Abstract [en]: How can we achieve a good co-existence of religions? This issue is highly important, also in view of religious conflicts in some parts of the world. A religious community in a democratic society, as a matter of fact, could strongly support human rights minimum standards and ask for such respect of human rights also in their own regards. Aspiring for a SDG 18 of the UN called “good religious practices”, religions thus could commit to religious freedom, freedom of religious service, freedom for a religious conversion, religious tolerance also for non-believers and atheists, and a rejection of cruel, human rights offensive religious practices. In such a way, religions could find a context to be strong and responsible actors of their civil society, with an active role also in the prevention of violence.


Abstract [de]: Wie gelingt gutes Zusammenleben der Religionen? Diese Frage ist angesichts vielfältiger, teilweise auch religiös motivierter Konflikte von großer Bedeutung für die globale Zivilgesellschaft. Eine demokratiefähige Religionsgemeinschaft kann und wird sich für die Einhaltung menschenrechtlicher Mindeststandards einsetzen und diese auch für sich selbst einfordern. Mit einem 18. Nachhaltigkeitsziel der UN zu „guter religiöser Praxis“ (SDG 18) könnte der Beitrag der Religionen zum guten globalen Zusammenleben untermauert werden, denn dann geht es um Religionsfreiheit, Gottesdienstfreiheit, Freiheit zu religiöser Konversion, religiöse Toleranz auch für nicht-religiöse Menschen und für die Abkehr von menschenrechtsfeindlicher oder grausamer religiöser Praxis. Religionen können in diesem Kontext Verantwortung für eine gute Ausgestaltung der Zivilgesellschaft übernehmen und aktiv an Gewaltprävention mitwirken.


März 2022

Wie gelingt gutes Zusammenleben der Religionen?

„Gute religiöse Praxis“ (SDG 18) als Ziel der globalen Zivilgesellschaft

Inhalt

  1. Die neue Realität einer globalen Zivilgesellschaft in Vielfalt und Konflikt
  2. Brisanz und Instrumentalisierung religiöser Wahrheits- und Geltungsansprüche
  3. Gemeinsame Werte in der globalen Zivilgesellschaft: Menschenrechte, Weltethos und die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen
  4. Ein neuer Orientierungsrahmen: Gute Religiöse Praxis (SDG 18)
  5. Ausblick und Zukunftshoffnung: Religionsfähige Demokratie und demokratiefähige Religion
  6. Literatur

1.  Die neue Realität einer globalen Zivilgesellschaft in Vielfalt und Konflikt

Das 21. Jahrhundert hat damit begonnen, die Dilemmata des guten Zusammenlebens auf dieser einen Erde zu verschärfen und zu vervielfältigen. Wir erleben eine globale Pandemie. Wir erleben Extremwetterlagen als schon spürbare Auswirkungen der Klimakrise. Wir erleiden einen atemberaubenden Schwund der Biodiversität. Wir erfahren Grenzen der wirtschaftlichen Globalisierung durch das punktuelle Versagen von Lieferketten (vgl. G. Geiger u.a. 2022). Und wir fühlen vielfältige Rückfälle in konfliktive Muster des internationalen Zusammenlebens, von den Spannungen zwischen China und den USA bis hin zu Themen wie den politischen Vorgängen 2021/2022 in Weißrussland, in der Ukraine, im Jemen, in Syrien, in Mali oder in Chile und Venezuela.

In vielen dieser Länder und Konfliktzonen bestehen Berührungspunkte zwischen Formen nationaler Identität und religiösen Zugehörigkeiten. Dazu kommen Bewegungen des religiösen Extremismus wie der sogenannte „Islamische Staat“, der als radikal-islamische, äußerst gewaltsame Glaubensrichtung zwischen 2017 und 2019 Teile des Iraks und Syriens beherrschte und bis heute durch Anschläge auf sich aufmerksam macht.

Es ist daher scheinbar naheliegend, Religionen mit dem Ausbruch von Gewalt in Verbindung zu bringen (vgl. M. Jürgensmeyer 2019; T. Crane 2019). Ich habe daraus in meinem Vortrag bei der UNESCO-Summer School in Luzern im Juni 2019 das „Friedensparadox der Religionen“ abgeleitet. Kurz formuliert lautet es wie folgt: „Religionen versprechen den Frieden, aber sie bringen Gewalt und Krieg“.

Umgekehrt gibt es zahlreiche religiös motivierte Friedensbewegungen überall auf der Welt. Religiöse Realität folgt, wie so oft, keinem eindeutigen Erklärungsmuster, weder historisch noch politisch oder soziologisch, noch psychologisch oder kognitionswissenschaftlich.

Tatsächlich bekennen sich etwa 80 % der Weltbevölkerung zu einer Religion (vgl. T. Crane 2019, 14). Schon statistisch gesehen sind Bekenntnis und Zugehörigkeit zu einer Religion folglich nicht mit Intelligenz oder mangelnder Intelligenz korreliert, so wie es Veröffentlichungen des neuen Atheismus nahezulegen scheinen (vgl. R. Dawkins 2016). Religionen sind vielmehr kraftvolle, aber auch widersprüchliche Akteure der globalen Zivilgesellschaft mit unterschiedlichen Intensitätsgraden der Zugehörigkeit. Für die persönliche Identität eines Menschen können sie eher peripher, von mittlerer Bedeutung oder sogar zentral sein (vgl. U. Hemel 2006, 92-115; T. Crane 2019).

Die doppelte Charakteristik von Religionen als Bekenntnis- und Glaubensgemeinschaften einerseits, als Akteuren der Zivilgesellschaft andererseits macht ihre Einordnung schwierig. In demokratischen Gesellschaften führt dies bisweilen zu einer Tabuisierung oder Folklorisierung religiöser Realität (vgl. D. Bogner 2001, 51; E. Zwick 2013, 205f.). Das Bad hinduistischer Massen im Ganges, die Wallfahrt nach Mekka oder die Festspiele in Oberammergau bieten bildliche Verdichtungen, deren kognitive und gesellschaftliche Bedeutung häufig mit unsicherem Schweigen oder arroganter Abwertung quittiert wird.

