Abstract [en]: What is understood by ‘justice’ is no only subject to socio-historical conditions, but also includes in central position the question of subjective feelings about and evaluations of ‘justice’. With the help of the distinction between four kinds of ‘justice’ – equality of opportunity, along performance, along needs or generational ‘justice’ – this is discussed along the example of ‘heiring’ and set into a larger social framework. Since the various dimensions of justice may contradict each other, setting one absolute endangers civil society actors opportunities for understanding and cooperation. Plea of this text therefore is for a concrete critical and transparent discourse on justice – especially on the basis of (subjective) feelings and ideas of justice. This seems particularly important in times of combating the COVID-19 (Corona) pandemic and the linked demand and necessity of ‘social cohesion’.
Keywords: justice, sense if justice, status quo bias
Abstract [de]: Das, was unter ‚Gerechtigkeit‘ verstanden wird, unterliegt nicht nur sozio-historischen Bedingungen, sondern stellt die Frage nach subjektiven Empfindungen und Bewertungen zentral. Mithilfe der Unterscheidung der Chancen-, Leistungs-, Bedarfs- und Generationengerechtigkeit wird dies anhand von ‚Erben‘ exemplarisch diskutiert und auf einen größeren gesellschaftlichen Rahmen übertragen. Da sich die verschiedenen Gerechtigkeits-Dimensionen widersprechen können, gehen durch das Absolutsetzen einer einzigen Gerechtigkeits-Dimension Möglichkeiten der Verständigung und Kooperation von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen verloren. Plädiert wird daher für einen jeweils konkreten kritischen, aber zugleich transparenten Diskurs über Gerechtigkeit – insbesondere auf Basis von (subjektiven) Gerechtigkeitsempfindungen und -vorstellungen. Dies erscheint in Zeiten der Bekämpfung der COVID-19-(Corona)-Pandemie und der verbundenen Forderung sowie Notwendigkeit des ‚gesellschaftlichen Zusammenhaltens‘ derzeit besonders wichtig.
Schlagwörter: Gerechtigkeit, Gerechtigkeitsempfinden, Status-Quo-Bias
November 2020
Gefühlte Gerechtigkeit
Gerechtigkeit(sempfinden) als Herausforderung für zivilgesellschaftliche Kooperation
- Einleitend – Beschäftigungen mit ‘Gerechtigkeit’
- Dimensionen der Gerechtigkeit und Gerechtigkeitsempfinden
- ‚Erben‘ als Gerechtigskeitsfrage
- Zur Gleichsetzung von Gleichheit und Gerechtigkeit
- Der Status Quo als Legitimierung von Ungerechtigkeit?
- Dimensionenüberschneidungen zur Legitimierung der Pandemiebekämpfung
- Plädoyer für ein Diskurs über Gerechtigkeitsempfindungen
- Literatur
Einleitend – Beschäftigungen mit ‚Gerechtigkeit‘
Die theoretische oder philosophische Beschäftigung mit Gerechtigkeit hat eine lange Tradition und zu höchst unterschiedlichen Ansätzen und Theorien geführt. Zugleich jedoch gibt es subjektive und kollektive Vorstellungen von Gerechtigkeit – ein Gerechtigkeitsempfinden. Dies externalisiert sich in alltäglichen Situationen wie der Frage, ob ein Verhalten ‚fair‘/‘gerecht‘ war, ob eine bestimmte Erfahrung ‚gerecht‘ oder ob beim Sport ‚fair play‘ befolgt wurde. All dies aber ist dabei höchst subjektiv überprägt und seltenst kodifiziert. Und selbst wenn es Kodifizierungen gibt – seien es Gesetze oder Spielregeln – setzen diese stets nur den Rahmen für notwendige folgende Aushandlungsprozesse.
