Abstract [en]:
The aim of the following work is to discuss the impact of recent city planning politics on neighbourhoods in Rio de Janeiro. Starting with the question of the role that neighbourhood can play as a resource for its inhabitants, it discusses the case of the communidade Vila Autódromo and its resistance against the construction works for the olympic village. The olympic summer games, as the second big sportevent within two years, have a huge impact on the construction and urban planning in the city. These activities mostly affect poor neighbourhoods, whose inhabitants are often moved to far away social housing projects or simply displaced.
The Vila Autódromo in the south eastern part of the city is located on the area which is developed as the olympic village and as speculative building land. The inhabitants resist the evictions, a central element in their resistance are the social networks tied to the place. The activation of the civil society to preserve their neighbourhood enables the inhabitants to take part in the fight for space in the city.
Abstract [de]:
Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es die Auswirkungen der derzeitgen Stadtentwicklungspolitik der Meteropolregion Rio de Janeiro auf Quartiersebene zu diskutieren. Ausgehend von der Fragestellung, welche Funktion das Quartier als Ressource einnehmen kann, behandelt die Arbeit den Fall der Communidade Vila Autódromo und ihren Widerstand gegen die Baumaßnahmen für den Olympiastandort. Die olympischen Sommerspiele als zweites sportliches Megaevent innerhalb von zwei Jahren haben große Auswirkungen auf die Bautätigkeiten und die städtebaulichen Eingriffe in der Metropole. Diese treffen vor allem die ärmere Bevölkerung, die oftmals in räumlich entfernte Gebiete des sozialen Wohnungsbaus umgesiedelt oder schlicht verdrängt werden.
Die Vila Autódromo im Südosten der Stadt liegt auf dem Gelände welches für den Olympiastandort und danach für den spekulativen Wohnungsmarkt entwickelt werden soll. Die Bewohner_innen leisten gegen die Räumung Widerstand, als zentrales Kapital dient ihnen hierbei die an den Ort gebundenen sozialen Netzwerke. Die Aktivierung der Zivilgesellschaft zur Erhaltung ihres Quartiers ermöglicht den Bewohner_innen im Kampf um den Raum zu bestehen.
Mai 2017
Das Quartier als Ressource am Beispiel des Widerstands der Comunidade Vila Autódromo gegen die Stadtplanungspolitik Rio de Janeiros
get pdf: Das Quartier als Ressource
Einleitung
Im Sommer 2016 wird erneut die ganze Welt nach Brasilien schauen – nach der Weltmeisterschaft 2014 ist Rio de Janeiro nun auch Austragungsort der olympischen Sommerspiele. Dieses zweite Großevent innerhalb von zwei Jahren hat große Auswirkungen auf die Bautätigkeit und städtebaulichen Eingriffe in der Metropole. Für neue Bauprojekte, allen voran der Olympiastandort, müssen vor allem die ärmeren Bevölkerungsgruppen weichen. Ganze – ehemals informell entstandene – Siedlungen werden umgezogen, die Bewohner_innen werden mehr oder weniger freiwillig in räumlich entfernter Gebiete des sozialen Wohnungsbaus umquartiert. Dieser Aspekt der olympischen Spiele wird leider allzu oft ignoriert. Im Zuge eines Praktikums am NEPHU – Núcleo de Estudos e Projetos Habitacionais e Urbanos (Forschungsgruppe zu urbanen Wohnungsprojekten) hatte ich im Sommer 2015 die Gelegenheit den konkreten Fall der Comunidade Vila Autódromo kennen zu lernen. Dieses informell entstandene Wohnviertel befindet sich im Südosten der Stadt, in der Region in der der neue Olympiastandort entstehen soll und soll deswegen umgesiedelt werden. Doch die Bewohner_innen leisten bisher erfolgreichen Widerstand gegen die Räumung ihrer Häuser.
Ausgehend von der Fragestellung welche Funktion das Quartier als Ressource in Armutsmilieus in Brasilien übernehmen kann, möchte ich mich in meiner Hausarbeit mit der Auswirkung der derzeitigen Stadtplanungspolitik der Metropolregion Rio de Janeiro auf der Quartiersebene am Fall der Comunidade Vila Autódromo beschäftigen. Ein Hauptaspekt soll dabei auf der Bedeutung des Quartiers als Ressource liegen, welches im konkreten Fall der Vila Autódromo das erfolgreiche Weiterbestehen der Comunidade sichert. Inhaltlich ist die Arbeit dazu in zwei Teile gegliedert, der erste Teil bildet die theoretische Grundlage und befasst sich mit städtischen Milieus und dem sozialen Raum nach Bourdieu, im zweiten Teil geht es um die Stadt Rio de Janeiro. Ausgehend von der derzeitigen Situation wird die gegenwärtige Stadtplanungspolitik angerissen, sowie Bezug auf die konkrete Comunidade genommen: ihre Entstehungsgeschichte, die Funktion des Quartiers und der daraus resultierende Widerstand der Bewohner_innen soll hier aufgegriffen werden.
Favela, Morro oder Comunidade?
