1991), Rostock-Lichtenhagen (1992), Mölln (1992) und Solingen (1993). Als makabere Konsequenz aus der Welle rassistischer Gewalt machte die SPD unter Parteichef Björn Engholm und Oskar Lafontaine den Weg frei für die De-Facto-Abschaffung des Asylrechts. Grüne und PDS stimmten dagegen. Die Tragödie wiederholte sich dann in Freital, Heidenau, Bautzen, Clausnitz, Chemnitz usw. Mit über tausend Anschlägen auf Flüchtlingsheime markierte das Jahr 2015 den traurigen Höhepunkt. Rechtsextremistische Straftaten machten 2018 mit 20.431 mehr als die Hälfte aller registrierten Straftaten aus.[18] Die Amadeu Antonio Stiftung zählt seit 1990 bis Mitte November 2017 195 Todesopfer und 13 Verdachtsfälle rechtsextermer Gewalt.[19]

Der Begriff deutsche Leitkultur ist Ausdruck eines reaktionären Rückfalls in das späte 19. Jahrhundert, er ist antimodern, antiwestlich und ein Gegenbegriff zu den Idealen von 1789. Deutschland entstand aus 39 Fürstentümern. Die waren multireligiös, multisprachlich und multikulturell. Deutschland war schon immer plural – wenn man den Homogenitätswahn der Nazis nicht als Grundlage nimmt. Einige der selbst ernannten deutschen Patrioten von und um Pegida reden bereits vom Bürgerkrieg, ja sie scheinen einen solchen „Krieg zwischen den Kulturen“ geradezu herbeizusehnen.[20] In einem Facebook-Chat wissenschaftlicher Mitarbeiter von AfD-Abgeordneten aus dem Stuttgarter Landtag heißt es: „Ich wünsche mir so sehr einen Bürgerkrieg und Millionen Tote“.[21] In Chemnitz konnte man im August 2018 schon mal üben. In dieser Situation fiel die neurechte Propaganda vom „Recht auf Differenz“ auf fruchtbaren Boden. 

Früher nannte man das Säuberung

Dass Oppositionsparteien vom Sturz der jeweiligen Regierung träumen, gehört zum parlamentarischen System. Die AfD will aber eine andere Republik. Dass sie mit »dem System« nicht zufrieden ist, machte Gauland in einem am 04.09.2018, in der FAZ erschienen Interview deutlich. Die AfD wolle zwar die freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht abschaffen. Aber das politische System müsse weg. Es gehe um „das System Merkel“. Zu diesem rechnet Gauland „eine Menge Leute in der CDU, die ihre Politik fortsetzen wollen“, aber auch „diejenigen, die die Politik mittragen“, das seien „auch Leute aus anderen Parteien und leider auch aus den Medien. Die möchte ich aus der Verantwortung vertreiben“. „Früher nannte man das Säuberung“, kommentierte Berthold Kohler (FAZ). „Schließlich“ behaupte Gauland, so Kohler weiter, „dass es einen politisch-medialen Komplex mit Merkel an der Spitze“ gebe, „der nichts mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu tun“ habe – „nur dann“ könne „man das eine beseitigen, ohne das andere anzutasten.“ Gauland stellt die Tatsachen auf den Kopf, wie man das auch von anderen Vertretern der illiberalen Demokratie, kennt: „Nicht wir sind die Feinde der offenen Gesellschaft, die anderen sind es und wir verteidigen Freiheit und Demokratie.“

Die „Vertreibung“ aller aus Politik und Presse, die nach Meinung der AfD Merkels Politik „mittragen“, bezeichnet der AfD-Vorsitzende mit dem Begriff „friedliche Revolution.“[22] Dessen Berliner Kollegen im Abgeordnetenhaus Harald Laatsch und Thorsten Weiß, Letzterer Vertrauensmann von Höcke mit engen Kontakten zur Identitären Bewegung, legten die Schlussfolgerungen offen. Er wies darauf hin, es werde nicht genügen, Wahlen zu gewinnen: In der Justiz und Verwaltung werde „die AfD später aufräumen müssen“.[23] Der rheinland-pfälzische Landeschef Uwe Junge etwa, drohte, man werde eines Tages die „Befürworter und Aktivisten der Willkommenskultur im Namen der unschuldigen Opfer“ – darunter also auch Journalisten – „zur Rechenschaft ziehen. Dafür lebe und arbeite ich. So wahr mir Gott helfe!“[24] Mit einem abgeschmackten Adorno-Zitat „Es gibt keine Alternative im Etablierten“,[25] rief Höcke in seiner Dresdener Rede 2017 wie schon Gauland zu einer „Revolution“ gegen das „System“ auf. Erst kürzlich drohte Höcke einem ZDF-Reporter in Erfurt mit den Worten, er könne bald eine „interessante politische Person in diesem Lande“ sein, mit „massiven Konsequenzen.“ Franziska Schreiber, eine ehemalige AfD-Funktionärin, notiert in ihrem Buch Inside AfD: „Sie (die AfD) lehnt ‚das System‘ ab, und die maßgeblichen Führungsfiguren betreiben den Umsturz vor.“[26]

Bereits drei Monate vor Gaulands Interview in der FAZ sprach der Chef der AfD in Brandenburg, Andreas Kalbitz, Bundesvorstandbeisitzer, Mitunterzeichner der Erfurter Resolution mit guten Verbindungen zu neonazistischen Vereinigungen davon, dass die AfD „an die Macht kommen müsse“ und zitierte den Thüringer AfD-Landesvorsitzenden Björn Höcke aus seiner Dresdener Rede 2017: Die AfD sei „die letzte evolutionäre Chance für unser Land“. Ansonsten gäbe es eine demokratische Revolution. Und das sei „in den Augen von Kalbitz und des Höcke-Flügels eine nationalistische.“[27] Bei einer Rede des Flügels der AfD beim Kyffhäuser-Treffen in Thüringen auf Schloss Burgscheidungen am 23.06.2018 erklärte Kalbitz: Berlin-Neukölln oder Duisburg-Marxloh seien in seinen Augen nicht „verloren“: „Wir sind nicht bereit, auch noch einen Quadratzentimeter dieses Landes zu verzichten.“ (Original im Wortlaut, Anm. d. Verf.) Daraufhin langanhaltender Applaus und lautes rufen: „Widerstand! Widerstand!“ […]. Und weiter: „Wir werden keine Kompromisse machen. […] Heimat ist nicht verhandelbar. Ja, wir sind die Götterdämmerung dieses globalisierten Multikulturalismus, wir sind die Totengräber der fauligen Reste dieser 68er-Zersetzung. […]. Wir brauchen die Festung Europa, Grenzen dicht, Remigration jetzt!“[28] Über die Mitglieder der 68er-Bewegung sagte er: „Wir werden auf ihren Gräbern tanzen. […] Und: „Die AfD ist die letzte evolutionäre Chance für dieses Land. Danach kommt nur noch ‚Helm auf’. Und das möchte ich nicht. […]“[29]Höcke, der offenbar früher unter dem Namen Landolf Ladig für die NPD geschrieben hat, erinnert ab Minute 18 in seiner Rede an die „Hammer-oder-Amboss-Rede“ vom späteren Reichskanzler Bernhard von Bülow aus dem Jahre 1899. Damals stellte von Bülow die Frage, ob die Deutschen lieber Hammer oder Amboss sein wollen.Das greift Höcke auf und variert es mit einem Goebbels-Zitat und sagt: „Heute, liebe Freunde, lautet die Frage nicht mehr Hammer oder Amboss, heute lautet die Frage Schaf oder Wolf. Und ich, liebe Freunde, meine hier, wir entscheiden uns in dieser Frage: Wolf.“ Den „Wolf-oder-Schaf-Vergleich“von Goebbels findet man in einem Leitartikel der NSDAP-Zeitung Der Angriff. Der „Hammer-oder-Amboss-Vergleich“ von Bülows wurde von Hitler auf Parteitagen der NSDAP verwendet.[30]

