Abstract [de]: Das gute Funktionieren der staatlich eingebundenen Wirtschaft (Nationalökonomie) für die Bürger, für staatliche Stellen und für befreundete Staaten kann nicht unmittelbar den Lehrbü­chern ent­nommen oder pauschal einer weisen göttlichen Ordnung zugemutet werden. Es muss mit tausenderlei Anregungen und Erfahrungen von den wenigen Volkswirten erarbeitet wer­den, die sich mit menschli­chem Spurenlesen und Spurendeuten befassen, und die neben dem einschlägigen Gelehrtenwissen auch über ökonometrische und wirtschaftsstatistische Kennt­nisse und Fähigkeiten verfügen. Unerlässlich ist dabei zunächst eine Komplexitätsreduktion auf Makro-Modelle der Volkswirtschaft in Aggregatgrößen für beteiligte Gruppen. Dabei führt „beschränkte Rationalität“ mit stets bescheidenen Ausschnitten an „Allwissenheit“ zu alternativen und gleichermaßen bestandsfähigen Ergebnissen. Was mit lehrge­schichtlichen Etikettierungen aufgenommen wird (z. B. klassisch, keynesianisch, monetaristisch o. ä.) ist nicht zu verallgemeinern oder in die Zukunft zu projizieren. Ein turbulenter innovativer Struk­turwan­del moderner Nationalökonomien lässt vermuten, dass Stützbereiche mit langen Zeit­reihen der Vergan­genheit ihre Bedeutung verlieren. Der bislang von führenden Ökonomen praktizierte „naturwissen­schaftliche Denkstil“ könnte sich bei der Suche nach dem „wahren Modell“ erschöpft haben.


Juli 2023

Vom Modell der Wirtschaft zum Glauben an das Funktionieren?

Der Kernbestand einer Volkswirtschaftslehre ist auf das gute Funktionieren einer Nationalöko­nomie (d. h. einer staatlich eingebundenen Wirtschaft) gerichtet. Da man Abermillionen tägli­cher Transaktionen von Geld, Gütern, Arbeitsleistungen und Kapitaldiensten zwischen Millio­nen von natürlichen und juristischen Personen nicht überblicken kann, nimmt man eine Kom­plexitätsreduktion durch Gruppenbildungen (z. B. Konsumenten, Investoren, Unternehmun­gen, staatliche Stellen und ausländische Wirtschaftseinheiten) und eine Zusammenfassung (Ag­gregation) des Geschehens zu Makro-Transaktionen vor.

Die modellhafte Beschreibung des Zusammenwirkens aller in einer freiheitlichen Gesellschaft mit Marktmechanismen einerseits und Demokratiemechanismen andererseits (d. i. „Marktwirt­schaftliche Demokratie“) versucht man mit einem System von Gleichungen zu veranschauli­chen, das mit unterschiedlich datierten Variablen „dynamisch“ wird (neben zahlreichen auf t gegenwartszentrierten Variablen gibt es Rückgriffe mit „Lags“ und Vorausdatierungen mit „Leads“). Was Jugendliche in den Schulen mit zwei Gleichungen zu lösen lernen, wird in Stabs­stellen der Wirtschaft mit hunderten von Gleichungen praktiziert. Bekannt sind hierzulande QUEST der Europäischen Kommission (mit über 1.000 Gleichungen für einen Verbund von 16 Ländern) und MEMMOD der Deutschen Bundesbank mit rund 700 Gleichungen für einen Ver­bund von 9 Ländern). Das erste Deutschland-Modell von Dietrich Lüdeke (1932-2022) aus dem IAW Tübingen von 1969 hatte sich noch mit 36 Gleichungen begnügt. Geschichtliche Impulse für derlei Modellbildungen reichen auf die Gründung der „Econometric Society“ im Jahre 1930 und auf die Forschungsprogramme der „Cowles Commission“ der USA nach dem Zweiten Weltkrieg zurück.