Hier kann und werde ich nun nicht die unterschiedlichsten Gerechtigkeitstheorien und -philosophien diskutieren oder vorstellen. Zugleich jedoch bedarf es einer Grundlage für die kommende Diskussion. Diese will ich schaffen mit der Wiedergabe einer Art Basismodell von Gerechtigkeit und Gerechtigkeitsempfinden, eines Modells, welches auch letzteres berücksichtigt und weniger auf abstrakte Gerechtigkeit vor allem anderen abhebt, und mit einem alltäglichen – fiktiven – Beispiel der zugehörigen Herausforderung. Zunächst zum Modell, hier der vier Dimensionen ‚sozialer Gerechtigkeit‘ nach den Begriffen von Becker und Hauser (2009):
Dimensionen der Gerechtigkeit und Gerechtigkeitsempfinden
Gerade mit Bezug auf ‚soziale Gerechtigkeit‘ werden unterschiedliche Dimensionen der Gerechtigkeit unterschieden. Doch lassen sich diese auf höchst verschiedene Gerechtigkeitsfelder und -fragen übertragen. Nun gibt es dazu wiederum unterschiedliche Namensgebungen und unterschiedliche Abgrenzungen. Hier soll nun nicht eine neue Dimensionierung vorgenommen werden, und auch nicht durch Referenz ‚die‘ passendste Darstellung hervorgehoben werden. Vielmehr soll hier exemplarisch eine Dimensionierung vorgestellt werden, anhand derer sich Herausforderungen gerade für Gerechtigkeitsempfinden nachvollziehen lassen, ohne zu schreiben oder zu reklamieren, ob nicht andere Dimensionen geeigneter wären.
Eine Dimension dabei ist die Chancengerechtigkeit. Sehr vereinfacht meint dies in einer Welt ungleicher Chancen diese Ungleichheit aktiv auszugleichen – dies umfasst Maßnahmen wie Quotenregelungen, bestimmte Förderangebote oder auch differenzierte Voraussetzungen für Zugänge, etwa in Reaktion auf intersektionelle Diskriminierungsformen. Dem entgegen steht aber empfunden immer wieder eine Leistungsgerechtigkeit. Vereinfacht steht diese für Forderungen wie „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. Zum einen ist dies keineswegs gesellschaftlich erfüllt, und zwar nirgends auf der Welt, wenn es auch Unterschiede der relativen Verwirklichung gibt. Zum anderen steht diese Forderung einer Chancengerechtigkeit entgegen: Wenn ich das gleiche – oder empfunden sogar mehr – liefere, wieso wird mir eine Person im Rahmen eines Nachteilausgleichs vorgezogen?
Beide Dimensionen können sich also fundamental widersprechen und zu divergierendem Gerechtigkeitsempfinden führen. Gewissermaßen dazwischen zu vermitteln sucht eine Bedarfsgerechtigkeit. Doch hier ist die empfundene Grenze oftmals spätestens dann erreicht, wenn Grundbedürfnisse abgedeckt sind, oder dies zumindest von außen so zugeschrieben wird – spätestens dann stehen dem wieder Leistungsgerechtigkeit aber auch Chancengerechtigkeit (oder das zugehörige Empfinden) entgegen, denn wenn es doch einen Nachteilsausgleich gibt, wieso sollten dann mehr als Grundbedürfnisse erfüllt werden?
Zuletzt wird immer wieder auch eine Dimension der Generationengerechtigkeit aufgemacht, die ähnliche Widersprüche spiegelt: Einschränkungen werden dabei unterschiedlich als gerecht empfunden, und zudem werden Rechnungen aufgemacht, die zu verrechnen versuchen, was nicht verrechenbar ist, beispielsweise monetären Wohlstand – auch im Sinne des ‚Hinterlassens‘ – und Umweltbelastungen, die ebenfalls hinterlassen werden. (vgl. Becker & Hauser 2009)
‚Erben‘ als Gerechtigskeitsfrage
Nun – diese Dimensionierung ist nicht der Weisheit letzter Schluss, sie hat ihre Grenzen und gibt nur einen kurzen Einblick in zugehörige Diskussionen, die dabei auch nochmal massiv disziplinär vorgeprägt sind. Dennoch soll dies als Hinleitung hier ausreichen für die exemplifizierende Verstärkung der Problemkonstellationen rund um Gerechtigkeit und Gerechtigkeitsempfinden:
Nehmen wir die Wohnstätte des Autors* – Deutschland – dann ist eine private Frage mit Bezug auf Gerechtigkeit oftmals eine, die sich im Kontext des Erbens materialisiert. Der Umfang, um den es dabei geht, ist höchst unterschiedlich. Doch nehmen wir um des Beispiels willen an, die potentiell Vererbenden – ergo die Eltern – haben ein abgezahltes Haus und noch einen eigene Wohnung, deren Mieteinnahmen sie für ihre Alterssicherung veranschlagen. Zudem mögen sie drei Kinder haben. Nun sucht eines dieser Kinder genau dort eine Wohnung, wo die Eigentumswohnung der Eltern liegt, möchte diese aber nicht dauerhaft mieten, sondern kaufen. Die Eltern konsultieren ihre anderen beiden Kinder, ob es in Ordnung wäre, diese Wohnung nun dem einen Kind zu verkaufen.