Den Worten sollten Taten folgen. Einige Akteure aus dem rechtsradikalen Milieu planten bald nach der Dresdener und der Kyffhäuser „Helm auf“–Rede und dem Aufruf Gaulands in der FAZ zur „friedlichen Revolution“, nur einige Tage nach den Ereignissen in Chemnitz, den großen Umsturz gegen die „Herrschaft des Unrechts“; ein Begriff, den Horst Seehofer in die Welt gesetzt hatte. Am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, wollte die Terrorgruppe ‚Revolution Chemnitz‘ einen bürgerkriegsartigen Aufstand in Berlin anzetteln. Jetzt hat der Generalbundesanwalt gegen acht Mitglieder Anklage erhoben.

Die neurechte Gegenrevolution – Gegnerschaft gegen 1789 und 1968.

Grundlegend für neurechtes Denken sind Antiliberalismus, Ethnopluralismus, Rassismus, Antiuniversalismus, seine Gegnerschaft eines föderalen Europas und der eines ökologischen und sozialen Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft. Ihre Vertreter bezeichnen sich selbst als „Gegen-Aufklärer“ (Karlheinz Weißmann). Dies erklärt auch, warum die Partei Bündnis 90/Die Grünen bei der Neuen Rechten auf heftigen Widerstand stößt. Mit seiner Schelte gegen das 68er Deutschland nimmt Jörg Meuthen eine Debatte wieder auf, die bereits seit den 70er-Jahren, besonders aber nach der Wiedervereinigung in den 1990er-Jahren bis heute am rechten Rand bis in die CDU hinein geführt wurde. Das damalige Zentralorgan der Neuen Rechte, die Zeitschrift Criticón, veröffentliche 1989 ein Heft mit dem Titel 200 Jahre Gegenrevolution.[31] So „verstehe es sich von selbst,“ bemerken Bernd Wagner und Thomas Grunke in ihrem Handbuch Rechtsradikalismus, „dass sich diese Gegnerschaft gegen 1789 mit ihren normativen Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit später ebenso erbittert „Gegen 1968!“ wenden musste, weil man in den Bestrebungen der 68er das Motiv erkannte, auf den Denkmodellen der Aufklärung die Realisierung der Versprechungen von 1789 einzuklagen.“[32] „Gegen 1789!“ zu sein war schon unter den Nationalsozialisten Grundlage einer  antibürgerlichen Politik, einer Politik, die nicht Individuen, sondern ethnische Kollektive zum Ausgangspunkt machte. Der Begriff Ethnopluralismus ist nicht mehr als eine Variante der völkischen Ideologie der Ungleichheit, der kulturalistisch und nicht rassistisch argumentiert,[33] der Wolf im Schafspelz. Eine ebensolche Nebelkerze wie Ethnopluralismus ist der Begriff Konservative Revolution. „Mit der Erfindung einer Konservativen Revolution“, meint der Historiker Volker Weiß, „sollte der durch Nationalsozialismus, Shoah und Kriegsniederlage belasteten deutschen Rechten wieder zu einer positiven Tradition verholfen werden“.[34] Konservativ klang nach 1945 deutlich besser als pränazistisch. 

Tumult der Begriffe – totalitär sind nicht wir, die 68er sind es!

Fünfzig Jahre nach den Ereignissen von 1967/68 dient die Chiffre »68« den Anhängern intoleranten Denkens immer noch als Projektionsfläche des zum Feind erklärten »Gutmenschentums«. Jürgen Braun, seit September 2017 Mitglied im Deutschen Bundestag und zweiter parlamentarischer Geschäftsführer der AfD-Bundestagsfraktion, unterstellte Konstantin von Notz (Bündnis 90/Die Grünen) während der Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag am 13. September 2018 in einer Kurzintervention „totalitäres Denken“: „Herr von Notz, Sie leben fernab der Realität. Es ist unglaublich: Hinter Ihrer linksgrünen Hypermoral, in der Sie sich sonnen als Edelster aus dem Norden, hinter dieser linksgrünen Hypermoral lauert ein totalitäres Denken. Andere Meinungen sind bei Ihnen nicht vorgesehen, Herr von Notz.“[35]