Deutlich wird daran, dass es nicht zuletzt an begrifflichen Werkzeugen zum Verständnis von Religion in der heutigen Welt fehlt. Entscheidend sind hier vor allem drei Elemente: (1) die verwirrende Vielfalt von Religionen mit ihren unterschiedlichen Weltdeutungsmodellen, (2) die identitätsstiftende Prägung von Personen durch ihre religiöse Zugehörigkeit und (3) die religiöse Eigenlogik jeder Religion in ihrer Spannung zu Formen wissenschaftlicher Weltdeutung und in ihrem schwierigen Verhältnis zu Anforderungen aus Staat und Politik.

Ziel der folgenden Ausführungen ist ein Beitrag zum gelingenden Zusammenleben von Menschen aller Religionen in der globalen Zivilgesellschaft. Dies wird mit der Forderung nach der Einführung eines 18. Nachhaltigkeitsziels der Vereinten Nationen im Sinn „guter religiöser Praxis“ (SDG 18) verbunden. Im Hintergrund steht dabei das Leitbild einer „demokratiefähigen Religion“ in einer „religionsfähigen Demokratie“.

Der begriffliche Rahmen der globalen Zivilgesellschaft bedarf dabei einer Erläuterung. Denn ursprünglich wurde der Begriff der Zivilgesellschaft gegen Ende des 20. Jahrhunderts auf oppositionelle Kräfte gegenüber einem übermächtigen und repressiven Staat, etwa im Umfeld der früheren Sowjetunion verwendet. Die katholische Kirche in Polen wurde damals ebenso wie die 1980 gegründete Gewerkschaft Solidarnosc mit Lech Walesa an der Spitze als zivilgesellschaftliche Kraft angesehen (vgl. H. Fehr 2014, 51).

In einer zweiten Phase, die bis heute andauert, wird der Begriff der Zivilgesellschaft anders eingesetzt. Er bezieht sich dann auf die sogenannte Engagement-Landschaft in einer Gesellschaft, die aus bürgerschaftlichen Bewegungen, Nicht-Regierungs-Organisationen (wie etwa Greenpeace, Amnesty International und anderen), aber auch verschiedenen Emanzipations- und Protestbewegungen (wie Attac oder die LGBTIQ-Bewegung) besteht. Die Zivilgesellschaft in diesem zweiten Sinn sieht ihren Antagonisten dann insbesondere in Staat und Wirtschaft (vgl. R. Strachwitz u.a. 2020).

Die Engführung von Zivilgesellschaft auf aktivistische Kreise und Nicht-Regierungsorganisationen hat mindestens zwei herausfordernde Folgewirkungen: Sie betrachtet Wirtschaft antagonistisch und sie „übersieht“ Religion. Beide Aspekte sind politisch und gesellschaftlich folgenreich, aber nicht selbstverständlich. Dies ergibt sich aus der Definition von Zivilgesellschaft, die ich seit 2009 gemeinsam mit dem Institut für Sozialstrategie ausgearbeitet habe und welche die Zivilgesellschaft auf alle Menschen und Institutionen bezieht, soweit sie nicht Akteure des Staates oder des organisierten Verbrechens sind (vgl. U. Hemel 2009, 178-191; U. Hemel 2010, 149-158).

Diese sehr weite Definition von Zivilgesellschaft verbindet den Vorteil einer klaren Abgrenzung der staatlichen von der zivilgesellschaftlichen Sphäre mit der Wahrnehmung des organisierten Verbrechens als einer weltweit vernetzten, häufig unterschätzten Kraft. Sie lässt Raum für fließende Übergänge wie etwa für kriminelle Staatskorruption durch staatsausbeuterische Regierungscliquen ebenso wie für Geldwäsche in der wirtschaftlichen Sphäre als Spielart von organisiertem Verbrechen.

Ein weiterer Vorteil dieser breiten Definition ist ihre Messbarkeit. In unserer digitalen Welt unterscheiden wir heute schon zwischen Mensch-Mensch-, Mensch-Maschine- und Maschine-Maschinen-Interaktionen (vgl. C. Misselhorn 2018; U. Hemel 2020, 174-191).

In ähnlicher Art und Weise lassen sich Interaktionen zwischen den drei Größen Staat, Zivilgesellschaft und organisiertem Verbrechen unterscheiden und begreifen, denn es gibt natürlich Interaktionen zwischen Staat und Zivilgesellschaft wie bei einem Polizeieinsatz zum Schutz eines Fußballspiels, zwischen organisiertem Verbrechen und Zivilgesellschaft wie bei der Geldwäsche, aber auch zwischen Staat und organisiertem Verbrechen wie im Fall von korrupt regierten Staaten und ihren kriminellen Staatsoberhäuptern.

Weiterhin ist es möglich, wahrnehmungspsychologisch zu arbeiten und Staaten in Form einer Fahne aus den genannten drei „Streifen“ zu beschreiben. Je nach Wahrnehmung wird dann die Rolle des Staates übermächtig sein (wie etwa in Nordkorea), oder es gibt ein sehr starkes organisiertes Verbrechen (wie in Italien und in Kolumbien), verbunden mit einer stärkeren oder auch schwächeren Zivilgesellschaft. Das anzustrebende Gleichgewicht zwischen Staat und Zivilgesellschaft entspricht nicht zuletzt der historisch kenntnisreich unterlegten These von D. Acemoglu und J. Robinson vom schmalen Korridor der Freiheit, der über ein solches Gleichgewicht der Macht zwischen Staat und Gesellschaft erreicht werden kann (vgl. D. Acemoglu & J. Robinson 2019).