Eine mögliche Gerechtigkeitsempfindung dabei ist: Nein. Und warum? Nun, weil sich die potentielle Erbmasse dadurch verändert, statt eines Hauses und einer Wohnung, vielleicht in sehr guter Lage, wird am Ende nur ein Haus vererbt. Dies kann einer konstruierten Leistungs- aber auch Chancengerechtigkeit widersprechen – warum darf ein Kind diese Wohnung übernehmen und die anderen erben dadurch potentiell weniger. Zugleich aber sagt Bedarfsgerechtigkeit hier: Klar geht dies in Ordnung, wenn ein Kind Bedarf hat, und die anderen dadurch keinen direkten Nachteil – denn es geht um ein potentielles Erbe – ist dieser Verkauf nicht nur in Ordnung, sondern gerecht (optimal dann so geregelt, dass dennoch eine Art Alterssicherung gewährleistet ist, beispielsweise durch etwas wie eine Leibrente). Sind vielleicht die anderen beiden Kinder sowieso wohlhabender, haben beispielsweise bereits ein Eigenheim, und das kaufinteressierte Kind hatte Nachteile – und zwar egal ob verschuldet oder unverschuldet, von allen als solche gesehen oder nicht – und sei es einen gesellschaftlich weniger monetär ‚lohnenswerten‘ Beruf zu haben oder eine sehr lange Ausbildungszeit – dann spricht auch Chancengerechtigkeit für einen solchen Verkauf.
Eine nochmal neue Sichtweise bietet dabei Generationengerechtigkeit. Zum einen hilft diese Perspektive zu verstehen, dass Gerechtigkeitsempfindungen mit Bezug auf potentielle Erbschaften stets problematisch sind. Denn ein Erbe ist solange nur potentiell, wie der Erbfall nicht eingetreten ist. Bis dahin können die Vererbenden über das potentielle Erbe frei verfügen (oder müssen dies sogar für einen Pflegefall oder ähnliches aufbrauchen), und eben auch Ungleichheit unter den eigenen Kindern schaffen. Dies spricht gegen Leistungsgerechtigkeit, es kann auch gegen Chancengerechtigkeit sprechen, aber durchaus mit Generationengerechtigkeit oder Bedarfsgerechtigkeitd’accord gehen. Wird das potentielle Erbe allerdings genutzt, auch noch ‚mal eben‘ das letzte Wäldchen der Gegend abzuholzen, gibt es wieder einen Widerspruch zu einem Teil der Konstruktion einer Generationengerechtigkeit.
Und auf die Gesellschaft bezogen mag das Vererben von Haus und vielleicht Wohnung an drei Personen nur begrenzte Gerechtigkeitsfragen aufwerfen – spätestens aber wenn es um mehr geht, ist Vererben auch immer eine Gerechtigkeitsfrage für die Gesamtgesellschaft, da Ungleichheit so perpetuiert und (mindestens potentiell) verstärkt wird. Dann kann die aktive Minderung eines potentiellen Erbes beispielweise durch karitative Ausgaben zu Lebzeiten durchaus bedarfs-, chancen- und generationgerecht sein. (vgl. zum letzten Punkt etwa Haan 2020)[1] Abstrakt gedacht gibt es also Gerechtigkeitsargumente für jedes entsprechende Handeln. Ganz konkret jedoch müssen hier Abwägungen getroffen werden, die auch nach Betroffenheit unterscheiden. Und dabei sind die freie Verfügung der potentiell Vererbenden über nur potentielles Erbe oder der individuelle Bedarf höher zu rechnen, als eine empfundene Leistungsungerechtigkeit.