Die Absurdität des Vorwurfs, Deutschland befinde sich in einem totalitären Würgegriff der 68er und ihrer grünen Erben, liegt auf der Hand. Für den 68er-Chronist Wolfgang Kraushaar stellt das Bild, das AfD und CSU „von den 68ern“ transportieren, „einen Popanz“[36] dar. Im Kern gehe es ihnen um die Rückabwicklung einer „sich über Jahrzehnte hinweg erstreckende Politik der Modernisierung und Liberalisierung, die von der sozialliberalen Koalition begonnen und von den Christdemokraten letzten Endes fortgesetzt“ worden sei. »68« ist für die Konservative Revolution nicht nur eine Chiffre für die Liberalisierung der Bundesrepublik. Der „68er-Totalitarismus“-Vorwurf ist ein rechter ideologischer Kampfbegriff, der nicht allein gegen die liberalen Errungenschaften und gegen eine weitere Modernisierung der Gesellschaft, sondern auch gegen ihre Träger eingesetzt wird. Beunruhigend wird es, wenn Vertreter liberaler Auffassungen als Nazis und als „Verfassungsfeinde“[37] hingestellt werden können oder wenn Höcke die Beobachtung der AfD als „Prüffall“ mit Metternichs Karlsbader Beschlüssen, mit denen die Freiheitsbewegung in Deutschland und Europa unterdrückt wurde, als eine Verletzung von Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit bezeichnet. Ziel und Zweck neurechter Metapolitik ist, das Vokabular der demokratischen Mitte für sich zu reklamieren. Nicht die Neue Rechte, sondern »die 68er« und ihre grünen Erben und die Zivilgesellschaft sind dann plötzlich Nazis und Feinde der Demokratie. „Sophie Scholl hätte AfD gewählt“, warb der Kreisverband Nürnberg-Süd und stellt sich in die Tradition des Widerstands des 20. Juli. So twitterte am 17.09.19 Beatrix von Storch: „Kein Film passt besser in unsere Zeit als #DieWelle. Liebe #Antifa #Klimafanatiker #Gendertotalitäre#Grölemeyers u #Gutmenschen, schaut Euch den an. Das seid Ihr! Eine totalitäre Idee, alle machen mit, Gewalt wird legitim… #Diktatur #imGleichschrittMarsch.“[38] „Wir schützen die Verfassung!“, heißt es auf der Hompage der Identitären Bewegung, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Und weiter: „Eine Farce“ wenn man daran denke, „dass im Sommer 2015 durch die von der Bundesregierung forcierte Grenzöffnung, einer der größten Verfassungsbrüche in der bundesdeutschen Geschichte vollzogen“ worden sei.[39] Ziel und Zweck neurechter Metapolitik ist, das Vokabular der demokratischen Mitte für sich zu reklamieren und sich als wahre Demokraten zu verkaufen oder wie Jörg Meuthen es in seiner Rede zum 3. Oktober formuliert: „Lassen Sie uns gemeinsam dafür Sorge tragen, dass die großen Errungenschaften unserer freiheitlichen Demokratie gegen ihre zahlreichen Feinde nicht verloren gehen.“[40] Die konservativen Revolutionäre der Weimarer Zeit und ihre heutigen Epigonen verbindet mit Hitler die Feindschaft gegen Aufklärung und Liberalismus. Ihr „Feind Nr. 1“ war und ist nicht der Linke oder der Kommunist, sondern der Liberale. In letzter Konsequenz ist der Liberalismus für diese Denker ein Totalitarismus. „Das Monument des liberalen Denkens“, meint Armin Mohler, ist folglich „die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland.“[41] Der Liberale sei deshalb so gefährlich, weil er „bereits innerhalb der Burg“ agiere und „unsere Abwehr so weich“ mache, dass „der äußere Feind eindringen“[42] könne – wahlweise damals die Kommunisten, heute die Flüchtlinge bzw. die linksgrünen »Gutmenschen« oder Angela Merkel und andere Liberale.

Der Verfassungsschutz bezeichnet 12 700 Neonazis als „gewaltorientiert“. Nach Angaben der Bundesregierung führen Rechtsextremisten Feindeslisten mit über 25 000 Personen mit Namen, Adressen und Telefonnummern. Seit 2018 ist bekannt, dass die rechtsextreme Gruppe „Nordkreuz“, die Teil des Hannibal-Netzwerkes ist, über die Liste verfügt. Doch die Behörden blieben bislang untätig. Nur wenige Betroffene wissen überhaupt über ihre Existenz auf der Liste Bescheid. Auch die sächsische Terrororganisation Revolution Chemnitz hatte darauf Zugriff. Der am 2. Juni 2019 mutmaßlich von dem Rechtsextremisten Stephan E. erschossene Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke wurde mit Adresse in einer Liste des NSU geführt, die insgesamt 10 000 Namen umfasst. Gauland und Meuthen wiesen jede Mitverantwortung für den Mord von sich. Als „Rechtsstaatspartei“ verurteile die Partei „extremistische Gewalt in jeglicher Form“, erklärten sie.[43] Gewalt wird „erzeugt“, wie „jede andere moderne Waffe – wie Maschinengewehre oder Aeroplane“, bemerkt der Philosoph Ernst Cassirer. „Tatsächlich“ habe die „Wiederaufrüstung (Nazi Deutschlands, d. Verf.) viele Jahre vorher begonnen“, sie wurde vorbereitet, so Cassirer, „mit der Entstehung der politischen Mythen“[44]. „Dem Mund, der Hassparolen brüllt, folgt die Faust […]. Das war in den Zeiten von Rotfront und SA nicht anders als heute“,[45] mahnt der Schriftsteller Durs Grünbein.

Nach dem Mord an Walter Lübcke erhielten die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, der Bürgermeister der Stadt Altena und Andreas Hollstein (CDU), Morddrohungen. In dieser E-Mail wird ein Zusammenhang mit dem Mord an Lübcke hergestellt. Es heißt darin: „Die Phase bevorstehender Säuberungen wurde mit Walter Lübcke eingeleitet.“ Schon mehr als 200 Drohungen mit dem anonymen Absender „Staatsstreichorchester“ sollen seit April 2019 an Personen bundesweit gegangen sein, auch an Bundestagsabgeordnete.[46] Kürzlich hat Siemens-Chef Joe Kaeser, der sich im Mai 2018 zu Alice Weidel kritisch positionierte, eine Morddrohung erhalten. Er werde der nächste „Lübcke“ sein. Der Absender der Mail: Adolf Hitler. Ende Juli erhielt der Moderator von Monitor eine Morddrohung, weil er forderte, die AfD als „rechtsextremistisch“ einzustufen. Meuthen verurteilte zwar die Morddrohung, hatte aber zuvor in einer Rede Georg Restle einen „abstoßenden Feind(e) der Demokratie und „der Freiheit der Meinung“ und einen „totalitären Schurken“ genannt. Im Juli 2019 verschickte der baden-württembergische AfD-Landtagsabgeordnete Heiner Merz 25000 Adressen mit angeblichen Antifa-Mitgliedern, die Rechtsextremisten nutzen,  an seine Parteifreunde und forderte sie auf, diese Menschen zu denunzieren, berichtet die Südwest-Presse. „Der Fantasie“ seien „wenig Grenzen gesetzt“,  zitiert die Zeitung aus der Mail.[47] Nun hat Mike Mohring eine Morddrohung erhalten. Thüringens CDU-Chef sei “Nummer zwei, die demnächst einen Kopfschuss” erhalte, hieß es auf der Postkarte. Die Botschaft an alle Verteidiger der liberalen Demokratie und zivilgesellschaftlich Engagierte ist eindeutig: Seid vorsichtig, es geht um euer Leben. 

Der Sündenfall: Die Modernisierung des Konservatismus durch Angela Merkel und die CSU als Speerspitze der Konservativen Revolution

Was viele Rechtskonservative ärgert und zur AfD treibt, ist das, was sie Sozialdemokratisierung der CDU nennen, was aber eher als modernisierter Konservatismus zu bezeichnen ist. Angela Merkel, achtzehn Jahre Parteivorsitzende und seit dreizehn Jahren Kanzlerin, hat die CDU, bis dahin eine sehr patriarchalisch geprägte Partei, gesellschaftspolitisch modernisiert und nachhaltig verändert wie niemand zuvor. Im Ergebnis hat sie das Überleben der Partei gesichert und die CDU liberaler, sozialer und grüner und so eine Politik für die liberale Mitte gemacht. Für ihre einmalige Entscheidung, die Grenzen nicht für Flüchtlinge zu schließen, wurde sie von liberal gesinnten Menschen geachtet, für andere wurde sie zu einer Hassfigur. In ihrer Abschiedsrede vom Parteivorsitz in Hamburg, am 7. Dezember 2018, erklärte Angela Merkel: Die CDU ist heute eine andere als im Jahr 2000 – und das ist gut so.“[48]