Für die Bezeichnung der informell entstandenen Siedlungen in Brasilien gibt es viele Bezeichnungen, ihre Bedeutungen und die daraus resultierende Nutzung soll in diesem Abschnitt kurz erläutert werden. Der uns wohl geläufigste ist der Begriff Favela, der im deutsch Sprachgebrauch häufig mit Slum gleichgesetzt wird. Ein Hauptaspekt, welches einem Viertel die Definition Favela zuschreibt, ist das Fehlen oder die mangelnde Präsenz diverser Infrastrukturen, prekäre und häufig nicht komplett geklärten Wohnsituationen und die Abwesenheit des Staates, bzw. staatlicher Einrichtungen. Dazu kommt die Präsenz von bewaffneten Gruppen, welche Drogenhandel oder Milizen sein können, die in diesen Vierteln ein eigenes Rechtssystem schaffen. Der Begriff Favela ist im brasilianischen Portugiesisch auch ein Synonym für die Spaltung und Segregation der Stadt. Von Personen der Mittel- oder Oberklasse eigentlich immer abwertend und verallgemeinernd genutzt, verbindet sich dahinter der Gedanke an viele Menschen, die auf engem Raum zusammenwohnen, kriminell und prinzipiell gefährlich sind. Also manifestiert dieser Begriff nur die Situation der starken sozialen Segregation, die in den brasilianischen Städten, besonders in Rio de Janeiro sehr sichtbar ist und die auch oftmals mit einer ethnischen Segregation einhergeht. Von den Bewohner_innen der Favelas wird der Begriff, schon wieder teilweise mit einer Art trotzigem Stolz zur Identifikation genutzt.
Ein weiteres Wort welches vor allem in Rio de Janeiro viel genutzt wird ist das des morros. Morro – übersetzt Hügel oder Berg – bezeichnet die geografische Lage, da sich vor allem in Rio de Janeiro viele der informellen Siedlungen an den Hängen der Berge angesiedelt haben. Aber auch in diesem Wort schwingt eine Trennung der Stadt in morro – Hügel und asfalto – Asphalt (der andere Teil der Stadt) mit.
Beide Wörter implizieren also, dass die Siedlungen ein eigener Teil seien, welcher nicht zur eigentlichen Stadt dazugehöre. Auch implizierende die Begriffe, dass es sich bei diesen Gebieten um Armensiedlungen handelt, was nicht mehr dem realistischen, heterogenen Bild der Siedlungen entspricht, deren Grundgmeinsamkeit aus der informellen Besetzung des Gebiets und der autokonstruktiven Bauweise der Häuser besteht, die sonst aber verschiedene Entwicklungen und Facetten aufweisen. Das in der Einleitung schon genutzt Wort Comunidade – am besten übersetzt mit Gemeinschaft, ist das was von den Bewohnenden der informellen Siedlungen präferiert wird. Häufig wird durch die Beschreibung: „Wir sind keine Favela, wir sind eine Comunidade“, das Abgrenzungsbedürfnis gegenüber dem stigmatisierenden Wort Favela deutlich. Da Comunidade deutlich weniger negativ aufgeladen ist und auch von den Bewohnende der Vila Autódromo verwendet wird, soll er in dieser Arbeit genutzt werden.
Teil I
Städtische Milieus
Die Bedeutung des Wortes Milieu „zwischen den Orten“ beschreibt in der Soziologie den Zusammenhang zwischen soziale Gruppe mit ähnlichen Lebensstilen, Werten und ökonomischen Bedingungen und ihrer territorialen Anordnung im Stadtraum. (vgl. Frey 2012:503f.) Schon die Chicagoer Schule beschrieb die Stadt in den 1920er Jahren als ein Mosaik sozialer Welten und versuchte die kulturellen und sozialen Muster der Lebensweisen von spezifischen sozialen Gruppen im Raum zu erklären. (vgl. Park 1995) Von Oliver Frey wird das Milieu als ein „Verständnis von Urbanität als Lebensform, das sowohl durch soziokulturelle wie auch baulich-physische Charakteristika bestimmt ist.“ (ebd. 2012:508) erklärt. Die sozialen Gruppen die größtenteils sozial und kulturell homogen strukturiert sind, sind häufig an bestimmte Räume und Quartiere gebunden, die sich oftmals durch spezielle physisch-materielle Strukturen auszeichnen. „Durch eine erhöhte Binnenkommunikation innerhalb der Milieus bilden sich ortsgebundene Kommunikationsgemeinschaften heraus, die über lose und festere Netzwerke verfügen“. (Frey 2012:506) Das Raumverständnis von Milieus ist, dass Räume kontextabhängig konstruiert werden und die städtischen Formen die sozialen Beziehungen strukturieren. Mit diesem Verständnis gewinnt das Quartier als Ressource, sowohl im negativen als auch im positiven Sinne, für die Entwicklung und Integration seine Bewohner an Bedeutung. (vgl. Frey 2012:514)
Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass ein Milieu keine in sich geschlossene homogene Einheit ist und auch nicht mit den geographischen Grenzen und Linien der baulichen Materialität eines Viertels übereinstimmen muss, ebenso können sich mehrere Milieus an einem geographischen Ort befinden und sich überlappen oder miteinander interagieren. Auch die Bewohner_innen eines Gebiets sind nicht immer zwangsläufig mit dem Milieu verbunden welches sie umgibt. Als Milieu eines Quartiers kann also die Wechselwirkung der baulichen Charakteristika des Ortes mit der Zusammensetzung der dort wohnenden Bevölkerungsschicht und deren Verhältnis zum sie umgebenden Raum verstanden werden. Der Raum bildet hier die Grundlage für die Werterhaltung der Netzwerke und der Gemeinschaft.