Dem Arbeitsziel eines Dynamischen Makromodells für eine bestimmte Nationalökonomie rückt man mit einem datenorientierten Vorgehen nahe, wobei ein theorieorientiertes Vorgehen Anregungen beisteuert (so Jürgen Wolters, 1940-2015, und meine Beobachtungen). Praktisch geschieht das in Zweischritt-Einzelschätzungen mit Maurer-Technologie und mit Steinmetz-Technologie für die Einzelgleichungen (Verhaltens-, Technologie-, Institutionen-Gleichungen sowie Realdefinitionen und Schließmechanismen): Man verfolgt zunächst ein aufbauendes, an­reicherndes Vorgehen mit zu­sätzlichen Regressoren in Einzelgleichungen („Maurertechnolo­gie“), anschließend aber ein reduzierendes Vor­gehen mit verkleinertem Erklärungskern („Steinmetztechnologie“). Es ist die Anwendung bekannter statistischer Verfahren zur Variab­len-Selektion (entweder schrittweise vorwärts und/oder rückwärts) (so Ludwig von Auer, geb. 1966). Die stochastischen Störvariablen jeder Einzelgleichung sollen zweierlei erfassen: entweder die tausenderlei unbenennbaren Mitursachen oder aber ein globales Zufalls-Stampfen im Welt-Inneren. Fragwürdig ist dabei mehr denn je die Annahme einer stabilen „Maschinerie Wirtschaft“, die man mit langen Zeitreihen ausforschen könnte. Man wird sich eher auf Ein-Perioden-Theorien (zu folgern nach Wolfgang Stützel, 1925-1987, und Karl-Heinz Raabe) einlassen müssen.

„Lösbarkeit“ der Systeme für eine gesellschaftliche „Harmonie“ ist in die Systeme unauffällig mit „eingebaut“, wie das zumeist auch in den Zwei-Gleichungs-Schulaufgaben der Fall war. Rechner-Eingaben für Spezifizierungen der Viel-Gleichungs-Systeme und Maßstäbe für ihre Qualität sind die Makro-Daten der amtlichen Statistik und ihrer Volkswirtschaftsrechnungen. Bereits diese Daten sind bloße Schätzungen unbekannter Verfahren, die nicht auf fortlaufenden Vollerhebungen in den Makro-Gruppen beruhen. Nach älteren Informationen aus dem Statisti­schen Bundesamt in Wiesbaden soll man die Wachstumsraten in jeweiligen Preisen für verläss­licher halten als die Absolutwerte, wobei die Summen der Großaggregate im Nachhinein in einer Bandbreite von +/- 0,5 Prozentpunkten der Wachstumsraten zu vermuten sind.

Die zur Erklärung des Geschehens zwingend notwendigen Modelle (so Alexander G. Granberg, 1936-2010) entstehen von höherer Warte aus gesehen allesamt „unterbestimmt“, weil prinzipi­ell kein Allwissen einbezogen werden kann. In der Rückschau (ex post) werden für unterschied­liche Zeiten und Wirtschaften verschiedene Variablen-Listen für relevant genommen. So erge­ben sich unterschiedliche Gleichungssysteme zur Ausdeutung vergangenen Wirtschaftsgesche­hens. Von den Lehrbüchern aus ordnet man die Resultate in klassisch, keynesianisch, moneta­ristisch und anderes. Unterschiedliche Modelle liefern selbstverständlich unterschiedliche und oft strikt gegensätzliche Antworten auf Fragen nach Auswirkungen bestimmter staatlicher Maßnahmen. Entgegen allen wahrheitstheoretischen Erwartungen von Jack Johnston (1923-2003), Gottfried Bombach (1919-2010), Wilhelm Krelle (1916-2004) und anderen erlaubt ein und derselbe – beschränkte – Datenfundus unterschiedliche und „scheinbar relevante“ Modelle des Geschehens in gleicher Qualität. Wegen turbulenten innovativen Wandels moderner Nati­onalökonomien muss man auch von einer irreführenden „Maschinen-Annahme“ älterer nam­hafter Fachleute für ableitbare Zukunftsaussagen Abstand nehmen.

Kann man sich – wie einige vermuten – auf das bei wenigen Experten vorhandene „Tacit Know­ledge“ einlassen und verlassen? Vertieft behandelt wird diese elementar wichtige Frage für den wissenschaftlichen Stand und Bestand der Nationalökonomik in meinem neuen Buch, das bis Ende 2023 erscheinen wird (A. Wagner: Ökonomik ist keine Glaubenssache! Sozialpsycholo­gische Immunisierung in vielstimmiger Gemeinschaft, Rom und Berlin).

Posted by Adolf Wagner