Bei der von Gauland ausgerufenen Jagd diente die CSU unter Seehofer, Söder und Dobrindt der AfD als Steigbügelhalter. Chemnitz wirkte dabei wie ein Brandbeschleuniger. Seehofer sprach angesichts der Flüchtlingspolitik von Frau Merkel von einer „Herrschaft des Unrechts“, eine Formulierunge die die CSU bislang für Diktaturen wie die DDR benutzte. Flüchtlingshelfer wurden von Alexander Dobrindt als „Saboteure“ des Rechtsstaates oder als „Anti-Abschiebe-Industrie“ beschimpft. Schlussendlich verlor die CSU bei ihrer Merkel-Jagd im Oktober 2018 die absolute Mehrheit bei den bayerischen Landtagswahlen und erzielte das zweitschlechteste Resultat in ihrer Geschichte. Sehr viele Stimmen gingen an Bündnis 90/Die Grünen. Der auf das illiberale Bürgertum orientierte Freund-Feind Wahlkampf der CSU schreckte christlich eingestellte Bürger/innen. Je mehr Seehofer die Konfrontation mit Merkel suchte und zuließ, dass der Chef einer untergeordneten Bundesbehörde, Hans-Georg Maaßen, die Kanzlerin bloßstellte, desto mehr Einfluss verschafften er den auf die Werte einer offenen Gesellschaft pochenden Grünen. Forsa-Chef Manfred Güllner prophezeite, wenn sich „in der Union Leute wie Gesundheitsminister Jens Spahn oder CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt durchsetzten, die die Partei nach rechts rücken wollten, gäbe es für CDU und CSU in Umfragen und bei Wahlergebnissen keine Grenze nach unten.“[49] Vor allem die Europawahlen 2019 sollten Güllners Analyse drastisch bestätigen. Wer meint, Angela Merkel sei schuld am Niedergang der CDU, liegt falsch: Der Wandel hin zu einem vielfältigeren Parteiensystem ist nicht mehr aufzuhalten.

Was ist der Zweck des 68er-Bashings?

Für den Journalisten Alan Posener ist der Zweck des 68er-Bashings die „Radikalisierung des illiberalen Bürgertums“. Wie die Konservative Revolution nach dem Ersten Weltkrieg“, schreibt Alan Posener, richte sich „Dobrindts »konservative Revolution« im Namen des Bürgertums gegen das Bürgertum“. Damals war, so Posener, „die liberale jüdische Bürgerlichkeit der Hauptgegner, heute“ sei „es die liberale, weltoffene Bürgerlichkeit“. Und „so wie man damals behauptet“ habe, „die ganze Republik sei »verjudet«, würden heute „Meuthen und Co.“ behaupten, „die Republik sei von den 68ern gekapert worden und »rot-rot-grün versifft«“[50]. Zweck des reaktionären 68er-Bashings ist die Verunsicherung und schließlich die Spaltung der Mitte, um das illiberale Bürgertum zu gewinnen, die Bundeskanzlerin zu stürzen, um dann die politischen Koordinaten weiter nach rechts verschieben zu können. Mit Merkels Verzicht auf den Parteivorsitz Anfang Oktober 2018 scheinen Seehofer, Dobrindt, Scheuer, Söder einen Meilenstein im neurechten Projekt „Merkel muss weg!“ erreicht zu haben. 

Die Krise der liberalen Ordnung und der neue „Klassenkampf“ zwischen Nationalisten und Kosmopoliten

Was sind die Gründe für den Aufstieg des Rechtsnationalismus? Das Scheitern der Linken ist auch eine Voraussetzung für den Aufstieg der Rechtsnationalen, die von ihnen die Globalisierungskritik übernahm und den Ethnozismus hinzufügten. Ihr Niedergang ist umso verstörender, als es nicht nur ein wachsendes Gerechtigkeitsbedürfnis gibt, sondern auch einen Frontalangriff von rechts auf die offene Gesellschaft. 

Die Globalisierung hat die größte Umverteilung von Einkommen seit der Industriellen Revolution herbeigeführt, von der Mittelschicht in den alten Industrienationen zur „neuen globalen Mittelschicht“ (Milanovic) in den aufstrebenden Ländern Asiens. Die Mittel- und Unterschicht der „Ersten Welt“ sind in Relation die Hauptverlierer der letzten 20 Jahre. Die Rechtsnationalisten leben von der Angst, dass der Westen Verlierer der Globalisierung wird, so dass man, meint Joschka Fischer, fast von einem neuen „Wohlstandsfaschismus“ sprechen müsse.[51] Es gibt aber einen Rassismus in der Mittel- und Oberschicht, der nichts mit den Sorgen von Teilen der Arbeiterschicht zu tun hat. 

Der ökonomische Ansatz allein erkläre also nicht, meint Michael Zürn, Direktor der Abteilung Global Governance am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB), „wieso das Potential rechtspopulistischer Wähler/innen in fast allen OECD-Ländern […] relativ konstant bei ca. 20 Prozent“ liege. Zürn folgt den empirischen Sozialwissenschaftlern Ronald Ingelhart und Pippa Norris,[52] die in einer Studie gezeigt haben, dass die kulturelle Erklärung besser greife als die sozioökonomische. Demnach seien „parallel zu Globalisierung der kulturelle Liberalismus und universelle Werte in westlichen Gesellschaften so dominant und politisch korrekt geworden, dass der Liberalismus zu einem kulturellen ,backlash‘ der eher traditionalistisch eingestellten Bevölkerung geführt“ habe. Folgt man dieser kulturellen Erklärung, stehen sich bei der neuen Konfliktlinie überspitzt formuliert das Klassenbewusstsein der wurzellosen Kosmopoliten dem Klassenbewusstsein der Heimatverbunden gegenüber. Der Aufstieg des Rechtsnationalismus sei, meint Zürn, „ein Kulturkonflikt“ mit sozioökonomischer Grundlage, der sich besonders in einem „deutlichen Stadt-Land-Gegensatz“ niederschlage. 