Der soziale Raum nach Bourdieu
Wie lässt sich nun aber der soziale Raum verstehen? Nach Bourdieu lässt sich der Platz, den ein Individuum im physischen Raum einnimmt, über die Ausbreitung, die Oberfläche und das Volumen bezeichnen. Der Sozialraum wird daher durch eine Aneinanderreihung von sozialen Positionen verstanden. (vgl. Bourdieu, 1997/2002:160) Die soziale Position der verschiedenen Akteure zeigt sich im Raum durch die Fähigkeit den Raum auszufüllen, ihn zu besetzen. Die spezifischen Beziehungen zwischen der räumlichen Struktur und der Verteilung der Akteure auf den Raum, wird durch das Kapital definiert. (vgl. Bourdieu, 1997/2002:164) Die grundlegenden Kapitalsorten sind nach Bourdieu das ökonomisch, soziale und kulturelle Kapital. Besonders das Sozialkapital spielt bei der Ordnung und Konstruktion des Raumes eine große Rolle. Es bezeichnet die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und äußert sich durch materialistische oder symbolische Tauschbeziehungen z.B. durch Freundschaften oder Familienzugehörigkeit. Die Möglichkeit der Teilhabe am Raum, in der Stadt hängt also stark von den vorhandenen Ressourcen des Individuums ab. Die Macht über den Raum, also die Möglichkeit den Raum zu besetzen und zu beherrschen wird durch die verschiedenen Formen des Kapitals verliehen. Personen mit geringem Kapitalbesitz werden in der Regel gegenüber begehrten Gütern auf Distanz gehalten. Dies geschieht durch Ausschluss wie z.B. Gated Communities oder den Club – Effekt, der seinen Mitgliedern zusätzliches Prestige verleiht und ihr soziales Kapital durch Kontakte erhöht.
Die Nähe im physischen Raum kann somit als Akkumulation von Sozialkapital verstanden werden. „Unter all jenen Eigenschaften, die sich bei der legitimen Besetzung eines Ortes vorausgesetzt werden, gibt es einige nicht unbeträchtliche, die sich nur durch die lang-fristige Besetzung dieses Ortes selbst und den kontinuierlichen Kontakten zu seinen legi-timen Bewohnern erwerben lassen. Dies gilt natürlich primär für das Sozialkapital an Be-ziehungen und Verbindungen.“ (Bourdieu 1997/2002:165)
Kapital des Ortes
Die kollektive Kapitalausstattung aller Mitglieder des städtischen Milieus ist die Wir-Ressource und wird über in festen Netzwerken zwischen den Mitgliedern vorhandenen Wissen aktiviert. „Social capital is defined as resources embedded in one’s social net-works, resources that can be accessed or mobilized through ties in the networks”. (Lin 2005:4) Innerhalb eines städtischen Milieus werden die Werte und Lebensstile über den sozialen Austausch geschaffen, der meistens ortsgebunden ist. „Über den Ort werden Wissen und Information in Netzwerken als soziales Kapital weitergegeben.“ (Frey 2012:519)
Als soziales Kapital benötigt sie den permanenten Austausch durch soziale Kommunikation. Dies kann heute auch leicht durch die virtuellen Kommunikationsmedien ortsunabhängig stattfinden, die Basis des Vertrauens und des Respekts wird allerdings durch die Begegnungen an konkreten Orten aufgebaut und gefestigt. Persönliche Beziehungen formen sich häufig am Wohnort, in Schulen, Vereinen oder am Arbeitsplatz, wobei der Woh-nort immer noch die wichtigste Struktur ist, an dem Beziehungen durch Kontakte entstehen. Im Idealfall bieten diese sozialen Netzwerke eine Erleichterung des Lebensalltags, indem sie Zugänge zum Arbeits- und Wohnungsmarkt erleichtern und die Zugehörigkeit der Mitglieder verstärken. Durch die persönlichen Netzwerke wird die Gesellschaft strukturiert und die Individuen in die Gesellschaft integriert.
Damit der Ort als Ressource gesehen werden kann, müssen zum einen die physisch materielle Ausstattung und städtebauliche Infrastruktur und zum anderen seine sozialen Strukturen berücksichtigt werden. Die Orts-Ressource wird zum zentralen Kapital des städtischen Milieus, indem sie individuelle Aneignungmöglichkeiten zulässt und gleichzeitig als Zeichen und Symbolspeicher dient, der eine individuelle sowie kollektive Identifikation zulässt. (vgl. Frey 2012:519) Der Wohnort und das dort abrufbare Kapital der Wir- Ressource kann sich somit stark auf die Lebenschancen und den Alltag der dort lebenden Bevölkerung auswirken. Gerade in Stadtteilen mit einer überwiegend armen Bevölkerung hat das Wohnquartier eine große Bedeutung, da sich hier stark begrenzte Netzwerke herausbilden. Bewohner in benachteiligen Quartieren müssen so die Integration in die Gesellschaft häufig selbst bewerkstelligen. Da sie ein geringes ökonomisches Kapital aufweisen, sind sie an bestimme Wohnorte gebunden und müssen in diesem Milieu Kontakte aufbauen, was sich aufgrund der ebenfalls wenig vorhandenen Ressourcen der einzelnen Mitglieder als schwieriger herausstellt. Allerdings kann diese zwangsweise Akkumulation auch die Selbsthilfefähigkeit und den Zugang zu informellen Ressourcen und Informationen erhöhen und sich somit eine quartiersspezifische Strategie der Armutsbewältigung entwickeln, die einen starken Zusammenhalt schafft und einen Aufwärtstrend auslöst, der durch den Zusammenhalt alle Mitglieder mitziehen kann.
Gerade in armen Stadtteilen wie es die Comunidades in Brasilien in der Mehrheit sind, kann also das Quartier durch die soziale Interaktion und das Herausbilden von Netzwerken eine bedeutende Rolle einnehmen. Durch die lokale Begrenztheit des Quartiers und eine dichte Bevölkerung ist eine große Menge an potentiell mobilisierbarem (sozialem) Kapital vorhanden. Die Wir- Ressource kann somit zum entscheidenden Faktor werden, wie sich die Gemeinschaft der Comunidade entwickelt.
Teil II
In diesem Teil soll die Situation in Rio de Janeiro, besonders der Widerstand der Comunidade Vila Autódromo dargestellt werden und mit dem vorangegangenen theoretischen Teil verknüpft werden.