Zur Gleichsetzung von Gleichheit und Gerechtigkeit
Es sollte deutlich geworden sein: was als gerecht empfunden wird, ist nicht gleichzusetzen mit theoretischen oder auch lebenspraktischen Gerechtigkeitsdiskursen. Dahinter steckt vielfach auch ein Problem des Aufrechnens. Denn Gleichheit und Gerechtigkeit sind eben nicht identisch. Dies leuchtet den meisten ganz allgemein schnell ein – so gibt zwar große Zustimmung für Nachteilsausgleichsmaßnahmen zur Unterstützung von mehr Gleichheit, oder auch die gesamtgesellschaftliche Befriedigung von Grundbedürfnissen, aber kaum wird die absolute Gleichheit gefordert. Auch die allermeisten Befürworter*innen eines ‚bedingungslosen Grundeinkommens‘ meinen damit nicht, dass über diesen Betrag hinaus nicht zusätzliche Verdienste (und damit monetäre Ungleichheit) möglich sein sollten. Es gilt für die allermeisten: Chancengleichheit ja, aber bitte auch Leistungsgerechtigkeit.
Auf das Beispiel der Erbschaft reflektiert meint dies: Keineswegs ist es ausgemachte Gerechtigkeit, wenn alle drei Kinder denselben monetären Betrag erben. Und dennoch wird in solchen Konstellationen immer wieder Gerechtigkeit mit Gleichheit gleichgesetzt, wenn dies auch in anderen abgelehnt wird. Dass liegt auch daran, dass es keine mathematische Gleichung gibt, die sagt was denn stattdessen gerecht wäre. Es kann keine allgemeingültige Gleichung sein, die eigene Kinder zum ‚Bedarf‘ addiert und monetäres Vermögen davon abzieht. Zudem kann eine solche abstrakte Gleichung wenn immer nur temporal fixiert aufgemacht werden.
Was bleibt also zum Erreichen von Gerechtigkeit: Aushandlungsprozesse. Denn genauso wie es konstruiert gerecht sein kann, wenn Eltern ihr potentielles Erbe vollständig selber verbrauchen, kann es gerecht sein, höchst unterschiedlich zu vererben, und eben zu entscheiden, dass es einen Unterschied macht, die zehnte Wohnung zu erben oder durch eine Eigentumswohnung aus einer Dauerschleifenverschuldung auszubrechen. Nochmal anders: Gleichheit ist eine gesellschaftliche Basis, Gleichheit bei Chancen oder auch Gleichheit bei der juristischen Behandlung. Dies ist ein Grundwert und ein Grundrecht. Dies ist aber eben kein Widerspruch zu Maßnahmen positiver Diskriminierung, denn einerseits muss Gleichheit teilweise hergestellt werden und andererseits ist rein numerische Gleichheit nicht immer auch gerecht. (vgl. dazu etwa Koller 1995)
Der Status Quo als Legitimierung von Ungerechtigkeit?
Problematisch an solchen Erkenntnissen ist jedoch, dass hier ein Bruch zum Gerechtigkeitsempfinden auftreten kann. Mathematische Ungleichheit wird halt keineswegs ‚einfach‘ als ‚gerecht‘ empfunden. Genauso wie Privilegien seltenst kampflos aufgegeben werden, wird numerische Ungleichheit zumeist umgehend bekämpft. Und dabei wird oftmals zusätzlich problematischerweise der Status Quo zum indifferenten Hintergrund konstruiert und so argumentatorisch möglichst ignoriert. Dies stellt einen klaren – und mit Bezug auf (empfundene) Gerechtigkeit als Frage problematischen Status-Quo-Bias dar. Ein solches Vorgehen zeigt sich dabei in den unterschiedlichsten Diskriminierungsfeldern. Wenn white privilege unbeachtet bleibt als gesellschaftliche Grundkonstante, dann wird affirmativ action als ‚nicht gerecht‘ empfunden, und wenn der weiterhin vorherrschende männliche* cis-Heteronormativität bevorteilende Sexismus schlicht als ‚gegeben‘ gesetzt wird, dann ist eine Frauen*quote empfundenerweise ‚nicht gerecht‘. Wenn in der konstruierten Erbsituation also nicht bedacht wird, dass weder die drei potentiell erbenden Kinder im Status Quo ungleich sind noch bei den Eltern im Entscheidungsmoment ebenfalls ein Status Quo jegliche Entscheidung mitbeeinflusst, dann bleibt das verbreitete Empfinden numerische Gleichheit sei absolute Gerechtigkeit. Dies könnte als eine Art Fetisch der Leistungsgerechtigkeit übersetzt werden. Hingegen ist real existierende Ungleichheit genauso zu reflektieren wie bei jeder Absolutsetzung eines Werts – Fairness als numerische Gleichheit etwa – umgehend kritisches Denken einsetzen sollte.