„Von links verachtet, von rechts verhöhnt: Die urbane Akademikerklasse ist der neue Lieblingsfeind der Gegenwart“ notiert Adam Soboczysnki in der Zeit vom 15. November 2018. Sechs Wochen zuvor konnte Alexander Gauland bei der FAZ unter der Rubrik Fremde Feder einen Gastbeitrag platzieren: Warum muss es Populismus sein? Auch er hat im Zuge der Globalisierung eine „urbane Elite“ als Feindbild ausgemacht. „Man könnte“, so Gauland, „auch von einer neuen Klasse sprechen.“ Sie fühlten sich als „Weltbürger“ und träumten „von der one world und der Weltrepublik“. Die „Fundamentalopposition“ hätte, meint Gauland, von „rechts oder von links kommen“ können, aber, sie „musste populistisch“ sein. „Frau Wagenknecht“ habe „dies begriffen.“[53]

„Der liberale Kosmopolitismus ist aber“, bemerkt Michael Zürn, „weit mehr als das Projekt einer sich selbst bereichernden Kaste.“ Vielmehr sei er „das gesellschaftliche Projekt, das nach dem Zweiten Weltkrieg Freiheit, Frieden und Wohlstand mit sich gebracht“ habe. Im Übrigen rufe „diese Reduktion eines gesellschaftlichen Projekts auf eine „globalisierte Klasse“ die unguten Erinnerungen an die dunkelsten Seiten deutscher Geschichte“ wach. Carlo Strenger warnt in seinem lesenswerten Essay Diese verdammten liberalen Eliten. Wer sie sind und warum wir sie brauchen. (2019) davor, die liberalen Kosmopoliten in einen Topf mit der kleinen Finanzelite zu werfen. „Die liberalen Kosmopoliten sind für die Wissenschaft und die Wirtschaft unentbehrlich“, betont Strenger.[54] „In dieser Hinsicht, so Strenger weiter, „können sie vielleicht als Erben jener Repräsentanten der Aufklärung gelten, die im 17. und 18. Jahrhundert einen Modernisierungsprozess entfesselten.“[55] Das alte Erfolgsmodell – Deutschland als Maschinenlieferant für den Weltmark – läuft aus. Der Klimaschutz bietet in der zwangsläufig ökologisch geprägten Zukunft eine große, vielleicht die letzte Chance.

Für Michael Zürn gibt es „nur einen erfolgversprechenden Weg: für die Demokratisierung der europäischen und internationalen Institutionen eintreten, den politischen Wettbewerb auf internationaler Ebene ermöglichen und diese Institutionen mit regulatorischer Kraft auch zur Verhinderung von neoliberalen Auswüchsen“ auszustatten. Die „Bekämpfung der autoritären Populisten durch eine präventive Renationalisierung“ gleiche „dem Selbstmord aus Angst vor dem Tod“.[56]

Sozialpsychologische Ursachen 

Im Lichte des heutigen Rechtsnationalismus lesen sich Adornos Studien zum autoritären Charakter wieder beklemmend aktuell. Nationalisozialsmus wird von Adorno und seinen Mitstreitern als ein Phänomen, das es in erster Linie sozialpsychologisch zu erklären gilt, aufgefasst. Sie wenden sich zu Recht gegen die vulgärmarxistische Vorstellung, rechtsradikale Stimmungen seien lediglich auf soziale Missstände rückführbar. 

Die Studien beschreiben Leute, die längst gegen Erfahrungen immun sind, welche ihre Vorurteile infrage stellen könnten. Überzeugte sind für Argumente unerreichbar, auch wer sich auf ihre Emotionen einlässt, belohnt diese nur. Als politische Aufgabe formuliert: Die Radikalen sollen sich nicht wie der Fisch im Wasser fühlen, sondern wie der Fisch an Land. Die Politik muss zur Mehrheit sprechen statt den Verhetzten nach dem Munde reden. Nicht die Verhetzten muss die Politik gewinnen, sondern jene, die ein Unbehagen empfinden, ohne deswegen schon den Anstand, Toleranz und Würde verloren zu haben. Populismus bekämpft man nicht mit Verzagtheit, sondern durch Überzeugung und Handeln. Es führt kein Weg hinter die Frauenemanzipation zurück und auch nicht hinter die Homoehe. Wer Grund- und Menschenrechte zu ethnisch-kulturellen Problemen macht schließt sich selbst vom demokratischen Diskurs aus. Die Rechtsnationalisten erreicht ein solcher rationaler Diskurs oft nicht mehr: Sie sind im falschen Film. Gleichwohl sind neurechte Vordenker und viele ihrer Anhänger nicht nur Verführte oder schlecht Informierte. Sie bevorzugen  Ideologien der Ungleichwertigkeit, weil sie sich davon materielle, psychische oder kulturelle Vorteile erhoffen. 

Fazit und Ausblick

Meine sehr verehrten Damen und Herren: 2019 ist kein Wiedergänger von 1928. Wer sich jedoch dieser Zeit zuwendet, erkennt schnell gewisse Spiegelungen in der Jetztzeit. Der Historiker Reinhart Koselleck nannte dies „Wiederholungsstrukturen“, wie etwa der technologische Wandel, der Abbau patriarchalischer Macht, die Kluft zwischen einer traditionell ländlichen und städtischen Lebenswelt. Das Tempo der Modernisierung hat Menschen schon immer anfällig für autoritäre Modelle gemacht, Teils aus psycholgischen, teils aus ökonomischen oder kulturellen Gründen. Das Leiden am Projekt der Moderne schafft sich immer wieder seine eigene Opposition. Unter dem Eindruck des illiberalen Angriffs auf die offene Gesellschaft scheint die Vergangenheit, der man entrinnen wollte, wieder höchst lebendig. Deutschland hat mit 1989 eine zweite Chance bekommen es besser als zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu machen. 

Wie mögen Juden, Polen, Briten, Franzosen oder Russen reagieren, wenn sie hören, was Alexander Gauland auf dem Jugendtag seiner Partei gesagt hat: „Hitler und die Nationalsozialisten sind nur ein Vogelschiss in den 1000 Jahren erfolgreicher Geschichte“? Was anderes könnten sie denken, als dass da in Deutschland vom Anführer einer Bundestagspartei das „Dritte Reich“ und alle Menschheitsverbrechen relativiert werden sollen. Das nach wie vor gültige Vermächtnis von »68« ist dieses „Nie wieder!“, die Warnung vor Nationalismus, Imperialismus, Rassismus und Krieg, sowie der antiautoritäre Impuls gegen jede Form von Autoritarismus. 

Zum Schluss komme ich zur zertralen Frage: Wohin geht unsere offene Gesellschaft? Dazu einige Überlegungen. CDU/CSU und SPD wurden von Fridays-for-Future und dem Ergebnis der Europawahl 2019 kalt erwischt. Die neue digitale Deutungsmacht der Jugend schwappte in die völlig verunsicherte analoge Welt. Die Erstwähler haben damit die Regeln der Politik für die nächsten Jahrzehnte verändert und deutlich gemacht: Sie sind die wahren „Abgehängten.“ Annegret Kramp-Karrenbauers Orientierung nach rechts wurde am 26. Mai 2019 brutal bestraft. Die Prophezeiung von Forsa-Chef Manfred Güllner hat sich bestätigt. Der selbstzerstörerische Kampf der CSU gegen die Bundeskanzlerin scheint bei den Wählern nicht vergessen. Im Sommer 2018 wurde ein Grundvertrauen gebrochen, dass CDU/CSU die Wertachse der Republik nicht weiter nach rechts verschiebt. Die CSU scheint daraus gelernt zu haben und gibt sich plötzlich grün und liberal – oder hat sie nur die grüne Tarnkappe aufgesetzt? Söders Ergrünung hat Grenzen. Denn er war es, der seinen Wählern bei den jüngsten Klima-Verhandlungen nicht mehr als 10 Euro je Tonne COzumuten wollte. SPD und CDU/CSU einigten sich dann auf den kleinesten Nenner, wohl aus Angst vor dem Wähler. Aber ist es nicht Aufgabe einer Regierung dringende Probleme zu lösen; auch gegen den Widerstand einer rechten Minderheit? 