Entscheidend für unser Thema ist der Vorteil einer breiten Definition von Zivilgesellschaft bei der Anwendung des Konzepts auf deren Akteure. Denn die genannte Definition trägt zur Sichtbarkeit und zur Verantwortungsübernahme wesentlicher Sphären des menschlichen Zusammenlebens bei, nämlich den Bereichen Wirtschaft, Sport und Religion. Wer nämlich Akteur ist, etwa im Straßenverkehr, der trägt auch Verantwortung, gleich ob als Fußgänger, Fahrradfahrer oder Autofahrer. Hilfsbegriffe wie etwa CSR (Corporate Social Responsibility) im Bereich der Wirtschaft werden ja genau dann relativiert, wenn Akteure wie Unternehmen eben von Haus aus Verantwortung tragen statt diese an eine wie immer benannte Abteilung delegieren zu können.

Schon der Begriff der Globalisierung geht ja über die wirtschaftliche Sphäre hinaus. Er sollte in einem Dreiklang verstanden werden, der sowohl den weltweiten Austausch von Gütern und Dienstleistungen wie die vor allem digital geförderte Ebene der globalen Information und Kommunikation, aber auch die häufig übersehene Ebene globaler, aber teilweise spannungsreicher Werte und Normen umfasst. Die Globalisierung der Werte und Normen bezieht sich dabei zum einen auf die wirtschaftliche Sphäre in Gestalt des sich herausbildenden Vorrangs von Werten wie Fairness, Transparenz und guter Kommunikation (vgl. U. Hemel 2020, 223). Sie gilt im politischen Bereich durch den globalen Wettbewerb der Ideen zwischen demokratischen und technokratisch-autoritären Staaten. Sie umfasst aber auch religiöse Aspekte, etwa als Folge weltweiter Migrationsbewegungen, etwa weil aktuell weltweit rund 150 Millionen Menschen eine Beschäftigung fern von ihrem ursprünglichen Herkunftsland ausüben und natürlich auch ihre islamische, christliche oder hinduistische Religionspraxis mitbringen.

Olympische Spiele, Wahlen in den USA, eine Papstwahl oder mediale Ereignisse wie Fußballweltmeisterschaften und der Tod der englischen Prinzessin Diana Spencer bringen heutzutage über eine Milliarde Menschen zeitgleich vor die Bildschirme. Es ist sinnvoll, eine Sprache für diese kollektive Erfahrung zu finden, um sie besser als bisher wahrzunehmen und in ihrer Verantwortung zur Sprache zu bringen. Begreifen wir nämlich Unternehmen, Sportverbände, aber auch Religionen als Akteure der globalen Zivilgesellschaft, dann wird eine Ebene der Verständigung und des Austauschs wechselseitiger Erwartungen möglich, die definitionsgemäß dann fehlt, wenn diese Bereiche aus gesellschaftlichen, politischen, namentlich auch demokratietheoretischen Diskursen ausgeklammert werden.

Da Religionen jedoch eine inhaltliche und soziale Eigenlogik aufweisen, kommt es regelmäßig zu Spannungen und Kontroversen genau dann, wenn deren Wahrheits- und Geltungsansprüche zur Sprache kommen. Dieser Aspekt bedarf daher einer intensiveren Beleuchtung.

2.  Brisanz und Instrumentalisierung religiöser Wahrheits- und Geltungsansprüche

Aus der Binnensicht einer Religion gebührt Gott der Vorrang auch in der gesellschaftlichen und politischen Sphäre. Religionen bieten Menschen eine umfassende Weltdeutung an, die den kognitiven und auch sozial wirksamen Anspruch erhebt, wahr zu sein. Noch mehr: Dort wo Religionsgemeinschaften eine Bevölkerungsmehrheit hinter sich vereinen, fordern sie eine möglichst lückenlose Übertragung ihrer religiösen und moralischen Vorstellungen in die Gesetzgebung und das Handeln des Staates. Solche Gedanken gibt es nicht nur im Christentum und im Islam, sondern auch im nationalpolitischen Hinduismus und im ultraorthodoxen Judentum.

Theokratische Regierungen sind weltweit allerdings die Ausnahme. Ein prominentes Beispiel ist der Iran, dessen religiös geprägter Wächterrat politische Macht besitzt und bis heute die konkrete Auslegung des schiitischen Islams in Alltagspolitik überwacht. Ein zweites Beispiel ist der Sonderfall des Vatikanstaats, dessen Oberhaupt zugleich Staatsoberhaupt und Kopf der römisch-katholischen Christenheit ist. Enge Verbindungen zwischen Staatswesen, Staatsoberhaupt und Mehrheitsreligion finden wir auch in Marokko, in Saudi-Arabien und in Großbritannien, denn die Queen ist ja nicht nur Staatsoberhaupt, sondern auch Oberhaupt der anglikanischen Kirche.

Nun wird niemand ernsthaft behaupten, Großbritannien sei deshalb eine Theokratie. Und sowohl für den Iran wie für den Vatikan gelten naheliegende Grenzen theokratischer Herrschaft. Diese lassen sich wesentlich in gesellschaftliche und in theologische Einwände kleiden. Gesellschaftlich geht es um die Frage nach religiöser Mehrheit und religiöser Minderheit. Welche Stellung haben beispielsweise Minderheiten wie die Jüdinnen und Juden im Iran? Ähnliches gilt für das mehrheitlich buddhistisch geprägte Myanmar: Welche Rechte haben dort Musliminnen und Muslime wie etwa die Rohingya oder andererseits Christinnen und Christen wie die ethnischen Karen oder Kayin?