In diesem Sinne ist ein entsprechendes Gerechtigkeitsempfinden eine Herausforderung für Antidiskriminierungsmaßnahmen. Zugleich ist ein solches Empfinden keine anthropologische Grundkonstante. Nur eine Gerechtigkeitsdimension zu betonten ist kein menschliches ‚Muss‘, sondern wird gelernt und sozialisiert. In einer Gesellschaft, die Narrativen folgt wie ‚jede*r ist seines*ihres Glückes Schmied*in‘ oder ‚wenn du willst, kannst du alles schaffen‘ ‚muss‘ Bedarfsgerechtigkeit stark begrenzt werden. Und wenn verfassungsrechtlich abgesichert ist, dass es Grenzen der Besteuerung geben muss, dann folgt daraus, dass unter anderem Chancengerechtigkeit eben Grenzen kennen, und stets Leistungsgerechtigkeit mindestens mit fokal sein muss. Ich werde hier nun nicht diskutierten, ob solche Narrative ‚gerecht‘ sind, ob solche verfassungsrechtlichen Entscheide beispielsweise Generationengerechtigkeit abdecken – auch wenn dies ein wichtiger Diskurs wäre und sich zumindest eine Gerechtigkeitsproblematik hier zeigt –, sondern mir geht es hier darum zu zeigen, dass Gerechtigkeitsempfinden gesellschaftlich bedingt, und damit eben auch veränderbar ist. Wie manche intersektionelle Diskriminierung erst langsam als ‚ungerecht‘ und Gegenmaßnahmen als ‚gerecht‘ empfunden werden, kann auch ungleiches Erben als ‚gerecht‘ erlernt werden (oder auch die Begrenzung des Vererbens, oder des Eigentums, oder….). (vgl. dazu u.a. Bundesverfassungsgericht 2006 & Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Chancengleichheit der Europäischen Kommission 2007)
Dimensionenüberschneidungen zur Legitimierung der Pandemiebekämpfung
Entsprechende Erkenntnisse lassen sich dabei deutlich auf die aktuelle Situation des Herbstes 2020 übertragen – und zwar nicht nur auf Deutschland, auch wenn dies hier die gewählte Kontrastfolie ist, sondern weit darüber hinaus. Im Rahmen der SARS-CoV-2-Pandemie wird immer wieder gerne das Narrativ der ‚gemeinsamen Kraftanstrengung‘ genutzt und propagiert. Die Wortwahl dabei unterscheidet sich, die Botschaft weniger – nur gemeinsam könne ein Umgang mit der Pandemie erreicht werden. Zugleich werden die zugehörigen Maßnahmen keineswegs allumfassend als gerecht empfunden, und dies gilt nicht nur für Deutschland. Ein Ansatz dagegen ist es, Entscheidungen als ‚wissenschaftlich‘ und ‚rational‘ zu deklarieren, damit sich so ein entsprechendes Gerechtigkeitsempfinden einstellen möge. Jedoch bedarf es dabei immer nur des einen Gegenbeispiels, der Suche nach der Lücke in der Argumentation, der Gegenstudie, um das aufgebaute Bild der ‚Gerechtigkeit‘ von Maßnahmen im Sinne deren Rechtfertigung als ‚wissenschaftliche Rationalität‘ ins Wanken zu bringen. (Und seltenst gibt es in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen keine diskursiven Gegenstimmen.) Daher gibt es einen weiteren Ansatz zur Akzeptanzsteigerung von Maßnahmen, und zwar das Gerechtigkeitsempfinden direkt zu adressieren.