Die Europawahl offenbart einen politischen und gesellschaftlichen Umbruch: den Niedergang der alten weltanschaulichen Massenintegrationsparteine und das Erstarken einer neuen liberalen ökologischen und sozialen Mitte. Es ist sicher kein Zufall, dass der linke und der rechte Populismus sich die soge. “links-grünen kosmopolitischen liberalen Eliten” als politischen Hauptgegner auserkoren hat. CDU/CSU scheinen diesem Umbruch Rechnung tragen zu wollen. Eine „Welt von Gestern“ (Stefan Zweig) scheint sich vor unseren Augen aufzulösen und eine postideologische Epoche sich anzukündigen. An die Stelle des alten Rechts-links-Dualismus tritt in vielen Ländern ein neuer Dualismus: der zwischen einem liberalen, weltoffenen und einem identitären, nationalen Lager; ein Dualismus, der auch die Parteienlandschaft neu formiert. Auch die Debatte über Flüchtlinge verlief nicht mehr entlang des Links-rechts-Schemas, wie auch neuerdings die Klimadebatte. Noch bis in die 1980er Jahre dominierte der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit die politische Auseinandersetzung, obgleich er, angesichts der wachsenden sozialen Ungleichheit, seine Bedeutung nicht verloren hat.

Deutschland befindet sich heute an einer „Wegscheide“ (Renate Künast). Immer mehr Menschen wollen strukturelle Veränderungen und folgen der grünen Erzählung. Bei der AfD tobt der Machtkampf. Bislang weiß sie nicht, wohin sie morgen von wem geführt wird: vom neofaschistischen Flügel in einen chauvinistischen „Sozialpatriotismus“ oder von den Neoliberalen in eine autoritäre FDP plus Flüchtlings- und Islamkritik. In Ostdeutschland hat die AfD der Linken nach den Landtagswahlen 2019 die Rolle als „Stimme des Ostens“ entrissen. Die Linke habe „immer auf ihre Anti-Haltung zum „System“ gesetzt“, notiert die Politikwissenschaftlerin Barbara Zehnpfenning. Erst richtete sich der linke Protest im Zuge der Finanzkrise gegen „die da oben“, seit 2015 gegen die „da unten.“ Man kann sagen: „Die Saat ist aufgegangen. Geerntet haben aber jetzt andere.“[57] Der linke Populismus wird nun im Osten durch den rechten verdrängt und spaltet das Land.

Viele AfD-Wähler haben keine Scheu, ihre Stimme Politiker mit Bezügen zur Neuen Rechten zu geben – und zwar trotz oder vielleicht sogar wegen der bekannten Fakten. Nach den Landtagswahlen könnte sich das Machtgefüge und der Kurs der Partei radikalisieren. Die AfD scheint nun am rechten Rand der Partei angekommen zu sein. Mit Höcke und Kalbitz greift der Flügel nach der Macht und rückt die AfD dahin, wo die NPD stand. Handelt es sich hier nur um eine ostdeutsche Abnormalität? Österreich, Italien und Schweden sollte uns eine Warnung sein. Demokratien sterben dann, wenn Konservative gemeinsame Sache mit Rechtsradikalen machen. Nach der verheerenen Wahlniederlage zu den Europawahlen und den Ereignissen in Halle grenzt sich nun auch die CSU von der AfD ab. Söder: „Die AfD wird zur eigentlich wahren NPD“ und „ein Teil ihrer Funktionäre will zurück in die 30er Jahre.“ Selbst Dobrindt fordert jetzt, dass die AfD durch den Verfassungsschutz beobachtet werden soll.  Kramp-Karenbauer bezeichnet nun die AfD als „politischen Arm des Rechtsradikalismus.“ „Konservativ zu sein müsste heute heißen, für die Bewahrung unserer natürlichen Lebensgrundlagen einzutreten und für die Werte der Demokratie“, bemerkt Norbert Frei[58] ohne die CSU zu erwähnen. 

Meine Damen und Herren, ziehen wir Bilanz: »1968« gewinnt seine aktuelle Bedeutung mit den Übergriffen der antiliberalen Revolte, Gesellschaft, Sexualität, Demokratie und Staat völkisch zu definieren.[59] Die kritische Philosophie nimmt jene Narrative und Machtbeziehungen von einem normativen Standpunkt aus in den Blick und fragt nach ihrer Vernünftigkeit zum Zweck der gesellschaftlichen Emanzipation. Wir müssen darauf achten, dass uns der normative Begriff der liberalen Demokratie nicht verloren geht. Abgesehen von der antiquierten Revolutionsrhetorik wird deutlich: Der 68er-Begriff der Emanzipation formuliert einen normativen Anspruch auf universelle Befreiung von autoritärer Herrschaft, auf individuelle Freiheit, gleiche Rechte, soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit und gegenseitige Anerkennung. Kurz: Er beruht auf dem a priori der Humanität, dass alle Mitglieder der menschlichen Familie Würde innewohnt und steht in der Tradition der Revolutionen von 1776, 1789 und 1848. 

Wie schon Wilhelm von Humboldt und Kant wusste Rudi Dutschke, dass universelle Befreiung ohne Selbstbildung und Selbsterziehung nicht gelingt und ein langer Prozess ist. Damit wird der Mensch und die Menschheit sich selbst zur Aufgabe und zum Projekt. Kant machte sich keine Illusionen über das Menschengeschlecht, „wie es jetzt ist und wahrscheinlich lange noch sein wird.“[60] Es solle aber zum „Charakter seines Geschlechts, mit auch zu dessen Wert und Würde gebildet werden“. Humanität, so Kant weiter, sei „der Charakter unseres Geschlechts; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren und muss uns eigentlich angebildet werden“. „Das Göttliche in unserem Geschlecht ist also Bildung zur Humanität. Sie sei, warnt Kant, „ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muss; oder wir sinken, höhere oder niedere Stände, zur rohen Tierheit, zur Brutalität, zurück“.[61]

