Dieser Beitrag ist Teil unserer Literaturecke: Dort veröffentlichen wir Kurzrezensionen und Literaturtipps unserer Mitarbeiter_innen und Verbundenen.

Anne Häseker rezensiert die Monographie von Ludger Pries.


Die Transnationalisierung der sozialen Welt.

Sozialräume jenseits von Nationalgesellschaften.

Pries, Ludger (2015). Die Transnationalisierung der sozialen Welt. Sozialräume jenseits von Nationalgesellschaften. (3. Aufl.). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Wie kann auf komplexe gesellschaftliche und globale Herausforderungen wie dem Klimawandel, der (Arbeits-)Migration oder dem internationalen Terror reagiert werden? Welche Perspektive muss eingenommen werden, um solche Prozesse und Veränderungen zu beschreiben? Mit diesen Fragen leitet Ludger Pries seine Konzeptualisierung einer ‚Transnationalisierung der sozialen Welt‘ ein (vgl. Pries, 2015, Kapitel 1) und stellt mit dieser zugleich eine Antwort darauf vor.

Die Relevanz einer neuen Perspektive auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse und globale Herausforderungen wird zunächst durch Abgrenzungen zu Idealvorstellungen der Globalisierungsthese und homogener Nationalstaaten mithilfe historischer Bezugnahmen erläutert (vgl. ebd., Kapitel 2). Dabei könne ersteres mit einer transnationalen Perspektive ergänzt werden, da die Ausbreitung und Erweiterung sozialer, ökonomischer und politischer Vorstellungen und Fortschritte zwar feststellbar seien, sich aber ungleich über den Globus verteilen. Die Idee einer progressiven Entwicklung zur Weltbürgerschaft nach der Globalisierungsthese wird daher ebenso kritisch betrachtet wie die Vorstellung eines Kosmopolitismus, wie Beck sie konzeptualisierte. Statt einer „einheitliche[n] und geradlinige[n] Entwicklung der Vergesellschaftung“ (ebd., S. 31) betont die transnationale Perspektive, dass es gerade die Vielfalt und Ausdifferenzierung der neuen Lebensweisen sei, die neuen Zusammenhang stifte (vgl. ebd., S. 42). Dabei werden Nationalstaaten nicht mehr als homogene ‚Container-Gesellschaften‘, sondern als bedeutsame Rahmung bei Entscheidungsmöglichkeiten und für die Selbst- und Fremdwahrnehmung vorgestellt (vgl. ebd., S. 36f). Zugleich warnt Pries davor, Transnationalisierung als neuen ‚Catch-all‘-Begriff ähnlich dem der Globalisierung aufzufassen und zu nutzen, da auch dieses Konzept allein keine Antworten auf die komplexen Herausforderungen geben kann (vgl. ebd., S. 46).

Allerdings wird anhand von Beispielen der Arbeitsmigration und der Alltagswelt einer transmigranten Familie sowie von Organisationen die Transnationalisierung ‚von unten‘, also anhand der Vernetzungen und Reichweite aufgrund persönlicher Entscheidungen und alltäglicher Handlungen, dargestellt (vgl. ebd., Kapitel 3). Der hier erläuterte Zuwachs grenzüberschreitender Netzwerke leitet über in die Auseinandersetzung und Verhältnisbestimmung geographischer und sozialer Räume (vgl. ebd., Kapitel 4). Mit Rekurs auf Simmel führt Pries soziale Räume über geographische Grenzen hinaus: „Das Lokale als locals oder Bühne und Verdichtung von sozial-räumlichen Beziehungen ist immer eine Verschränkung von Flächenraum-, Sozialraum- und Zeitlichkeitsraumbezügen.“ (ebd., S. 113; Hervorheb. im Original)

Durch den Anhang ‚-bezügen‘ in dem Zitat soll die Dynamik und Formation neuer Vergesellschaftungsformen auf lokaler, regionaler, nationaler und globaler Ebene betont werden. Da sich diese Ebenen überschneiden und Internationalisierung auf unterschiedliche Arten und Weisen vollziehen kann, werden im Folgenden sieben Idealtypen der Internationalisierung von Vergesellschaftung vorgestellt, von denen Transnationalisierung einer ist (vgl. ebd., Kapitel 5). Transnationalisierung wird hierbei als relationales Raumgefüge beschrieben, das sich durch ein Netzwerk alltagsweltlicher Sozialbeziehungen, soziale Positionierungen und geographische Projekte auszeichnet, wobei Identitäten, Haushaltsstrategien und Organisationsstrukturen unabhängig von geographischen Grenzen und einem bestimmten Zentrum entstehen (vgl. ebd., S. 161).