Situation Rio de Janeiro
Rio de Janeiro liegt im Südosten des Landes und ist gleichzeitig die Hauptstadt des gleichnamigen Bundeslandes. In der Stadt wohnen ca. 6.320.446 Menschen auf 1.197,463 km². (IBGE o.J.) Die Stadt Rio de Janeiro zeigt aufgrund ihrer geografischen Situation eine Besonderheit, die sich nicht in vielen brasilianischen Städten finden lässt. Aufgrund der Hügel, die die Stadt durchziehen, finden sich hier Siedlungen von Personen mit hohen und geringen Einkommen in unmittelbarer Nähe. Die autokonstruierten Siedlungen der armen Bevölkerung haben in den Nischenräumen der Stadt Platz gefunden und finden sich somit auch im direkten Zentrum der Großstadt, bzw. auf Randflächen in Vierteln mit einkommensstarker Bevölkerung. Die erste Favela, der Morro de Providência, in Rio de Janeiro entstand Ende des 19. Jahrhunderts, aber der Großteil der Favelas wurde Anfang des 20. Jahrhunderts konstruiert. Durch die Industrialisierung entstand eine große Nachfrage nach Arbeitskräften in den Städten, sodass viele Bewohner_innen vom Land in die Städte zogen und sich auf den Reserveflächen, die aufgrund der prekären Lagen uninteressant für Kapitalanlagen waren, ansiedelten. Erst Ende der 70, Anfang der 80er Jahre entstanden die ersten sozialen Bewegungen die sich für eine Verbesserung der Lebenssituationen einsetzten. (vgl. Costa 2015:31) Insgesamt gibt es ca. 763 dieser informell entstandenen Siedlungen in Rio de Janeiro, das heißt 1/5 der Bewohner_innen lebt in diesen Siedlungen, in der Metropolregion sind es 14 Prozent und im gesamten Bundesstaat leben 22 Prozent in informellen Siedlungen. (vgl. Farge 2015)
Die Segregation der Stadt zeigt sich an den harten Kanten zwischen den Vierteln und Bauweisen und häufig haben die Comunidades eine Inselfunktion. Sie liegen zwar direkt in der Stadt, aber stellen einen eigenen Raum für sich da, der zwar durchlässig ist in dem Sinne, dass viele Bewohner_innen in die umliegenden Viertel zum Arbeiten gehen, aber ansonsten keine großen Mischungen und Kontakte zulässt. Die Bevölkerung ist von daher häufig durch eine Einschränkung auf das Quartier zum Aufbau der sozialen Netzwerke beschränkt. Dies liegt an der Stigmatisierung dieser Viertel und ihrer Bevölkerung und der konstruierten Angst der Mittel- und Oberschicht vor der Unterschicht. Da der Großteil der Bewohner_innen der informellen Siedlungen farbig ist, zeichnet sich hier auch noch eine ethnische Segregation ab. Sie erscheinen somit als Parallelwelten in der Stadt. Häufig gibt es keine Puffer- oder Übergangszonen, die den Prozess abmildern und auffangen. Es entstehen physisch sichtbare Grenzen zwischen den Quartieren, wie auf den folgenden Bildern gut erkennbar.
Diese Nachbarschaften können somit als städtisches Milieu erkannt werden, das einen starken Zusammenhang zwischen der baulichen Situation (autokonstruierte und improvisierte Bauweise) und den dort wohnenden sozialen Gruppen und ihren ökonomischen Bedingungen aufweist.
Das Kapital des Individuums zeigt sich in Rio sehr deutlich an der Lage und der Wohnsituation des Viertels und dies wiederum wirkt sich häufig eher als nachteilige Ressource auf die Bewohner_innen aus, da sie durch Stigmatisierung und Verallgemeinerung noch immer durch ihr Viertel mit einer bestimmten sozialen Gruppe verbunden werden. Die informellen Siedlungen als städtisches Milieu bieten auf den ersten Blick also eine Ressource, die sich negativ auf das Individuum auswirkt.
Die gegenwärtige Stadtplanungspolitik der Stadt Rio de Janeiro
Die Stadtplanung in Brasilien und insbesondere in der Region Rio de Janeiro hat zwar in den letzten Jahren erste Anstrengungen unternommen, die Comunidades an die bestehende Stadt anzuschließen und die Versorgung mit infrastrukturellen Einrichtungen zu verbessern, ihren Fokus hat sie aber mehr auf die Bereitstellung der für die Ausrichtung verschiedener Megaevents notwendigen Infrastruktur gelegt. Von 2007 bis 2016 findet beinahe jährlich ein Megaevent (nicht nur sportlicher Art) in der Stadt statt; von den Panamerikanischen Spielen 2007, dem Fifa Fanfest 2010, Rock in Rio 2011, Rio+20 2012, Weltjugendtag und Copa das Confederações 2013, die Weltmeisterschaft 2014 und bis zu den Olympischen Spiele 2016. Vor diesem Hintergrund werden die Stadtviertel re-organisiert, re-strukturiert oder komplett umgeplant, ein Prozess welcher die ganze Stadt betrifft. Die Megaevents werden zum Hauptmotor dieses Transformationsprozesses. Die Stadt als „Hostcity“ wird neugedacht und neuerfunden, um sie noch globaler, kosmopolitischer, intelligenter, kreativer und vor allem attraktiver zu gestalten. Attraktiver vor allem im Sinne für Investoren und den Massentourismus. Das urbane Marketing wird das neue Modell der Stadtgestaltung, deren Hauptadressat das internationale Kapital ist. Wichtig ist nun nicht mehr, was die Stadt ist, sondern was sie anbieten kann um das Kapital anzuziehen. Dazu werden „Bilder“ kreiert, um die Stadt besser zu verkaufen. In Rio de Janeiro ist die Armut allerdings allgegenwärtig und sichtbar, was im Widerspruch mit den zu kreierten „Bildern“ steht. Die Favelas werden von daher als landschaftliches Problem verstanden, welches das Stadtbild stört und müssen deswegen beseitigt werden. So entsteht eine Stadtplanung für den Luxus. (vgl. de la Barre 2013:55f.)