Solche gesellschaftlichen und politischen Fragen sind die eine Seite der Medaille. Die Eigenlogik einer Mehrheitsreligion steht dann vor der Aufgabe, ihr eigenes Verhältnis zu religiöser Toleranz oder Intoleranz zu bestimmen. Das II. Vatikanische Konzil der Katholischen Kirche (1962-1965) hat sich zwar in „Nostra Aetate“ zur Religionsfreiheit bekannt. In den Diskussionen kam aber sehr wohl zur Sprache, wieso es ein Recht auf Irrtum überhaupt geben solle (vgl. U. Hemel 2017, 65-78). Dies gilt auch für das Verhältnis von Christentum und Judentum. So waren antisemitische Ausschreitungen von 1348 bis 1938 und von der Schoa bis heute zwar häufig auch sozial und politisch motiviert. Sie waren aber nicht frei von religiösen, judenfeindlichen Konnotationen aus dem Christentum.

Eine Instrumentalisierung religiöser Wahrheitsansprüche spielt auch für das Innenleben einer Theokratie eine Rolle. In der Theokratie wird wie in jeder Regierungsform Macht ausgeübt. Machtausübung unter Berufung auf den Willen Gottes setzt jedoch voraus, dass der Wille Gottes bekannt ist und sich speziell den Machthabern verbindlich offenbart.

Da Menschen aber regelmäßig zu Fehlurteilen kommen, auch wenn sie Macht haben, stellt beispielsweise schon die religiöse Eigenlogik von Christentum und Islam sehr ernsthafte Anfragen an theokratische Herrschaft. Im katholischen Christentum gilt zwar der Papst als Stellvertreter Christi auf Erden. Seine Autorität zu unfehlbaren Aussagen ist allerdings theologisch durch ein dichtes Netz von hermeneutischen Auslegungsregeln doch sehr eng eingehegt (vgl. H. Küng 1973). Damit wird die Tragik der Differenz zwischen Gottes Willen und dem Willen von noch so mächtigen, aber letztlich ausführenden Machthabern abgemildert.

Die Idee der religiösen Toleranz ist das Ergebnis jahrhundertelanger Konflikte speziell in Europa. Sie findet ihre Weiterführung im politischen Postulat der Religionsfreiheit als Teil der Menschenrechte. Wie weit Religionsfreiheit reicht und wie sie auszugestalten ist, bleibt aber in vielen Ländern bis heute umstritten. Ein Beispiel dafür ist ein Volksbegehren in der Schweiz gegen den Bau von Minaretten bei islamischen Moscheen, das am 28.11.2009 dort eine Mehrheit fand.

Die konkrete Realisierung der Religionsfreiheit ist ein dynamisches und komplexes Geschehen, das regelmäßig Unbehagen und Kontroversen auslöst. Dabei kommt es regelmäßig zu einer Mischung aus politischen und religiösen Formen der Instrumentalisierung. Oft spielen neue Minderheiten eine Rolle, beispielsweise durch Migration (vgl. J. Manemann & W. Schreer 2012). Dies gilt ebenso für die Migration islamisch geprägter Menschen aus der Türkei, aus Syrien und dem Irak in Europa wie für die Arbeitsmigration von philippinischen, christlichen Wanderarbeitern in Saudi-Arabien: Beide Gruppierungen bringen ja ihre Religion und Kultur in das Aufnahmeland mit. 

Unabhängig von gesellschaftlichen Mehrheiten und Minderheiten ist in den letzten Jahren eine weitere Spielart religiöser Toleranz zum Thema geworden. Hier geht es um das Verhältnis von religiös geprägten Menschen zu Personen ohne Religion, gleich ob sie sich als atheistisch, als agnostisch oder als religionslos bezeichnen. In westlichen Demokratien gewinnt derzeit eine Art von Verdrängung des Religiösen an Boden, so dass religiöse Themen öffentlich weitgehend tabuisiert werden.

Religiöse Wahrheits- und Geltungsansprüche werden dann ausgeklammert, aber auch ignoriert. Schließlich ist es entweder wahr oder nicht wahr, dass Jesus Christus der Sohn Gottes oder dass Mohammed der letztgültige Prophet ist. Religionen selbst können mit diesen Gegensätzen längst umgehen, weil speziell die großen Weltreligionen über Jahrhunderte hinweg kontroverstheologisch geübt und auf die Anwesenheit „Andersgläubiger“ im gleichen Land und Sozialraum eingestellt sind. 

In Gesellschaften mit vielen religiös gar nicht gebundenen Menschen werden solche Fragen des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Weltanschauung und Religion jedoch teilweise bagatellisiert, teilweise ignoriert. Die Bagatellisierung greift dort, wo religiöse Aussagen nicht mehr von Formen der Mythologie, der Esoterik, des Sektierertums oder des Aberglaubens unterschieden werden. Religionen werden dann als Anbieter auf dem großen Markt der Sinnangebote gesehen, vielleicht mit der faktisch falschen Überlegung, letztlich seien ja doch alle Religionen irgendwie gleich.

Ähnlich wie beim neuen Atheismus wird dann die Wahrheitsfähigkeit religiöser Aussagen grundsätzlich bestritten. Philosophisch gesehen ist freilich die feste Überzeugung, es gebe keinen Gott, eine bestimmte Spielart weltanschaulich-religiöser Aussagen. Diese Spielart beansprucht ihrerseits generelle, weltanschaulich-religiöse Toleranz, sollte aber nicht in eine Diskriminierung von nicht-atheistischen Überzeugungen umschlagen (vgl. dazu T. Crane 2019, 149-176).

Das Angebot einer umfassenden, von Gott getragenen Weltdeutung ist den meisten Religionen eigen. Religionen stellen Fragen, die sonst keiner stellt. Sie geben Antworten, die über Wissenschaft und Kunst hinausgehen. Und die Wahrheit von Religion ist ebenso wie die Existenz Gottes nach Jahrhunderten der philosophischen Diskussion bis heute weder streng zu beweisen noch streng zu widerlegen. Übersehen wird bei diesem Diskurs allerdings eine logische Besonderheit, denn „Beweisbarkeit“ ist keine notwendige Eigenschaft wahrer Aussagen. Ob es am 4. März 2144 in München regnet, wird zeitlebens keiner der zeitgenössischen Leserinnen und Leser erfahren. Dennoch ist die Aussage beweisbar, wenn auch auf einem uns heute nicht zugänglichen Zeitstrahl. 