Sinnbildlich mag dafür Angela Merkel auf der Bundespressekonferenz am 02.11.2020 stehen, als sie erklärte: „Wenn einer sagt, wenn wir schon leiden müssen, dann alle, dann kann man das machen. Aber es wäre die Möglichkeit, die uns allen viel schwerer fällt und die viel teurer ist.” Explizit wendete sie sich damit gegen die Forderung nach absoluter Gleichheit, denn diese könne für sie nur heißen: alles wird geschlossen oder alles bleibt offen (mit Bezug auf die Frage, was zur Pandemiebekämpfung staatlich geschlossen werden sollte). Dazu Merkel: „Das wäre scheinbar das Gerechteste, aber vielleicht nicht das Lebenspraktischste“ (Zitate nach Fried 2020).
Ich möchte und werde hier nicht so weit gehen, von einem Paradigmenwechsel zu schreiben, dennoch stellt eine solche Position mindestens eine Erweiterung jener dar, dass sich Gerechtigkeit (auch als Empfindung) durch ‚absolute Rationalität‘ (gerne problematisch deklariert als ‚Wissenschaftlichkeit‘) von Entscheidungen ergebe. Vielmehr wurde hier indirekt im Sinne der Berücksichtigung sowohl von Chancen-, Bedarfs- und Generationengerechtigkeit argumentiert. Dies erkennt an, dass gleiche Maßnahmen eben nicht für alle die gleichen Folgen haben, sondern Unterschiede des Status Quo Einfluss darauf haben, welche Auswirkungen (hier: politische) Entscheidungen haben. Anders formuliert: Den ÖPNV zu schließen trifft genauso wenig alle, wie den Apple-Store oder die Oper zu schließen. Potentiell ist dies jedoch durchaus der Fall – analog zum potentiellen Erbe – jede*r könnte in die Oper, ein Apple-Produkt im Store kaufen oder den ÖPNV nutzen wollen. Alles oder nichts wäre dann Gleichheit als Gerechtigkeit – alles zu, oder alles auf. Aber dies geht am Bedarf oder auch Chancen vorbei – wer ohne Auto lebt braucht eher den ÖPNV, wer keine Oper nahe hat, oder kein Interesse an einer Oper, den trifft eine Schließung dieser weniger. Gerechtigkeit eben auch als Chancen-, Bedarfs- und Generationengerechtigkeit zu denken, versucht diese Unterschiede zu berücksichtigen.
Dem entgegen steht jedoch wiederum das auch von Merkel indirekt adressierte Empfinden Gerechtigkeit sei Gleichheit. In der Praxis jedoch ist mehr als deutlich, dass gleiche Maßnahmen für alle keine Lösung sein können. Unterschiedliche Erhebungen zeigen, dass die Pandemie sozial stratifiziert die Menschen trifft, insbesondere in Ländern hoher Ungleichheit. Nochmals deutlicher zeigt sich dies bei schweren Krankheitsverläufen oder Todesfällen. Dahinter stehen unterschiedliche Muster, so unterschiedliche Beschäftigungsverhältnisse, wie eine überproportionale Beschäftigung im informellen Sektor bestimmter Menschen, aber auch alle Formen intersektioneller Diskriminierung, vom Rassismus über Ableismus, also die Diskriminierung entlang von Disability, zum Sexismus. In einigen Ländern der Amerikas war die Devise, möglichst alles zu schließen – und es starben die Ärmsten und anderweitig Diskriminierten – in Teilen der USA hieß es eher möglichst viel geöffnet zu halten und wenig einzuschränken – und es starben die Ärmsten und anderweitig Diskriminierten. (vgl. Centers for Disease Control and Prevention 2020 & Reperger 2020)
Plädoyer für ein Diskurs über Gerechtigkeitsempfindungen
Genau deshalb ist es notwendig, politische Maßnahmen vor dem Hintergrund eines komplexen Gerechtigkeitsverständnisses zu treffen, sie entlang eines solchen zu überprüfen, aber auch, sie entsprechend zu kommunizieren. In den Worten Ulrich Hemels bedarf es eines ‚Ringen im Dialog‘. Dafür aber muss Gerechtigkeitsempfinden zu einem Thema werden. Und dies heißt nicht primär offen zuzugeben „Ich weiß dies empfinden Sie als ungerecht“ – auch wenn dies sicherlich ein wichtiger Schritt ist –, sondern primär einen Diskurs zum Empfinden von Gerechtigkeit zuzulassen. Dies ist dabei aber nur möglich, wenn auch über Unterschiede des Status Quo gesprochen wird und diese Unterschiede kritisch hinterfragt werden.