Die Durchführung der Events ermöglichen Konditionen, unter denen sich die verschiedenen Eingriffe in die Stadt rechtfertigen lassen. Ob man tatsächlich mit Räumungen und Verdrängungen eine Weltmeisterschaft kaufen kann, wie die Wandmalerei impliziert ist streitbar, sicher ist jedoch, dass die Weltmeisterschaft wie auch Olympia als Legitimierung für Verdrängungsprozesse herhalten müssen.
Dafür wurden auch die Instrumente, welche die Möglichkeiten der Intervention in das Territorium definieren – mit der Konstitution 1988 – erneuert. Diese Interventionen sollten den Boden für eine adäquate Nutzung erschließen und aufbereiten. Der Boden sollte speziell seiner sozialen Funktion gerecht werden und wurde somit zum integrierenden Element des Rechtes auf Eigentum. (vgl. Bienenstein 2013) 2011 wurde der neue Plano Diretor (Plan) erstellt, welcher um das Repertoire der Räumungen erweitert wurde. Dies spiegelt nur den Umgang mit dem „Problem Favela“ im Laufe der Planung wider. Von Anfang an wurden die Siedlungen die durch spontane Okkupation entstanden sind und viele urbanistische sowie technische Probleme aufweisen, als etwas gesehen, was man aus dem Stadtbild entfernen müsste. Im Plano Plurianual (Mehrahresplan) der Regierung 2009 wurde eine Reduktion um 3,5 Prozent der Flächen, die von informellen Siedlungen besiedelt sind, festgelegt. Im gleichen Jahr wurden in einem Bericht 119 Siedlungen festgelegt, die geräumt werden sollen. (vgl. Magalhães 2013) Dies geschieht meistens unter dem Vorwand der Konstruktion eines Infrastrukturprojektes, eines Projektes für die Ausführung der Events oder die Revitalisierung der Hafengegen. Meistens müssen die Viertel nicht weichen, weil die Planungen ihr Gebiet betreffen, sondern weil die Planungen über das Gebiet gelegt wurden. Eine andere Argumentation ist, dass sich die Siedlung in einer Risikozone befindet, welche die Umsiedlungsmaßnahmen notwendig macht. Die Favelas zu eliminieren bedeutet für die Stadt die Freisetzung von mehr Fläche und eine Wertsteigerung des Bodens und liegt häufig im Interesse des Immobilienmarkts. (vgl. El Pais 2015)
Ein Mittel dazu ist die Implementation der UPP’s (Unidade de Polícia Pacificadora – Einheit der Befriedigungspolizei), die sogenannte Befriedigungsprozesse durchführen. Unter Be-friedigungsprozess oder Pazifizierung versteht sich hier die Installation der UPP, einer Sondereinheit der Polizei in den Comunidades. Dabei werden die Drogenbanden oder die Milizen zu mindestens aus dem oberflächlichen Bild des Viertels verdrängt. Gleichzeitig werden einige wesentliche Infrastrukturen im Viertel bereitgestellt und die Bewohner an die öffentlichen Gas- und Stromnetze, sowie die Wasserversorgung angeschlossen. Ob es sich bei diesem Prozess tatsächlich um eine Befriedigungsmaßnahme handelt, ist streitbar. Oftmals werden die vorher – meistens parallel zur gesellschaftlichen Normen und Regeln – herrschende Ordnungen, nur durch eine neue ersetzt. Denn die Polizei nimmt sich in den Vierteln eine große Macht heraus, so dürfen sie in Comunidades jede beliebige Wohnung betreten, ohne dazu eine Erlaubnis vorweisen zu müssen. Als weitere Faktor kommt hinzu, dass der Einsatz dieser Befriedigungspolizei zuerst einmal mit viel Gewalt einhergeht bei den Bewohner_innen das Gefühl einer Okkupation auslöst. Diese Einheiten genauso wie Umstrukturierungsmaßnahmen der Gebiete werden jedoch auch nur in strategisch wichtigen Comunidades als Methode eingesetzt, welche zum Beispiel in unmittelbarere Nähe zu den Eventorten liegen oder auf den Hauptverkehrswegen zu eben diesen Orten. Die Vila Autódromo um die es im Folgenden gehen soll, befindet sich an ebenso einem Ort.
Vila Autódromo
Die Comunidade befindet sich im Südosten Rio de Janeiros und wurde in den 60er Jahren von Fischern gegründet. Zu dieser Zeit war die Ostzone noch fast unbesiedelt, ohne die Luxusapartmentblöcke und Shoppingcenter, die heute das Bild prägen. Formell wurde die Comunidade 1987 gegründet, als sich die Bewohner_innen und Fischer_innen zur Vereinigung AMPAVA – Associação de Moradores, Pescadores e Amigos da Vila Autódromo (Verein der Bewohner, Fischer und Freunde der Vila Autódromo) zusammenschlossen. Die Bewohner_innen waren hauptsächlich Fischer_innen, die sich an der Lagune niedergelassen hatten, aber in den 90 Jahren wurden weitere Familien einer anderen Comunidade dorthin umgesiedelt. Die AMPAVA schaffte es signifikante Verbesserungen für die Comunidade herbeizuführen. So wurde die lokale Infrastruktur verbessert und elektrisches Licht und Telefone installiert. Diese Verbesserungen wurden alleine durch die Anstrengungen und das mobilisierte Kapital der Bewohner_innen erreicht, ohne das die Regierung diese Verbesserungen geplant hatte. Damit stieg die Identifikation der Bewohner_innen mit ihrem Viertel: “Aqui é tudo diferente. O espaço é maravilhoso. Não é uma favela, é uma comunidade: tranquila, ordeira, pacífica.” (Hier ist alles anders. Der Ort ist wunderbar. Es ist keine Favela, es ist eine Gemeinschaft: ruhig, geordnet, friedlich. (Bewohnerin Dona Pena in: Betim 2015) Bis 2014 die Umsiedlungen begannen, lebten in dem Viertel 583 Familien (ca. 2.450 Personen), ein Jahr später wohnen noch knapp 100 Familien in dem Viertel, von denen 40 auf jeden Fall bleiben wollen.