Wenn es aber wahre und nicht beweisbare oder auch falsche und nicht beweisbare Aussagen gibt, dann ist es von eminenter Bedeutung zu verstehen und anzuerkennen, dass religiöse Weltmodelle in besonderer Art und Weise derartige Aussagenklassen verwenden. Dies gilt insbesondere für Fragen zum Anfang und zum Ende der Welt, also bei der Kosmologie und der Eschatologie (vgl. J. Ratzinger 2007). Aussagen über ein Leben nach dem Tod sind zwar mit unseren Mitteln nicht beweisbar. Sie gehören jedoch ebenso wie die Aussage über Regen in einer deutschen Stadt im Jahr 2144 zur Klasse der wahrheitsfähigen, aber nicht entscheidbaren Aussagen (vgl. U. Hemel 1990, 34-43).

Religiöse Ignoranz steht daher einer demokratischen Gesellschaft nicht gut an, weil sie hinter konsensfähigen, allgemein anerkannten Diskursstandards zurückbleibt. Zu fordern ist daher eine demokratische Gesellschaft, die zugleich religionsfähig in dem Sinne ist, dass sie die Eigenlogik von Religion toleriert, ohne sie als unsinnig oder belanglos abzuwerten. Zu fordern ist aber auch eine Religionspraxis, die sich auf die Lebensbedingungen der Demokratie einlässt, ohne ihr politisch die eigenen religiösen Sichtweisen überzustülpen.

Im Sinn des guten Zusammenlebens aller sind daher sowohl eine demokratiefähige Religion wie auch eine religionsfähige Demokratie zu fordern. Im Vordergrund steht bei dieser Betrachtung dann der Wert des guten Zusammenlebens, der „Konvivialität“. Religiöse Wahrheits- und Geltungsansprüche werden dann als solche wahrgenommen, müssen im praktischen Leben allerdings so ausgestaltet werden, dass gutes Zusammenleben ohne wechselseitige Zwangsmaßnahmen und Gewaltausübung möglich wird. Damit sind Anforderungen an alle Akteure in Staat und Gesellschaft gestellt, die ihrerseits zu vielfältigen Aushandlungsprozessen führen werden.

Dazu ist es notwendig, sich auf gemeinsame Werte in der globalen Zivilgesellschaft grundlegend zu besinnen.

3.  Gemeinsame Werte in der globalen Zivilgesellschaft: Menschenrechte, Weltethos und die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen

Mit rund 8 Milliarden Menschen ist es kein einfaches Unterfangen, auf gemeinsame Werte abzustellen: Zu unterschiedlich sind Kulturen, Lebenssituationen, Weltanschauungen und Religionen. Andererseits erfordern technische, politische und soziale Entwicklungen ein Mindestmaß an Konvivialität im Sinn der Kunst des guten Zusammenlebens.

Werte haben einen normativen Charakter. Wer in einer Gemeinschaft deren Werte nicht beachtet, wird Gegenstand von Sanktionen, von der leichten Missbilligung bis zur massiven Bestrafung oder zum Ausschluss, der „Exkommunikation“.

Die großen Orientierungssysteme der Gegenwart wie Technik, Wissenschaft und Demokratie sind nicht von Haus aus dazu befähigt, Werte und Normen aufzustellen. Technik löst technische Probleme, gibt aber keine Werteorientierung. Wissenschaft sucht nach besserem Wissen, ist aber selbst keine normensetzende Instanz. Nationale Demokratien leben aus der Moderation einer Vielzahl von Meinungen und Strömungen, verstehen sich aber nicht als wertsetzende Autorität.

Der Wille, die Fähigkeit und die Autorität, weltweit verbindliche und gemeinsame Werte zu schaffen, kann also nur durch eine übergreifende Instanz oder eine natürliche Autorität realisiert werden. In Frage kommen also (1) naturrechtliche Argumentationen mit all den Schwierigkeiten, die ihnen zu eigen sind, oder übergeordnete Instanzen wie (2) Religionen oder (3) eben die Vereinten Nationen. Selbst dann gilt die naheliegende Einschränkung, dass Geltung und Durchsetzung von Werten und Normen zweierlei sind. Anders gesagt ist die Proklamation gemeinsamer Werte noch lange keine Gewähr für deren praktisch gelebte Umsetzung.

Dennoch sollte die Fähigkeit von Menschen, über ihre Konflikte hinaus zu friedlicher Kooperation zu gelangen, nicht unterschätzt werden. Es ist kein Zufall, dass alle vorliegenden Versuche, weltweit gültige Werte in der globalen Zivilgesellschaft zu formulieren, auf die genannten drei normsetzenden Verfahren zurückverweisen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (UN-Resolution 217 A (III) vom 10.12.1948) reagiert mit ihren 30 Artikeln auf die Barbarei des II. Weltkriegs (1939-1945) und greift sowohl auf eine lange Menschenrechtsdiskussion wie auf naturrechtliche Argumentationen zurück, die als universell gesetzt gelten sollen (vgl. H. Bielefeldt 1998).

Das Parlament der Weltreligionen hat 1993 unter Mitwirkung aller Weltreligionen und vieler kleinerer Religionsgemeinschaften gemeinsam eine Weltethos-Erklärung herausgegeben, die auf den Prinzipien der Menschlichkeit und der goldenen Regel beruht. Ausgelegt werden die beiden Leitprinzipien durch die Werte der Wahrhaftigkeit, der Gerechtigkeit, der Partnerschaftlichkeit und der Gewaltlosigkeit. Ergänzt wurden diese im Jahr 2018 durch den Wert der Nachhaltigkeit. Nicht zuletzt die auf den Schweizer Theologen Hans Küng (1928-2021) zurückgehende Weltethos-Stiftung und das Weltethos-Institut in Tübingen setzen sich für die weltweite Verbreitung dieser Gedanken ein (vgl. H. Küng 2012; U. Hemel 2019).