Neben der Erläuterung der Entwicklung dieses neuen Forschungsfeldes werden die Potentiale und Anwendbarkeit einer solchen Forschungsperspektive für andere (Teil-)Disziplinen vorgestellt. Es wird erläutert, dass Transnationalisierung ein breites Forschungsfeld bietet, welches die vielfältigen pluri-lokalen Wechselbeziehungen im Alltag der Menschen, von Organisationen und Institutionen aus verschiedensten Forschungsschwerpunkten und -blickwinkeln ermöglicht (vgl. ebd., Kapitel 6). Um das Forschungsfeld zu spezifizieren, werden daraufhin Analyseeinheiten für Sozialräume konzeptualisiert. Die theoretische Formulierung von Transnationalisierung wird hier erweitert mit Unterscheidungen hinsichtlich Untersuchungstypen, -aspekten, -dimensionen und -ebenen (vgl. ebd., Abb. 10, S. 236).

Damit endet die Absteckung des Forschungsfelds ‚Transnationalisierung‘ und es folgt in Kapitel 7 die Begründung, warum die transnationale Perspektive und die Internationalisierung der Vergesellschaftung mit den sieben Idealtypen eine passendere Antwort auf globale Veränderungsprozesse darstellt als die alleinstehende Globalisierungsthese. Vor allem die Zusammenfassung der Merkmale von Transnationalisierung: dynamische Einflussbeziehungen, diskursive Verhandlungsvorgänge, Aufgabenverteilung, Fokus auf einzelne Akteure bzw. Akteursgruppen, Netzwerkstruktur, Dauerhaftigkeit und Dichte der Verflechtungszusammenhänge, Grenzüberschreitung und pluri-Lokalität (vgl. ebd., 286ff.) verdeutlicht einerseits die Flexibilität und Überschreitung festgelegter geographischer Grenzen durch die Handlungen und Entscheidungen auf der Mikroebene von Einzelnen. Andererseits wird die Gebundenheit an den Raum berücksichtigt und damit die Ablehnung einer progressiven Globalisierungsvorstellung betont. Hervorgehoben wird ebenfalls, dass auch Transnationalisierung als ein Idealtyp der Internationalisierung von Vergesellschaftung gilt und in gegenseitiger Beeinflussung und auch Konkurrenz zu den anderen Formen steht. Anhand des Beispiels der Erwerbsregulierung werden daher Chancen und Herausforderungen dieser differenzierten Perspektive herausgearbeitet und erläutert. Transnationalisierung wird dabei nicht als ‚Allheilmittel‘ präsentiert, sondern grundsätzlich als neue Perspektive auf feststellbare und zunehmende Prozesse und Entscheidungen mit Betrachtung der Mikroebene (vgl. ebd., Kapitel 8).

Dennoch wird als Fazit und abschließend festgehalten, dass Transnationalisierung Möglichkeiten zur Handlungs- und Strategieerweiterung und Selbst- und Fremdverortung bietet und mit der Aushandlung von Beziehungen und Vernetzung einen Integrationsbeitrag leisten kann, da

[j]eder Einzelne […] also nicht wie ein Sandkörnchen im großen Topf der Nationalgesellschaft [ist], sondern wie ein Faden in dem komplexen Sozialgewebe der Gesellschaft, welches gerade dadurch zusammengehalten wird, dass jeder einzelne Faden mit sehr vielen anderen Fäden »verkettet« ist. (ebd., S. 43)