Die Geschichte der ständigen Gefahr, geräumt oder umgesiedelt zu werden, begann für die Vila Autódromo schon in den 90er Jahren als César Maia Bürgermeister der Stadt wurde. Aufgrund der privilegierten Lage im wohlhabenderen Süden der Stadt, an der Lagune Jacarepaguá, ist das Land, auf dem sich die Comunidade befindet spekulatives Erweiterungsobjekt des Immobilienmarktes. Die Begründung für die ersten versuchten Um-siedlungsmaßnahmen 1992 war, dass die Comunidade Umweltschäden verursachen würde, da viele der Häuser nahe an der Lagune gebaut sind und dass das Bild des Viertels ästhetische Schäden in der Stadtregion verursachen würde. Allerdings war es nicht möglich diese Maßnahmen umzusetzen, da sich die Bewohner_innen schon damals organisierten und gegen die Räumungen mobilisierten. 1995 und 1998 bekamen die Bewohner_innen der Vila Autódromo schließlich die Concessão de Direito Real de Uso, also die Erlaubnis das Land ihrer Grundstücke zu nutzen. Zuerst hatte die Erlaubnis nur eine Gültigkeit von 30 Jahren, wurde jedoch später auf 99 Jahre erweitert. 2005 wurde das Viertel per Gesetz zu einer AEIS – Área Especial de Interesse Social definiert, eine Region für besondere soziale Interessen, in der die soziale Funktion des Wohnens Vorrang haben soll. 2007, im Vorfeld der Panamerikanischen Spiele, intensivierten sich die Versuche die Comunidade umzusiedeln, allerdings konnte dies auch hier durch Mobilisierung der Bewohner_innen und durch die Einforderung ihrer Rechte, die sie aufgrund der Erlaubnis das Land für 99 Jahre zu nutzen besaßen, vorerst verhindert werden. Die Bewohner_innen mobilisierten das Kapital der Comunidade und organisierten unter anderem Mutirões; eine Art Nachbarschaftshilfe, die bei konkreten Projekten zum Einsatz kommt, unter anderen bei der Verbesserung eines besonders gefährdeten Gebäudes, aber auch bei der Gestaltung oder der Verschönerung von öffentlichen Räumen.
Sobald klar wurde, dass 2016 die Olympischen Spiele in Rio stattfinden würden, sahen sich die Bewohner_innen jedoch erneut von einer Umsiedlung oder Räumung bedroht. Die Comunidade befindet sich auf dem ehemaligen Gelände einer Rennstrecke, auf welchem die Cidade Olympia entstehen soll, der Hauptstandort der Olympischen Spiele. In den Plänen für diesen Standort, war die Comunidade nicht mehr präsent, entweder war die betreffende Randregion abgeschnitten, von einem Schriftzug überdeckt oder schlicht und ergreifend in eine grüne Uferpromenade umgewandelt worden. Die Comunidade wurde von der Stadtverwaltung informiert, dass es notwendig sei, sie umzusiedeln um die Sportstätten, die Athletenwohnungen und die für die Olympiastadt notwendige Infra-struktur zu installieren. Der Standortausbau der Olympiastadt entsteht mit Public Private Partnerships, welche durch ihre Beteiligung von der späteren Nutzung der städtischen Grundstücke zur Förderung von neuen Immobilienentwicklungen profitieren werden. Sie spekulieren auf den steigenden Wert der Bodenpreise im gesamten Stadtgebiet, aber besonders in dieser Region, die schon jetzt eine der höchsten Bodenpreise der Region aufweist. Auch für den Olympiastandort ist nach der Nutzung durch das Sportevent der Umbau zu einem Stadtviertel für die Mittel- und Oberschicht vorgesehen. Im späteren Verlauf wurden die Bewohner_innen informiert, dass die Comunidade nicht aufgrund des Olympiastandortes umgesiedelt werden müsse, sondern aufgrund der Infrastrukturarbeiten, welche die Region durchschneiden. Die unterschiedlichen Informationen und die Tatsache, dass das momentan als Wohnraum genutzte Gebiet danach als Grünanlage für eine hochpreisige Nachbarschaft geplant ist, lässt nicht nur bei den Bewohner_innen den Verdacht aufkommen, dass es sich eher um eine Maßnahme handelt, die Comunidade aufgrund der Interessen des Immobilienmarktes aus dieser Region zu entfernen. Zusammen mit Architektur- und Urbanististikstudent_innen der öffentlichen Universitäten in Rio de Janeiro und Niterói (Universidade Federal Rio de Janeiro und Universidade Federal de Fluminense) wurde der „Plano Popular da Vila Autódromo“ („Volks oder Bewohner_innen Plan der Vila Autódromo) aufgestellt. Dieser von den Bewohner_innen selbst initiierte Plan, bestimmt ihre Prioritäten in Bezug auf die weitere Entwicklung des Viertels und legten eine neuen urbanistischen Plan vor, der die Situation des Quartiers verbessern soll. Die im Plan angeschnittenen Punkte beinhalten den Wohnraum, Umwelt, Abwasser- und Wasserversorgung, öffentlicher Transport, Bildung, Gesundheitsservice, Kultur und wurden von den Bewohner_innen in Stadtteiltreffen diskutiert und aufgestellt und später grafisch und technisch durch die Studierenden umgesetzt. Mit diesem Plan gewann die Comunidade den ersten Preis des Urban Age Awards der „Deutsche Bank“. Laut dem Plan wären 14 Millionen Reais (ca. 4 Millionen Euro) notwendig um die gesamte Region mit Infrastruktur zu versorgen und die Familien, die sich tatsächlich in Bereichen befinden, in denen ein erhöhtes Umweltrisiko besteht, die die Schutzzone des Ufers überschreiten oder sich auf für die Baumaßnahmen unbedingt notwendigen Grundstücken befinden, in der selben Comunidade neu anzusiedeln. Mit dem Preisgeld sollte eine neue Kinderkrippe, eines der fehlenden Elemente des Viertels, errichtet werden. Gleichzeitig sollte das Zentrum des Bürgervereines erneuert werden, ein zentraler Platz angelegt werden und auf einer freien Fläche neu Wohnblöcke errichtet werden um die Familien, die umgesiedelt werden müssen, unterzubringen.