Am 1. Januar 2016 traten überdies die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen in Kraft. Als Ziele formuliert und von der UN-Vollversammlung angenommen, beschreiben diese letztlich die Vision einer friedlichen Welt ohne Armut, mit Zugang aller zu Wasser, Ernährung, Bildung und Leistungen des Gesundheitswesens. Die Vision umfasst Geschlechtergerechtigkeit ebenso wie gute und starke Institutionen, faire Arbeit und die Sorge um das ökologische Gleichgewicht der Erde.

Die Wirkungsgeschichte der 17 SDG ist beachtlich. So gibt es heutzutage kaum eine demokratische Regierung, die ihre Programmatik nicht an diese Ziele anlehnt. Die meisten großen Unternehmen verweisen auf ihren Homepages, zu Recht oder propagandistisch überhöht, auf ihren eigenen Beitrag zur Realisierung der 17 SDG. Auch Papst Franziskus bezieht sie in seiner Sozialenzyklika Fratelli Tutti in seine Reflexionen ein.

Wenn aber nun 80 % der Menschen sich einer Religion zugehörig fühlen, ist es gleichwohl erstaunlich, dass Religion bei den 17 SDG so gut wie keine Rolle spielt. Möglich ist zwar der Verweis auf das Ziel SDG 16 zu „Frieden, Gerechtigkeit und starken Institutionen“ oder zu 17 „Partnerschaft für die Ziele“. Gleichwohl ist das Ausklammern von Religion auf der Ebene der UN doppelt unbefriedigend: Denn es spiegelt die Sprachlosigkeit globaler Institutionen gegenüber Religion und versäumt es, das Friedenspotenzial von Religionen ausdrücklich zu fördern und einzufordern.

Wer sich auf weltweiter Ebene für demokratiefähige Religion und religionsfähige Demokratie einsetzen will, braucht einen Bezugsrahmen, der über nationale Regierungen und über Wortmeldungen einzelner Religionen hinausgeht. Ein neuer Orientierungsrahmen könnte dabei im Rahmen eines neuen und ergänzenden Nachhaltigkeitsziels im Sinn „Guter religiöser Praxis“ (SDG 18) artikuliert werden. Dies soll im folgenden Abschnitt entfaltet werden.

4.  Ein neuer Orientierungsrahmen: Gute Religiöse Praxis (SDG 18)

Die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen klammern religiöse Akteure bisher völlig aus. Mit sehr viel Wohlwollen könnten sie wie oben erwähnt unter SDG 17 „Partnerschaften für die SDG-Ziele“ oder SDG 16 „Friede, Gerechtigkeit und Starke Institutionen“ erfasst werden. Die nach wie vor hohe Bedeutung von Religionen in der Welt erfordert aber die explizite Wahrnehmung und Beachtung von Religion auch auf der Ebene der globalen Zivilgesellschaft und von globalen Institutionen wie den UN.

Dabei ist das Ziel „Gute religiöse Praxis“ zunächst einmal ein Sammelbegriff, der die aktuellen Bewegungen zur Einrichtung weltweiter Mindeststandards im religiösen Feld zur Anwendung bringt. Er knüpft an ähnliche Begriffe an, so etwa „Good Manufacturing Practices“ für den Produktionsbereich oder die Zielrichtung „Good Governance“ für wirtschaftliche und für politische Akteure (vgl. N. Pfitzer & P. Oser 2003). Um wirksam zu werden, müssen die konkreten Inhalte guter religiöser Praxis sowohl für Politik und Zivilgesellschaft wie für die Eigenlogik von Religionen akzeptabel sein. 

Die inhaltliche Ausformulierung einer solchen Aufgabe ist alles andere als leicht, vor allem angesichts der sehr unterschiedlichen religiösen Lehren, Lebensformen und Praktiken, die weltweit vorhanden sind. Das Ziel des guten Zusammenlebens auf dieser einen Erde erfordert allerdings entsprechende Anstrengungen sowohl mit Blick auf weltweite Migrationsströme wie mit Blick auf einzuhaltende Mindeststandards als Werkzeug internationaler Politik. Dazu kommt die Zielsetzung friedlicher und im engeren Sinn gewaltfreier Koexistenz von Religionen.

Vorausgesetzt wird dabei, dass auch für Religionen eine gesellschaftliche Grenze der Toleranz dort gilt, wo es um massive Menschenrechtsverletzungen und Gewaltanwendung geht. Dies gilt für die Skandale rund um sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche ebenso wie für die angeblich religiös motivierte Genitalverstümmelung islamischer Mädchen oder gar die drakonischen Enthauptungen durch den „Islamischen Staat“. 

Nach zahlreichen Diskussionen des Autors mit Personen aus den Bereichen Religion, Wissenschaft und Politik kristallisieren sich fünf konkrete Inhalte guter religiöser Praxis heraus, die von Seiten der Staaten wie von Seiten religiöser Akteure zu verwirklichen sind:

  1. Religions- und Meinungsfreiheit
  2. Kult- und Gottesdienstfreiheit
  3. Die Freiheit zur religiösen Bekehrung
  4. Religiöse Toleranz als Freiheit von und Freiheit zu Religion
  5. Die Abkehr von grausamer, menschenrechtsfeindlicher religiöser Praxis.

Die Grundlage einer religionsfähigen Öffentlichkeit ebenso wie einer demokratiefähigen Religion ist zunächst einmal das Recht auf Religions- und Meinungsfreiheit. Es umfasst ein Gewaltverbot für die Durchsetzung religiöser Auffassungen ebenso wie die Freiheit von religiös oder ideologisch motivierter staatlicher Verfolgung so wie etwa in Nordkorea.