Wenn die Vorstellung, dass Globalisierung progressiv zu einer Weltbürgergesellschaft führen würde, abgelehnt wird, könnten allerdings transnationale Sozialräume zu einer solchen beitragen. Die Zusammenhaltung der Sozialräume geschehe durch relativ intensive Gemeinsamkeiten in den Erfahrungswelten und Daseinsweisen, die von den Menschen selbst geschaffen und zu Netzwerken verbunden werden (vgl. ebd., S. 359).
Mit dieser Arbeit knüpft Pries an vorangegangene an und sowohl das Interesse als auch die Entstehung stehen „im Zusammenhang von Forschungsarbeiten und Diskussionen seit der Mitte der neunziger Jahre“ (ebd., S. 7). Damit kann die Arbeit auf seine eigenen transnationalen Erfahrungen als Wissenschaftler zurückgeführt werden, da er seit 2001 Lehrstuhlinhaber für Soziologie/Organisation, Migration, Mitbestimmung an der Ruhr-Universität Bochum ist und u.a. zu Migration, Transnationalisierung, Arbeits- und Organisationssoziologie in Brasilien, Deutschland, Mexiko, Spanien und den USA forscht und auf Deutsch, Englisch und Spanisch veröffentlicht (vgl. CV L. Pries, Zugriff am 13. August 2016 unter http://134.147.141.194/pdf/150518_CV_deutsch_Pries.pdf, S. 1). Die Erstauflage dieser Arbeit erschien 2008; in dieser Zeit setzte er sich z.B. mit der Verbreitung und Kontextbedingungen Transnationaler Migrantenorganisationen in Europa und den Arbeits- und Partizipationsorientierungen von hochqualifizierten Angestellten und Führungskräften auseinander (vgl. CV L. Pries, S. 3f.).

Die Konzeptualisierung der ‚Transnationalisierung der sozialen Welt‘ und Internationalisierung der Vergesellschaftung kann als Weiterführung einer hohen Anzahl von Pries‘ Veröffentlichungen gesehen werden (vgl. ebd., S. 10ff.), die sich mit Transmigration und global operierenden Unternehmen und deren Veränderungen beschäftigen und auf die sich Pries hier bezieht (vgl. Pries, 2015, S. 386f.).

Der große Umfang der herangezogenen Literatur macht ein nach Kapiteln gegliedertes Literaturverzeichnis wünschenswert, da dies zur Nachvollziehbarkeit der benutzen Literatur beitragen und ein zielgerichtetes Arbeiten mit einzelnen Kapiteln unterstützten würde. Denn dies ist durch die vorhandenen ein- oder überleitenden zusammenfassenden Passagen (vgl. ebd., S. 164ff., 223ff.) möglich, die eine Auswahl nach Themenschwerpunkten erlauben und durch die Zusammenhänge ohne vorangegangene oder nachfolgende Kapitel verstanden werden können.


Ebenfalls kann die Auswahl und das Arbeiten nach Kapiteln erfolgen, da Kernpunkte der Transnationalisierungs-Perspektive wiederholt genannt werden. Diese Punkte sind erstens, dass die Vorstellung von nationalen Container-Gesellschaften nicht länger vertreten werden kann (vgl. ebd., S. 111, 116, 120f., 130, 137, 247, 358); zweitens die Warnung vor der Nutzung von Transnationalisierung als neuen ‚Catch-all‘-Begriff (vgl. ebd., S. 46, 126, 168, 223) und drittens, dass Transnationalisierung als Voraussetzung zum Weltbürgertum verstanden werden kann (vgl. ebd., S. 17, 46, 359). Diese Wiederholungen können entweder als didaktische Hilfen oder als Redundanzen gewertet werden. Beim Lesen einzelner Kapitel vermag ersteres hilfreich sein, beim Lesen der gesamten Arbeit erschien besonders der erste Punkt, die Kritik an der Vorstellung von nationalen Gesellschafts-Containern im Zusammenhang mit der Abgrenzung zur Globalisierungsthese, redundant.

