Abstract [en]: World markets are not going through good times at the moment. The ethical responsibility of business is being put to the test of sustainability. In crisis situations, management often has to choose between adherence to ethical principles and profit. Hundreds of European companies have come under Russian jurisdiction. When sanctions on Russia were introduced, they had to find their own way out. Some of them preferred to opt for a hidden ownership structure, while others preferred to exit the market and minimise losses.

Abstract [de]: Die Weltmärkte machen derzeit keine guten Zeiten durch. Die ethische Verantwortung der Wirtschaft steht auf dem Prüfstand der Nachhaltigkeit. In Krisensituationen muss das Management oft zwischen der Einhaltung ethischer Regeln und dem Profit wählen. Hunderte von europäischen Unternehmen gerieten unter russische Gerichtsbarkeit. Als die Russische Föderation von einer Mauer aus Sanktionen umgeben war, mussten sie selbst einen Ausweg finden. Einige von ihnen zogen es vor, sich für ein verstecktes Eigentumsmodell zu entscheiden, andere zogen es vor, aus dem Markt auszusteigen und die Verluste zu minimieren.


Oktober 2023

Um der Falle zu entkommen

Wie europäische Unternehmen ihre Geschäfte in Russland umstrukturieren

Volkswagen. Eine belagerte Festung

Das Gebiet Kaluga liegt einhundert Kilometer von Moskau entfernt. Seit 2015 wurden im Norden und Süden der Region zwei Industriezonen eingerichtet. Der Volkswagen-Konzern hat hier ein Automobilmontagewerk errichtet und ist tief in die sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen der Region eingebunden. Die Hochschulen änderten ihre Berufsbildungsprogramme, um qualifizierte Arbeitskräfte auszubilden, und der Arbeitsmarkt war mit freien Stellen bei deutschen Unternehmen gesättigt.

Nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine und den darauf folgenden Sanktionen der Europäischen Union stand Volkswagen im Jahr 2022 vor der Aufgabe, eine Strategie für den Ausstieg aus dem russischen Geschäft zu entwickeln. Die Komplexität des Falles von Volkswagen und seinen russischen Tochtergesellschaften, GmbH „Volkswagen Group Rus“, liegt in der Verfügbarkeit von Produktionsanlagen, die durch die Sanktionspolitik in Geiselhaft genommen wurden. Die russische Regierung hat es mit Hilfe von Gesetzen unmöglich gemacht, Vermögenswerte an die Muttergesellschaft zu veräußern oder sie schnell zu verkaufen, während Konkurrenten und ehemalige Partner es vorgezogen haben, den Wertverlust der stillgelegten Unternehmen abzuwarten und die russische Gerichtsbarkeit zu nutzen. Die Strategie der lokalen Akteure ähnelte den Erwartungen an die Erstürmung der Stadt, wo der Mangel an Lebensmitteln und Wasser die Belagerten dazu zwingen würde, alle Bedingungen zu akzeptieren.

Das Schiedsverfahren „Volkswagen Group Rus“ gegen GmbH „Avtomobilny Zavod GAZ“ (Fall Nr. A43-6651/2023) liefert uns ein interessantes Beispiel. Im März 2023 reichte das russische Unternehmen aus Nischni Nowgorod eine Klage ein, weil es mit der Kündigung des Vertrags über die Montage von Fahrzeugen des Volkswagen-Konzerns im Werk Nischni Nowgorod im Jahr 2022 nicht einverstanden war. Der Kläger forderte von den Beklagten Schadensersatz in Höhe von 15,6 Milliarden Rubel (umgerechnet in Euro – 145 Millionen 580 Tausend). Das Schiedsgericht Nischni Nowgorod hat zur Sicherung der Forderung russische Vermögenswerte von Volkswagen – Anteile am genehmigten Kapital der „Volkswagen Group Rus“ sowie Immobilien und Produktionsanlagen der „Volkswagen Group Rus“ in der Region Kaluga – beschlagnahmt. Das Verfahren wurde vor dem Oberlandesgericht fortgesetzt und endete mit einer Vergleichsvereinbarung, deren Einzelheiten uns nicht bekannt sind. „Avtomobilny Zavod GAZ“ bestand darauf, dass der Streitfall unter Ausschluss der Öffentlichkeit behandelt wird.

Im April 2023 wurde eine zweite Klage gegen die „Volkswagen Group Rus eingereicht“ (Az. A43-9801/2023). Der Betrag der Forderung beläuft sich auf 28,5 Milliarden RUB (umgerechnet 485 Millionen Euro). Die Strategie von GAZ bestand darin, vorläufige Maßnahmen in Form der Beschlagnahme der verbleibenden Vermögenswerte zu ergreifen. Das Gericht lehnte dies ab.

Die dritte Runde des Verfahrens begann im Mai 2023. „Avtomobilny Zavod GAZ“ verlangte erneut Schadensersatz von den Beklagten in Höhe von 15,6 Milliarden Rubel (umgerechnet in Euro – 145 Millionen 580 Tausend) und versuchte, ein Konkursverfahren gegen die russische Tochtergesellschaft von Volkswagen einzuleiten. Das Schiedsgericht der Gebiet Nischni Nowgorod hat den Fall in nichtöffentlicher Sitzung verhandelt. Im September dieses Jahres ließ GAZ die Klage fallen.