Heute hat eine 16-jährige Schülerin eine weltweite Revolution in Gang gesetzt. „Change is on the horizon, but to see that change we also have to change ourselves“, dieser Satz stammt von Greta Thunberg. Ohne Klimaschutz wird es keinen Frieden und Wohlstand in der Welt geben können. Menschen, besonders junge Menschen, handeln wieder. Klaus Hurrelmann, spricht von der breitesten Straßenbewegung seit 1968. Am 20. September demonstrierten allein in Deutschland 1,4 Millionen junge Menschen für eine nachhaltige Zukunft. Dies ist die erste Generation, die nicht die Vergangenheit beschwört. Ihre Themen speisen sich nicht aus den toten Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern aus den Zahlen der Wissenschaft. Erleben wir den Beginn einer neuen politischen Ära? Emanzipation bedeutet eine Welt zu schaffen in der Freiheit und Gerechtigkeit sich entfalten können. Emanzipation ist kein Zustand, sondern ein anhaltender, nicht abschließender dialektischer Prozess der Gestaltung von Lebenswelten. Wenn man sich Studien anschaut, dann ist festzustellen, dass es keinen Rechtsruck in der Bevölkerung gibt, sondern im Gegenteil, dass die Bevölkerung deutlich liberaler ist als vor 10 oder 20 Jahren. Gleichwohl dürfen wir nicht vergessen: „Alle politischen Extremisten meinen das, was sie sagen und herausschreien – ob rechts oder links – , sie werden auch immer das ausführen, was sie in ihren wildesten Proklamationen verkündet haben; […] das ist eine Lehre, die wir in peinlichen Lektionen gelernt haben“,[62] schreibt Carl Zuckmayer 1966. „Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung,“ notiert Adorno 1966. „Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf, also die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen“.[63] „Im Dienst der Wahrheit genügt es nicht, Geist zu zeigen, man muss auch Mut zeigen“, war die Maxime des Publizisten Carl Ludwig Börnes. Diesen Mut und diese Kraft zu stärken ist gerade heute Aufgabe von Politik und Gesellschaft. Die Zukunft gehört denjenigen, denen es gelingt, mutig die beiden Elemente, national und supranational/mulitilateral auf einer neuen Integrationsstufe, zu vereinigen, Heimat und offene Gesellschaft, Bewahrung und Progression, dies aber, auf dem Boden von Rechtstaat und Menschenrechten. 

Der Essay basiert auf Gedanken, die der Autor in seinem Buch „Wohin geht unsere offene Gesellschaft? 1968‘ – Sein Erbe und seine Feinde“, Logos Verlag Berlin 2019, formuliert hat. 

Sie haben Interesse an diesem Thema? – Lesen Sie ebenfalls den Beitrag von Bruno Heidlberger: Warum greift das Irrationale in Gesellschaften um sich? Autoritärer Rechtspopulismus und ‘Querdenken’ 711-Stuttgart


[1] Heinrich Wefing: Haltet den Rand, Die Zeit Nr. 33, 08.08.2018, https://www.zeit.de/2018/33/hegemoniefrage-rechtsruck-afd-debatte-europa

[2] Wolfgang Kraushaar: 1968, Stuttgart 2018, S. 18.

[3] Jörg Meuthen: Rede auf dem AfD Parteitag in Stuttgart vom 30.04.2016.

[4] Unser Grundsatzprogramm für Deutschland, S. 8, https://www.afd.de/wp-content/uploads/sites/111/2018/01/Programm_AfD_Online-PDF_150616.pdf, letzter Zugriff: 03.02.2019.

[5] Alexander Häusler: Die AfD: Werdegang und Wesensmerkmale einer Rechtsaußenpartei, bpb, http://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtspopulismus/271484/die-afd-werdegang-und-wesensmerkmale-einer-rechtsaussenpartei

[6] Björn Höcke: Rede auf der AfD Bürgerversammlung in Lutherstadt Eisleben, 20.02.2018, zit bei: Alexander Häusler: Die AfD: Werdegang und Wesensmerkmale einer Rechtsaußenpartei, bpb, http://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtspopulismus/271484/die-afd-werdegang-und-wesensmerkmale-einer-rechtsaussenpartei, letzter Zugriff: 10.06.2018.

[7] Jörg Köpke: Es ist amtlich: Björn Höcke darf als „Faschist“ bezeichnet werden, 28.09.2019, https://www.ostsee-zeitung.de/Nachrichten/Politik/Es-ist-amtlich-Bjoern-Hoecke-darf-Faschist-genannt-werden.

[8] Alexander Dobrindt: „Wir brauchen eine bürgerlich-konservative Wende“, 04.01.2018, https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus172133774/Warum-wir-nach-den-68ern-eine- buergerlich-konservative-Wende-brauchen.html, letzter Zugriff: 17.02.2018.

[9] Alexander Ruoff: Verbiegen, Verdrängen, Beschweigen, Münster 2001, S. 88.

[10] Ebd.

[11] Ansgar Graw: Günter Rohrmoser, Philosoph Veröffentlicht am 18.09.2008, https://www.welt.de/welt_print/article2461503/Guenter-Rohrmoser-Philosoph-1927-2008.html, letzter Zugriff: 09.11.2018.

[12] Christian Staat: „Der Nationalismus war nie weg“, 20.02.2019, Die Zeit 9/19, https://www.zeit.de/2019/09/rechte-mobilisierung-nationalismus-ost-west-afd, letzter Zugriff:01.10.2019.

[13] Armin Mohler, zit. bei: Volker Weiß: Die Autoritäre Revolte, S. 60f., Stuttgart 2017.

[14] Armin Mohler: Die Kerenskis der Kulturrevolution, In: Von rechts gesehen, Stuttgart 1974, S. 61.

[15] Ulrich Reitz: TV-Radau. Die AfD will so gerne „bürgerlich“ sein. Doch eher ist sie rechtsrdaikal, focus-online, 02.09.2019. https://www.focus.de/politik/deutschland/landtagswahl-in-sachsen/kommentar-afd-ist-weder-buergerlich-noch-konservativ-sondern-rechtsradikal-hier-sind-die-belege_id_11098159.html, letzter Zugriff: 01.10.2019.

[16] Hermann Glaser: »Deutsche Nationalkultur«, https://www.kupoge.de/kumi/pdf/kumi92/92_22-26.pdf, letzter Zugriff: 17.09.2018.

[17] Theo Sommer: Der Kopf zählt, nicht das Tuch – Ausländer in Deutschland: Integration kann keine Einbahnstraße sein Die Zeit vom 16. Juli 1998, Zugriff am 14. Mai 2017.

[18] bpb: Fremdenfeidliche Anschläge, https://www.lpb-bw.de/fremdenfeindlichkeit.html

[19] https://www.tagesspiegel.de/politik/interaktive-karte-todesopfer-rechter-gewalt-in-deutschland-seit-der-wiedervereinigung/23117414.html, letzter Zugriff:01.10.2019.

[20] Benjamin Konietzny: Die AfD hat ein Gewaltproblem, 19.06.2019, https://www.n-tv.de/politik/politik_kommentare/Die-AfD-hat-ein-Gewaltproblem-article21096438.html, letzter Zugriff: 20.09.2019.

[21] Ulrike Simon: Wie kam der Hass in den Chat?, 02.08.2018, https://www.spiegel.de/plus/facebook-chat-eines-afd-mitarbeiters-volksverhetzend-menschenverachtend-rassistisch-a-0ed3a160-37a4-497a-9496-5ea0e335fbb6, letzter Zugriff: 2019.

[22] Berthold Kohler: Phantasien der AfD: Früher nannte man das Säuberung, FAZ 05.09.2018 http://www.faz.net/aktuell/politik/afd-phantasien-von-alexander-gauland-man-nannte-es-saeuberung-15773410.html?GEPC=s5, letzter Zugriff: 06.09.2018.