Dennoch werden mit den Wiederholungen die inhaltlichen Abgrenzungen der Transnationalisierungs-Perspektive und ihre Relevanz deutlich. Dies gelingt besonders auch dadurch, dass der theoretische Rahmen um empirische Forschung ergänzt wird und damit unterschiedliche Quellen und Studien das Ziel, grenzüberschreitende Praktiken und Prozesse zu beschreiben, unterstützen. Hier ist besonders das Kapitel 3 (ebd., S. 47ff.) zu nennen, in dem die Forschungsfelder Alltagswelten und Organisationen beispielhaft aus transnationaler Perspektive betrachtet werden. Allerdings fehlt in diesem Kapitel die Auseinandersetzung mit dem Forschungsfeld ‚Institutionen‘, das neben den Alltagswelten und Organisationen auf der Mikroebene als potentielles Forschungsfeld mit aufgeführt wird. Dies fällt auf, da es in Kapitel 7.2 (vgl. ebd., S. 253ff.) zu einer inhaltlichen Wiederholung kommt und hier alle drei Felder behandelt werden. Obwohl es zu Beginn hilfreich ist, einen ersten Eindruck der unterschiedlichen Forschungsfelder Alltagswelten und Organisationen zu bekommen, folgen erst daraufhin die Aufstellung der Analyseeinheiten und die theoretische Rahmung. Daher hätte das Kapitel 3 an anderer Stelle gesetzt bzw. in den Kontext des Kapitels 7.2 eingebaut und zusammengeführt werden können. Wenn dies der Fall wäre und die theoretischen Rahmungen und Analyseeinheiten bekannt sind, dann würde z.B. die Auseinandersetzung mit dem ‚Volkswagen-Konzern als transnationale Organisation?‘ (ebd., S. 66ff.) besser einzuordnen und nachvollziehbarer sein.

Weiterhin geht mit der Einführung der ‚Transnationalisierung der sozialen Welt‘ die Vorstellung der Internationalisierung von Vergesellschaftung einher. Diese wird aber weder in der Überschrift, auf der Frontispitzseite noch in der Inhaltsangabe des Buchrückens erwähnt. Generell kann auf diesen natürlich nicht alles benannt werden, aber da Pries Transnationalisierung eben als eine Form/einen Idealtypus von Vergesellschaftung (ebd., S. 160ff.) ansieht, erscheint die Internationalisierung der Vergesellschaftung als relevant und müsste stärker zu Beginn eingeführt werden.

Zur Beantwortung der Frage, wie mit dem Konzept der Transnationalisierung bzw. der Internationalisierung von Vergesellschaftung globale Herausforderungen und gesellschaftliche Prozesse betrachtet werden können bzw. sogar müssten, erscheint eher zweites mit den sieben Idealtypen und weniger die eine Form ‚Transnationalisierung‘ von Relevanz. Denn mit der spezifischen Auseinandersetzung und Erforschung der sieben Idealtypen würden die gegenseitigen Verknüpfungen, Beeinflussungen und Konkurrenzen in den Forschungsfokus geraten und einen Perspektivwechsel darstellen, wie Pries dies bei den ‚Formen der Internationalisierung von Erwerbsregulierung‘ (ebd., S. 302ff.) exemplarisch durcharbeitet. Auch im Hinblick auf weitere Forschungsarbeiten könnte es daher interessant sein, die unterschiedlichen Formen der Internationalisierung von Vergesellschaftung genauer zu fokussieren und auf empirische Beispiele anzuwenden. Die Internationalisierung von Vergesellschaftung wird hier zugunsten der umfassenden Darstellung der speziellen Form der Transnationalisierung in ihrem Potenzial verkürzt beschrieben, obwohl sie relevante Anknüpfungspunkte für die Forschung bietet.

Mit diesem Punkt soll allerdings nicht negiert werden, dass die ‚Transnationalisierung der sozialen Welt‘ als nachvollziehbare und fundierte Arbeit angesehen wird, die zur Auseinandersetzung mit sozial-geographischen Räumen und deren Überschreitungen anregt. Sie trägt zur Diskussion über Alternativen der Globalisierungsthese bei und schafft eine Gelegenheit, grenzüberschreitende Netzwerke auf der Mikroebene zu betrachten. Gerade die Erforschung alltäglicher und persönlicher Erfahrungen zeigt, dass hier keine rein abstrakte Theorie aufgestellt wird.


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Posted by Anne Häseker

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