Die Kult- und Gottesdienstfreiheit ist ebenso wie die Freiheit zur religiösen Bekehrung eine unmittelbare Folge aus der Hauptforderung der Religionsfreiheit. Kult- und Gottesdienstfreiheit greift im Einzelfall durchaus in den öffentlichen Raum ein, so etwa bei Wallfahrten und Prozessionen, wie sie in vielen Religionen stattfinden.

Die Freiheit zur religiösen Bekehrung ist nicht in allen Staaten weltweit gewährleistet. Sie wird aus der Binnenlogik der Mehrheitsreligion als Irrtum, noch härter: als Abfall vom wahren Glauben und vom richtigen Weg geächtet und oft hart sanktioniert. Formen von Benachteiligung oder gar Verfolgung erleben viele Menschen mit Bekehrungsgeschichte bis heute. Besonders extrem gilt dies derzeit in Afghanistan, Nordkorea, China, Somalia und Nigeria. Doch auch in westlichen Staaten ist die Freiheit zur religiösen Bekehrung bis heute nicht ausreichend gewährleistet. In Israel ist es Juden und Jüdinnen bis heute verboten, zum Christentum zu konvertieren. In Deutschland und anderen EU-Ländern werden umgekehrt Konversionen zum Christentum in der Asylpolitik häufig nicht anerkannt, weil unterstellt wird, es handle sich um taktische Maßnahmen der betroffenen syrischen oder afghanischen Asylbewerber. Zur Religionsfreiheit gehört es aber, dass es dem Staat nicht zukommt, über Motive religiöser Bekehrung zu richten.

Religiöse Toleranz ist aus den genannten Gründen eine umfassende Forderung und ein zentraler Inhalt guter religiöser Praxis. Sie gilt für Angehörige der Mehrheits- und der Minderheitsreligion. Sie umfasst die Freiheit, keine Religion auszuüben und als Atheist oder Agnostiker zu leben ebenso wie die Freiheit, sich für eine Religion zu engagieren und sie aktiv auszuüben. Grundanforderung religiöser Toleranz ist die bedingungslose Anerkennung des „Rechts auf Irrtum“ in religiösen und weltanschaulichen Fragen. Denn nur dann, wenn dieses „Recht auf Irrtum“ wechselseitig eingeräumt wird, können aktive Maßnahmen von Druck und Zwang in religiösen und weltanschaulichen Fragen eingedämmt werden. Schließlich existieren höchst unterschiedliche Wahrheits- und Geltungsansprüche verschiedener Religionen und Weltanschauungen nebeneinander, und zwar ohne die vordergründige Möglichkeit eines wie immer gearteten „Kompromisses“. Zur religiösen Toleranz gehört es daher, bewusst in Kauf zu nehmen, Kontakte mit Mitmenschen und mit Institutionen auch dann zu pflegen, wenn jemand bestimmte ihrer Auffassungen für unbegründet, problematisch oder sinnlos hält.

In diesem Zusammenhang ist auch die „Abkehr von grausamer, menschenrechtsfeindlicher religiöser Praxis“ zu würdigen. Religionen sind häufig älter als Demokratien. Bisweilen transportieren sie Praktiken, die in einer Demokratie zu Konflikten führen (vgl. E. Finger 2014, 25-33).

Die genaue Grenze für eine mit staatlichen Sanktionen bewehrte grausame, d.h. im engeren Sinn menschenrechtsfeindliche religiöse Praxis ist faktisch fließend. Sklaverei, Menschenopfer und Todesstrafe werden weltweit ganz überwiegend im säkularen und im religiösen Raum abgelehnt, obwohl es beispielsweise bis heute rund 25 Millionen Menschen weltweit gibt, die in sklavenähnlichen Verhältnissen leben müssen (vgl. M. Zeuske 2013). Die Beschneidung von Frauen gilt inzwischen, nach dem Ausspruch einer verbindlichen muslimischen Lehrmeinung oder Fatwa, nicht mehr als Teil legitimer islamischer Praxis. Sie wird aber gleichwohl noch praktiziert, auch in Deutschland (vgl. J. Graf 2013, 112). Andererseits gilt die Beschneidung von Jungen im Judentum und im Islam weiterhin als legitim, weil das Gewicht der religiösen Tradition bis heute als vorrangig vor der Hinzufügung von Schmerz angesehen wird.

Der Punkt der „Abkehr von grausamer, menschenrechtsfeindlicher religiöser Praxis“ verweist sehr deutlich auf die Notwendigkeit kontextueller Auslegungen durch Staat, Gesellschaft und Religion. Auch religiöse Auffassungen ändern sich im Lauf der Geschichte. Sie bedürfen ebenso wie politische Grenzziehungen immer wieder neu der Reflexion und der Überprüfung. 

Es ist daher auch nicht damit zu rechnen, dass die Auslegung der fünf wesentlichen Inhalte guter religiöser Praxis überall konsensfähig ist. Sie bieten aber in ihrer Gesamtheit einen geeigneten Rahmen, um friedliches Zusammenleben weltweit zu fördern.

5.  Ausblick und Zukunftshoffnung: Religionsfähige Demokratie und demokratiefähige Religion

Die Ausformulierung „guter religiöser Praxis“ und deren Anerkennung als SDG 18 wäre eine herausragende zivilisatorische Leistung der Menschheit. Sie ist nur im Zusammenwirken vieler und sehr unterschiedlicher politischer und religiöser Akteure zu erreichen. Sie kann ein hoffnungsstarker Ausdruck der globalen Zivilgesellschaft werden, weil sie einen Orientierungsrahmen zur Beurteilung religiöser Praxis von Religionen und staatlichen Handelns gegenüber Religionen bietet. Sie ermöglichen die Ausformulierung ethischer Mindeststandards im Zusammenleben von Religionen sowie im Verhältnis von Religion und Staat.