[23] Detlef Esslinger: Die Brandstifter von der AfD, SZ 28.08.2018, https://www.sueddeutsche.de/politik/meinung-am-mittag-chemnitz-die-brandstifter-von-der-afd-1.4107557, letzter Zugriff: 30.08.2018.

[24] https://twitter.com/Uwe_Junge_MdL/status/946869602553925634

[25] Björn Höcke:“Gemütszustand eines total besiegten Volkes“, TS 19.01.2017, https://www.tagesspiegel.de/politik/hoecke-rede-im-wortlaut-gemuetszustand-eines-total-besiegten-volkes/19273518-all.html, letzter Zugriff 14.09.2019.

[26] Zit. bei: Detlef Esslinger: Systemfeinde, SZ 03.09.2018, S. 4.

[27] Lorenz Fossen: „6000 Demonstranten entsprechen nicht den AfD Ansprüchen“, Berliner Morgenpost 27.05.2018, https://www.morgenpost.de/berlin/article214405981/6000-Demonstranten-entsprechen-nicht-den-AfD-Anspruechen.html, letzter Zugriff: 29.05.2018.

[28] Andres Kalbitz: Kyffhäusertreffen 2018, https://www.youtube.com/watch?v=PB2mWTMT2V4, letzter Zugriff: 08.03.2019.

[29] Welt Newsletter: AfD-Landeschef Kalbitz bei rechtsextremen Verein zu Besuch, 06.03.2018, https://www.welt.de/politik/deutschland/article174269822/Ich-sehe-da-kein-Problem-AfD-Landeschef-Kalbitz-bei-rechtsextremem-Verein-zu-Besuch.html, 16.03.2018.

[30] Marc Röhling: Auf National-Treffen der AfD: Björn Höcke spricht von Wölfen und Schafen – wie Goebbels, 24.06.2018, https://www.bento.de/politik/afd-bjoern-hoecke-nutzt-goebbels-anspielung-beim-kyffhaeusertreffen-in-sachsen-anhalt-a-00000000-0003-0001-0000-000002539482.

[31] Criticón: 200 Jahre Gegenrevolution. Nr. 115, Sep./Okt. 1989.

[32] Thomas Grumke/Bernd Wagner (Hrsg.): Handbuch Rechtsradikalismus, Personen, Organisationen, Netzwerke, Opladen 2002, S. 191.

[33] Samuel Salzborn: Angriff der Antidemokraten. Die völkische Rebellion der Neuen Rechten, Weinheim Basel 2017, S. 38f.

[34] Volker Weiß: Die Autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart 2017, S. 44.

[35] Jürgen Braun: Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2018 5155.

[36] Wolfgang Kraushaar: a.a.O., S. 20.

[37] Stefan Lauer: Alice Weidel. Der gravierende Unterschied zwischen konservativ und rechtsradikal, 05.09.2019, https://www.belltower.news/alice-weidel-der-gravierende-unterschied-zwischen-konservativ-und-rechtsradikal-90917/

[38] Beatrix von Storch: Twitter, 17.09.2019, https://twitter.com/Beatrix_vStorch?ref_src=twsrc%5Egoogle%7Ctwcamp%5Eserp%7Ctwgr%5Eauthor.

[39] https://www.identitaere-bewegung.de/kampagnen/wir-sind-verfassungsschuetzer/#more-497

[40] https://twitter.com/AfD/status/1179637453830770688

[41] Armin Mohler: Gegen die Liberalen, Schnellroda 2017, S. 15.

[42] Ebd., S. 7.

[43] Benjamin Konietzny, a.a.O.

[44] Ernst Cassirer: Vom Mythos des Staates, Hamburg 2002, S. 368.

[45] Durs Grünbein: Wie aus Sprache Gewalt wird, Die Zeit Nr.3, 10.01.2019, S. 39.

[46] Jochen Hilgers, Frank Menke: LKA ermittelt nach Droh-E-Mails an NRW-Politiker, https://www1.wdr.de/nachrichten/henriette-reker-morddrohung-100.html, letzter Zugriff: 21.06.2019.

[47] Ragnar Vogt: E-Mail mit Aufruf zur Denunziation, Tagesspiegel 13.07.2019, https://www.tagesspiegel.de/politik/e-mail-mit-aufruf-zur-denunziation-afd-abgeordneter-verbreitete-liste-mit-angeblichen-antifa-mitgliedern/24590486.html, letzter Zugriff: 13.07.219.

[48] Robert Roßmann: Botschaften mit Seitenhieb, SZ 07.12.2018, https://www.sueddeutsche.de/politik/rede-auf-dem-parteitag-botschaften-mit-seitenhieb-1.4244410, letzter Zugriff: 30.09.2019.

[49] Ferdinand Otto/Katharina Schuler: Muss die Union konservativer werden, Die Zeit, 07.10.2018, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-10/cdu-strategie-nachfolger-angela-merkel, letzter Zugriff: 25.01.2019.

[50] Alan Posener: Schwarz-Blau-Gelb gegen das Gespenst von 68, https://starke-meinungen.de/blog/2018/03/03/schwarz-blau-gelb-gegen-das-gespenst-von-68/

[51] Joschka Fischer: Der Niedergang des weißen Mannes, SZ 29.12.2015.

[52] Vgl. Ronald F. Inglehart/Pippa Norris (2016): Trump, Brexit, and the Rise of Populism. Economic Have-Nots and Cultural Backlash, in: Harvard Kennedy School. Faculty Research Working Paper Series RWP 16-026, S. 27.

[53] Alexander Gauland: Warum muss es Populismus sein? FAZ, 06.10.2018, S. 8.

[54] Ebd., S. 118.

[55] Ebd., S. 35.

[56] Michael Zürn: Liberale Eliten als Hassobjekt, Tagesspiegel 21.102018, https://causa.tagesspiegel.de/gesellschaft/populismus-und-die-werte-der-anderen/liberale-eliten-als-hassobjekt.html, letzter Zugriff: 22.10.2018.

[57] Barbara Zehnpfennig: Zehn Thesen über den Niedergang der ‚Linken’, https://starke-meinungen.de/blog/2019/09/11/neun-thesen-ueber-den-niedergang-der-linken/#more-8047

[58] Norbert Frei, a.a.O.

[59] in: Die Politische Meinung, 1983, zit nach: Albrecht von Lucke, Die Geschichte kommt hoch. Günter Grass und die „Neue Bürgerlichkeit“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2006, Seite 1255 ff., letzter Zugriff: 23. Januar 2008.

[60] Immanual Kant: Was ist Aufklärung?, Stuttgart 1974, S. 37.

[61] Ebd., S. 38.

[62] Carl Zuckmeyer: Als wär´s ein Stück von mir, Frankfurt/Main 332007, S. 30f.

[63] Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz, in: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt/Main 1970, S. 97.


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Posted by Dr. Bruno Heidlberger