Mit diesem Plan zeigten die Bewohner_innen und die Student_innen, dass es möglich wäre, die Pläne für den Olympia Standort zu realisieren und gleichzeitig die Comunidade zu erhalten. Mit nur ein paar kleinen Änderungen, was vor allem die Zufahrten zum Gelände betraf, wäre es möglich die Comunidade besser zu erschließen und anzuschließen, ohne die Olympiastandortpläne zu ändern und das Ganze günstiger als für die ursprünglich für die Baumaßnahmen veranschlagten Kosten. Dieser Plan fand jedoch kaum Beachtung und durch einen verhängten Baustopp des Bürgermeisters war es bisher ebenfalls unmöglich die Baumaßnahmen der Krippe, des Gemeindezentrums oder der neuen Wohnhäuser zu realisieren. In einer zweiten Phase wurde nach weiteren Nachbarschaftstreffen und Gesprächen mit der Verwaltung ein neuer Plan aufgestellt, der größere Einstriche im Quartier vorsieht und sich damit noch mehr an den Plänen der Stadtverwaltung orientiert. Die Stadtverwaltung hält jedoch an ihren ursprünglichen Plänen zur Räumung des gesamten Gebietes fest und begann 2014 mit der sukzessiven Räumung. Dabei setzen sie zuerst auf die freiwillige Räumung und bieten den Bewohner_innen entweder eine Wohnung in einem Apartment des sozialen Wohnungsbauprogrammes der Regierung, minha casa minha vida (mein Haus, mein Leben) an oder Geld als Entschädigung, die individuell aufgrund des Zustands und der Qualität des Hauses berechnet wird. Diese Entschädigungen sind allerdings eine Ausnahme und Resultat des Kampfes der Be-wohner_innen für ihre Rechte. Normalerweise werden die Bewohner_innen der informellen Siedlungen in am Stadtrand liegende Wohnungsbauprogramme umgesiedelt. Damit verstärkt sich die Segregation in der Stadt und die wertvollen Flächen in der Innenstadt werden für den Immobilienmarkt freigemacht. Auf den folgenden Bildern lässt sich die Entwicklung des Wohnungsbestands der Vila Autódromo gut erkennen.
Die Vorgehensweise der Stadt ist dabei die Folgende, sobald jemand sein Haus verlässt, da er entweder eine Wohnung oder eine Entschädigung ausgehandelt hat, wird das Haus soweit zerstört, dass ein erneutes Bewohnen unmöglich wird, es wird aber nicht komplett weggeräumt. Somit entsteht bisweilen der Eindruck, man befinde sich in einem Kriegsgebiet. Außerdem werden die Zufahrten versperrt und jegliches Gewerbe untersagt.
“They are closing in on us. The commercial buildings have all gone. Just to get bread now, we have to get a taxi. They took out our neighbour’s house, and that has affected the walls of our house. Even access to the community is difficult now.” sagt Maria de Gracas. (vgl. Childrenwin 2015)
Wie auch die Bilder zeigen, wird durch ein teilweises Zerstören, sowie das Dalassen der Baureste ein psychischer Druck auf die Bewohner_innen ausgeübt, indem ihr Viertel sukzessiv zerstört wird.