Die SDG 18 könnte zur Referenzgröße auch für die internationale Politik werden. Naheliegend ist nämlich der Zusammenhang, dass es mit politscher Meinungsfreiheit dort nicht weit her sein kann, wo Religionen aktiv behindert oder sogar unterdrückt werden, so etwa wie erwähnt bis heute in China. Im Umkehrschluss gilt, dass der Einsatz für Religionsfreiheit und für gute religiöse Praxis zu einem grundlegenden menschenrechtlichen Anliegen werden kann, auch im gemeinsamen Einsatz mit menschenrechtlichen Aktivisten und Aktivistinnen mit ihren so unterschiedlichen Organisationen.

Für die Religionen kann die Beachtung guter religiöser Praxis zugleich ein Lernprogramm gegenseitiger Wertschätzung werden. Religionen haben aufgrund der Eigenart ihrer institutionellen Logik, ihrer Verankerung in der Lebenswelt der Gläubigen und ihres umfassenden Weltangebots in praktisch allen Staaten dieser Welt eine durchaus komplizierte Sonderstellung. Aufgrund ihrer religiösen Eigenlogik müssen sie sich auch theologisch mit der Stellung ihrer Religion in der Welt auseinandersetzen. 

Für das Christentum spielt hier die Auseinandersetzung zwischen religiösem „Glauben“ und „Vernunft“, einem zentralen Thema des Werks von Joseph Ratzinger (Benedikt XVI.) eine große Rolle. Darüber hinaus ist namentlich die Disziplin der Sozialethik ausschlaggebend. Diese richtet sich auf Fragen des guten Zusammenlebens in der Gesellschaft unter Beachtung der grundlegenden Prinzipien von Personalität, Subsidiarität und Solidarität, die heute bisweilen durch die Begriffe der Menschenwürde, der Gewaltenteilung und der gesellschaftlichen Fairness ausgelegt werden (vgl. P. Schallenberg 2015, 19-29).

Zur theologischen Reflexion guter religiöser Praxis gehören aber auch dogmatische Aspekte. Schließlich muss jede Religion die Frage beantworten, warum Gott es nicht will oder nicht vermocht hat, der eigenen Religion zu noch größerer allgemeiner Geltung zu verhelfen. Religiöser Wettbewerb ist ja, systematisch-theologisch gesprochen, Ausdruck menschlichen Freiheitsgeschehens, aber auch Sinnbild der Grenzen in der Reichweite jeder einzelnen Religion, so überzeugend diese ihren eigenen religiösen Anspruch auch finden mag.

Ein Zusammenleben von Religionen unter dem Gesichtspunkt guter religiöser Praxis geht aufgrund der erörterten Zusammenhänge über ökumenische Initiativen hinaus. Diese suchen den interreligiösen Dialog, um zum einen die andere Religion jeweils besser kennen zu lernen und mögliche Missverständnisse auszuräumen. Darüber hinaus sind sie Teil jener Wahrheitssuche, die im Dialog und in der Begegnung mit anderen nach besserer und tieferer Erkenntnis strebt. Dies gilt in einer solchen Perspektive jenseits des Strebens nach religiöser Dominanz. Der interreligiöse Dialog und der Einsatz für das Ziel „Guter religiöser Praxis“ (SDG 18) können daher zu einem echten Lernprogramm im Sinn einer Förderung religiöser Sprachfähigkeit und zur Wertschätzung religiöser Suchprozesse in verantworteter Verschiedenheit führen.

Der Orientierungsrahmen der „guten religiösen Praxis“ (SDG 18) gilt aber auch auf der politischen Ebene, national und international. Denn zu einer demokratiefähigen Religion gehört auch eine religionsfähige Demokratie. Diese wird einerseits ein wachsames Auge auf die Einhaltung demokratischer und menschenrechtlicher Mindeststandards haben.

Sie sollte andererseits eine Qualitätssicherung des öffentlichen Diskurses mit Blick auf Religionen betreiben und dafür sorgen, dass beim Sprechen über Religion die Prinzipien der wechselseitigen Achtung und der Nicht-Diskriminierung greifen. Dies gilt nicht nur in dem Sinn, dass es einer Herabsetzung von Religionen untereinander zu wehren gilt, sondern bezieht sich auch auf die kritische Sicht und Abwehr problematischer Verhaltensweisen. Dazu können je nach Fall eine unangemessene religiöse Ignoranz, das Lächerlich-Machen, die Banalisierung und Trivialisierung von Religion bis hin zum mangelnden Respekt vor religiösen Symbolen und Praktiken gehören.

Zu einer offenen Gesellschaft gehört dabei durchaus der kontroverse Diskurs darüber, wo Grenzlinien verlaufen und wo vermeintliche Toleranz in die Missachtung anderer umschlägt, etwa in den Problem- und Grenzfällen der Blasphemie. Entscheidend für gute religiöse Praxis ist aber eben die Einsicht darin, dass die öffentliche Debatte über Religion eben auch Teil des demokratischen Gemeinwesens sein sollte. Aus diesem Grund sollte der Begriff der interreligiösen Kompetenz nicht nur für die Auseinandersetzung zwischen Religionen, sondern auch für das kritische Gespräch zwischen religiösen und säkularen bis hin zu kämpferisch atheistischen Akteuren ausgeweitet und als gesellschaftliche Lernaufgabe begriffen werden.

Wir sind nicht am Ende der menschlichen Entwicklung. Das Zusammenleben von inzwischen rund acht Milliarden Menschen unter den Herausforderungen des Klimawandels, der digitalen Transformation, des Kampfes politischer Systeme und der bisweilen konfliktiven Vielfalt von Religionen ist anspruchsvoll. Zur Überlebensaufgabe der Menschheit gehört letztlich aber auch das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Religionen auf dieser einen Erde.

Gelingt dieses, können Religionen starke zivilgesellschaftliche Akteure zugunsten eines globalen Friedens in einer global nachhaltigen Gesellschaft leisten. Die Anerkennung des Ziels „guter religiöser Praxis“ als einem 18. Nachhaltigkeitsziel der Vereinten Nationen wäre ein wesentlicher Schritt in diese Richtung.

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Posted by Ulrich Hemel