Ein solches Verhalten der Akteure entspricht dem Alltag auf dem Markt der feindlichen Fusionen und Übernahmen. Das Ergebnis war der Erwerb des Werks der „Volkswagen Group Rus“ in der Gebiet Kaluga durch die russische Holding „Avilon“. Zurzeit wird eine Zusammenarbeit mit dem chinesischen Automobilhersteller „Chery“ organisiert. Autos aus der Volksrepublik China könnten bereits im Herbst in Kaluga vom Band laufen.

Henkel. Vermögenskonsolidierung

Die Stadt Tosno im Gebiet Leningrad liegt in der Nähe von St. Petersburg und gilt als eine Stadt der chemischen Industrie. Dies war der Standort des deutschen Unternehmens Henkel. Für das Gebiet Leningrad ist es einer der größten Arbeitgeber im Bezirkszentrum. Seit April letzten Jahres hat der deutsche Konzern eine Strategie für den Ausstieg aus russischen Vermögenswerten entwickelt. Ab dem Frühjahr 2022 könnte die Geschäftsstruktur der Henkel-Gruppe vier Unternehmen umfassen: „Rushenk“, „Henkel-Pemos“, „Henkel-Era“, „Schwarzkopf & Henkel“.

Ende Dezember 2022 gliederte Henkel sein Geschäft in Russland in die GmbH „Lab Industries“ aus, die sich im Besitz der „Lead Holding Ltd.“ mit Sitz in den Vereinigten Arabischen Emiraten befindet. Das russische Offenlegungssystem „SBIS“ listet Henkel.ru und die früheren Telefonnummern der Henkel-Büros als Kontakte auf. Derzeit hat „Lab Industries“ Vertretungen in Aserbaidschan, Usbekistan, Belarus und Kasachstan eröffnet. Diese Länder sind zu den wichtigsten Routen für Parallelimporte von Waren in die Russische Föderation und für Bankgeschäfte geworden.

Zum Zeitpunkt der Umstrukturierung versuchten kleinere Unternehmen, Henkel in Streitigkeiten über geistige Eigentumsrechte anzugreifen. Ein Beispiel ist das Schiedsverfahren von GmbH „NPF Altech“ gegen „Henkel Rus“. Der Kläger forderte 20 Millionen Rubel (umgerechnet in Euro – etwa 200 Tausend) zurück. Nach Ansicht des Gerichts setzte „Henkel Rus“ 2007-2008 die von der Klägerin entwickelten technologischen Anweisungen um, ohne jedoch ihre ausschließlichen Rechte zu verletzen (Az. A40-213047/2022).

BASF. Minimale Kosten

Tatarstan. Eine der wenigen Republiken der Russischen Föderation. Die Hauptstadt ist die Stadt Kasan. Einer der wichtigsten Kunden der deutschen BASF – der Ölraffineriekomplex von AG „TAIF-NK“ – befindet sich hier. Dieselkraftstoffadditive wurden ab 2019 an den Raffineriekomplex geliefert. Der Zusatzstoff „Keroflux“ wurde entwickelt, um den Gefrierpunkt von Dieselkraftstoff zu senken. Aufgrund der Sanktionspolitik befand sich die Tochtergesellschaft in einer schwierigen Lage. Die Zugabe von Zusatzstoffen war unmöglich.

Im November 2022 reicht AG „TAIF-NK“ eine Klage gegen GmbH „BASF“ ein, um Vertragsstrafen für die Nichtlieferung von Zusatzstoffen einzufordern und eine geschlossene Gerichtsverhandlung durchzuführen. Die BASF erhebt Widerklage auf Rückgängigmachung des Liefervertrags “wegen objektiver, nicht von der GmbH „BASF“ zu vertretender Umstände”. Das Schiedsgericht der Republik Tatarstan lehnte die Strafen ab und ordnete an, dass BASF den Zusatzstoff „Keroflux“ innerhalb von 30 Kalendertagen nach Vollstreckung des Urteils liefern muss (Fall Nr. A65-32753/2022). Im August 2023 hat die BASF Berufung eingelegt, das Verfahren läuft noch.

Schlussfolgerungen

Die oben beschriebenen Geschäftsstrategien angesichts globaler Sanktionen zeigen die Unterschiede in den ethischen Ansätzen für die Geschäftstätigkeit. Für die Veröffentlichung haben wir die Daten der staatlichen Stellen der Russischen Föderation verwendet: das Einheitliche Staatliche Register juristischer Personen und elektronische Akten der Schiedsgerichte, russische individuelle Steuernummern deutscher Repräsentanzen. Das staatliche Register der juristischen Personen kann Ihnen helfen, mehr über die Eigentumsverhältnisse zu erfahren. Die Daten der Schiedsgerichte ermöglichen eine Analyse der Verfahren, und die Quellen für die Offenlegung von Informationen ermöglichen eine Bewertung der aktuellen Situation. Der Artikel enthält nur einen kurzen Exkurs über die Situation der europäischen Unternehmen in Russland. Sie ist eine Einladung zum Dialog darüber, wie ethische Nachhaltigkeit die Wirtschaft in einer globalen Welt beeinflusst.


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Posted by Valeriy Goncharov