Im Sinne eines Bogenschlags zum Erben als Beispiel also die Frage zu stellen, ob es gerecht sein kann, gesellschaftliche Ungleichheit über Erben zu perpetuieren oder gar zu potenzieren. Unter einem unterschiedlichen Gerechtigkeitsempfinden leidet dabei nicht nur Politik, sowohl im Rahmen der Rechtfertigung von Maßnahmen als auch mit Bezug auf deren Design, sondern auch zivilgesellschaftliche Kooperation. Wenn gemeinsames Handeln als Grundlage zivilgesellschaftlichen Handelns verstanden wird, ganz deutlich auch im Rahmen einer Globalen Zivilgesellschaft, dann müssen Hürden dieses angegangen werden. Die auch zivilgesellschaftlich notwendige ‚gemeinsame Kraftanstrengung‘ leidet oder scheitert gar, wenn Handlungen, aber auch Akteur*innenpositionen als ungerecht empfunden werden. Dass eine ‚westliche‘ NGO international die Pressearbeit für ein lokales Projekt etwa in Bolivien übernimmt, kann als ungerecht empfunden werden, sogar das eigentliche Anliegen diskreditieren. Die ‚richtige‘ weil vielleicht ‚einfache‘ Lösung ist dann aber nicht immer auf lokale Kommunikation zu setzen – und dies nicht nur um zugehörige Bilder ‚unberührter Natur‘ als eine potentielle Kommunikationskonstante nicht durch notwendige Satellitenschüsseln oder Solarpanele in der ‚Natur‘ zu zerstören (vgl. dazu etwa Gondecki 2015). Vielmehr sind auch hier Abwägungsprozesse notwendig, die mal die eine Lösung, mal die andere, und oft etwas dazwischen zum Resultat haben. Immer noch werden die Entscheidungen dann nicht alle als ‚gerecht‘ empfinden, aber eine offene, transparente und auch kommunizierte Abwägung erlaubt zumindest entgegengesetztes Empfinden einzufangen, es offen zu adressieren.
Ist dies die Patentlösung? Nein – keineswegs. Eine solche wird und kann es gar nicht geben. Aber Kooperation bedarf einer Bereitschaft dazu. Und wie Erbschaften zu Familienstreits führen können, wenn nicht offen unterschiedliche Gerechtigkeitsempfindungen thematisiert werden, und alle sich bereit zeigen eine Absolutsetzung ihrer Position oder einer Dimension zu überkommen, so kann der Nicht-Diskurs über Empfindungen von Gerechtigkeit jegliche Kooperation untergraben. Dies gilt politisch, unternehmerisch oder eben auch zivilgesellschaftlich.
Ist es also ‚gerecht‘, wenn heute in verschiedenen Ländern unterschiedliche Pandemiebekämpfungsstrategien gefahren werden? Per se sicherlich nicht. Aber darum geht es auch nicht. Entsprechende Maßnahmen und Strategien können jeweils lokal, regional, national oder transnational jedoch durchaus als gerecht empfunden werden, wenn ein zugehöriger Diskurs erlaubt wird. Entscheidungen haben eine jeweils eigene Rationalität, und sei dies die Rationalität des Kopf-oder-Zahl. Gerade deshalb ist eine Rede von ‚Alternativlosigkeit‘ dabei so gefährlich, verdeckt sie doch die hintergründige Rationalität und verabsolutiert diese so als konstruierte ‚Norm(alität)‘. Und die diskursive Schließung der jeweiligen Rationalität führt (unter anderem) zu einem Empfinden von Nicht-Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit. (vgl. dazu etwa Séville 2016) Dies wiederum unterminiert Teilhabe, Mitwirken oder Kooperation. Gerechtigkeitsempfinden ist also eine Herausforderung für Politik, aber eben auch für zivilgesellschaftliche Kooperationen. Eine Handlungsstarke (Globale) Zivilgesellschaft – wie auch eine demokratisch sich legitimierende Politik – muss dies thematisieren. Dies wird nicht alle dazu bringen, konkrete Entscheidungen als ‚gerecht‘ abzustempeln, aber doch nach und nach dafür zu sensibilisieren, dass Gerechtigkeit alles ist, nur nicht eine einfache mathematische Gleichung an deren Ende absolute Gleichheit steht.
Ja, dies ist ein Plädoyer für mehr Transparenz, für mehr Diskussionen, für mehr Erklären, und nein, dies ist kein Plädoyer gegen Entscheidungen oder gegen den politischen wie zivilgesellschaftlichen Umgang mit einer Pandemie. Sondern es geht um notwendige Relativierungen und Problematisierungen, die Hinterfragbarkeit ermöglichen und zugleich einen diskursiven Rahmen geben. Wir sollten (und können) nicht alle Gerechtigkeit gleich empfinden – dagegen stehen schon Unterschiede im Status Quo, im subjektiven Mensch-Sein – aber wir müssen entsprechende Unterschiede thematisieren und stets neu verhandeln, ohne eine Absolutsetzung zu erlauben. Nur dann kann es eine lebendige, und im kooperativen Wirken starke Gesellschaft auf der Basis einer starken und global verbundenen Zivilgesellschaft geben.
LITERATUR (Auswahl)
Becker, Irene & Hauser, Richard (2009). Soziale Gerechtigkeit – ein magisches Viereck. Berlin: Edition Sigma.
Bundesverfassungsgericht. „Tarifbegrenzung für gewerbliche Einkünfte bei der Einkommenssteuer verfassungsgemäß“. In: Pressemitteilungen, 65-2006 (13.07.2006). URL: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2006/bvg06-065.html (letzte Überprüfung: 03.11.2020).
Centers for Disease Control and Prevention. „COVID-19 Hospitailzation and Death by Race/Ethnicity.” In: CDC. 18.08.2020. URL: www.cdc.gov/coronavirus/2019-ncov/covid-data/investigations-discovery/hospitalization-death-by-race-ethnicity.html (letzte Überprüfung: 30.10.2020).
Fried, Nico. „Merkels Theorie der Gerechtigkeit“. In: Süddeutsche Zeitung, 02.11.2020. URL: https://www.sueddeutsche.de/politik/merkel-corona-1.5102646 (letzte Überprüfung: 03.11.2020).
Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Chancengleichheit der Europäischen Kommission (2007). Bekämpfung von Mehrfachdiskriminierung. Praktiken, Politikstrategien und Rechtsvorschriften. Luxemburg: Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften.
Gondecki, Philip (2015). Wir verteidigen unseren Wald. Vom lokalen Widerstand zum globalen Medienaktivismus der Waorani im Konflikt zwischen Erdölförderung und Umweltschutz im Yasuni im ecuadorianischen Amazonastiefland. Bonn: Universitäts- und Landesbibliothek Bonn.
Haan, Yannick. „Enterbt uns doch endlich!“. In: Taz, 02.02.2020. URL: https://taz.de/Soziale-Ungleichheit/!5657285/ (letzte Überprüfung: 03.11.2020).
Koller, Peter. „Soziale Gleichheit und Gerechtigkeit“. In: Müller, Hans-Peter & Wegener, Bernd (Hrsg.). Soziale Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit. Wiesbaden: Springer, 53-79.
Reperger, Simone. „Lieber Corona als Hungertod.“ In: FES Referat Lateinamerika und Karibik, 27.07.2020. URL: www.fes.de/referat-lateinamerika-und-karibik/artikelseite-lateinamerika-und-karibik/lieber-corona-als-hungertod(letzte Überprüfung: 22.10.2020).
Séville, Astrid (2016). Sachzwang und Alternativlosigkeit. Eine politische Anamnese. München, LMU.
[1] Ganz in diesem Sinne wird auch eine Besteuerung von Vererben als höchst unterschiedlich ‚gerecht‘ empfunden, wird doch kritisch angemerkt – und als ‚ungerecht‘ empfunden –, dass bereits besteuertes Einkommen als Erbe nochmal besteuert wird, andererseits wird ja für ein Erbe nichts ‚getan‘, so dass eine Besteuerung als ‚gerecht‘ empfunden werden kann.
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