Das Quartier als Ressource
Schon vom Anfang seiner Geschichte hat das Quartier Vila Autódromo als Ressource für seine Bewohner gedient. Die Bewohner_innen sind häufig schon länger als 40 Jahre in der Nachbarschaft. Die Comunidade armer Fischer_innen hat sich über die Jahre und durch die Mobilisierung der wenigen Ressourcen seiner Bewohner_innen zu einer stabilen Comunidade gewandelt, mit richtigen Häusern und einer Basisversorgung an Wasser, Strom und Gas. Indem sie ihr Kapital gebündelt und sich zusammengeschlossen haben, haben sie es geschafft, ihre Lebenssituation erheblich zu verbessern und sogar die Rechte der Bodennutzung zu bekommen. Wenn man mit den Personen spricht, die noch übriggeblieben sind, bestätigt sich dieser Eindruck immer wieder. Sie erzählen einem, das man sich einfach kannte und wenn jemand mal in einer Situation war, in der er oder sie Hilfe brauchte, dann waren die Anderen da. “I’ve lived here for 26 years, I’ve got seven children and three grandchildren. It’s safe here – there are no drug gangs, and everyone knows everyone. If one of my children is playing at the other end of the community, someone will call me and tell me,” sagt Maria Evanildo. (vgl. Childrenwin 2015) Natürlich hat sich die Situation schon stark geändert. Ein Großteil der Familien ist umgezogen, in das Wohnungsbauprogramm oder zu Verwandten, weil sei nicht Lust hatten nochmal vertrieben zu werden (manche Bewohner_innen wurden schon drei Mal umgesiedelt) oder weil ihre Häuser aufgrund der Zerstörung der Nachbarhäuser ebenfalls nicht mehr bewohnbar waren. Trotzdem kommen Viele von ihnen noch zurück und unterstützen die Übriggebliebenen bei Protestaktionen oder bei Straßensperrungen, um die Räumungs-fahrzeuge daran zu hindern die Comunidade zu befahren. Anfang Juni gab es einen Zwi-schenfall als die Polizei zwei Häuser zwangsräumen wollte, durch die Mobilisierung der Nachbarschaft konnte sie jedoch daran gehindert werden. Wessen Haus zerstört oder unbewohnbar ist, der kann sich mit Hilfe der Anderen eine neue provisorische Unterkunft bauen. Mit den wegziehenden Bewohner_innen verschwinden auch nach und nach die Geschäfte aus der Comunidade. Entweder schließen sie, da ihre Inhaber_innen wegziehen oder werden von der Stadtverwaltung geschlossen. Doch auch hier lässt sich beobachten, dass die Bewohner_innen ihre sozialen Netzwerke aktivieren und sich einbringen. Als die Bäckerei geschlossen wurde, wurde kurzerhand ein Zettel an das ehemalige Geschäft gehängt und Brot kann man nun ein paar Straßen weiter in einem Privathaus bekommen. Dies ist besonders wichtig, da das Viertel in einer Gegend liegt, in der die Preise in den Supermärkten höher sind, als in anderen Teilen der Stadt und die Bewohner_innen sich so gegenseitig bei der Sicherung der Grundnahrungsmittel unterstützen. Mit diesem Widerstandslevel, welches für Brasilien eher selten ist, hat die Comunidade schon viele Aktivisten und Reporter aus aller Welt fasziniert, die die Comunidade unterstützen, soweit sie können und die Geschichte verbreiten. Die Bewohner_innen die weggezogen sind, haben sich durch den breiten Widerstand und den Kampf für ihre Rechte zusammen mit Aktivisten und Anwälten gute Bedingungen für ihre Häuser ausgehandelt. “This kind of power from a local poor community, in which some are saying how much money they want in order to leave, is very unusual.” (Omena, in Eisenhauer 2015)
Fazit
Die Resistenz der verbliebenen Bewohner_innen der Vila Autódromo ist nur möglich, aufgrund der Mobilisierung der Wir-Ressource des Ortes. Der Wohnort diente als Kapital und auch wenn seine Bewohner_innen eher zu denjenigen gehören, die wenig Kapital besonders im Hinblick auf ökonomisches Kapital mitbringen, haben sie sich durch soziale Netzwerke ein großes Potential an sozialem Kapital aufgebaut. Wenn man bedenkt, dass laut Bourdieu der Akteur mit dem meisten Kapital die Macht über den Raum besitzt, dann kann man den Widerstand der Bewohner_innen der Vila Autódromo schon allein als Sieg verstehen. Normalerweise sollten die Akteure des Olympiastandortes mit ihrem finanziellen Kapital den Raum dominieren können und trotzdem haben es die Bewohner_innen durch die Mobilisierung der Wir-Ressource geschafft ihnen zu trotzen. Die Comunidade, als Milieu mit seinen spezifischen baulichen und sozialen Eigenschaften, in Brasilien eigentlich immer mit etwas Negativem verbunden, haben seine Bewohner_innen verstanden als Stärke zu nutzen. “Não é só pela casa, é pela dignidade. Não acho justo que por causa de uma Olimpíada a gente tenha que sair daqui” (Es geht nicht nur um das Haus, es geht um die Würde. Ich finde es nicht gerecht, dass wir wegen einer Olympiade von hier verschwinden müssen), fasst Dona Maria da Penha, eine Bewohnerhin der Comunidade zusammen. (vgl. Mendonça 2015) Es ist ein Kampf um den Raum, der in vielen Regionen in Brasilien und der Welt ausgetragen wird und die Geschichte, der Vila Autódromo zeigt, welche Macht die Wir-Ressource und das Quartier als Ort der Netzwerkbildung haben können, wenn sich die vom Rest der Gesellschaft als kapitallosen deklarierte Bevölkerung zusammenschließt und einem Akteur mit großem finanziellen Kapital entgegentreten kann. In diesem Fall steht die zivilgesellschaftliche Aktion zur Erhaltung des eigenen Lebensumfeldes, bzw. des eigenen Wohnraums den ökonomisch dominierten staatlichen Interessen gegenüber. Die Zivilgesellschaft, in diesem Falle die im sonstigen Leben benachteiligten Bewohner_innen der Favelas konnten sich hier durch Zusammenschluss und Mobilisierung ihrer eigenen Ressourcen gegenüber der stärkeren, staatlichen Macht durchsetzen.
Nachtrag im August 2016
Während die olympischen Spiele immer näher rückten, gingen die Bauarbeiten unbeirrt weiter. Im Verlauf dieser mussten noch weitere Häuser weichen, sodass die Comunidade immer mehr zusammengedrängt wurde. Elf Familien weigerten sich jedoch weiterhin ihre Comunidade zu verlassen, sodass sich die Verwaltung der Stadt Rio de Janeiro schließlich gezwungen sah, ihnen ein Bleiben zu ermöglichen. Kurz bevor die Weltöffentlichkeit zur Eröffnung der olympischen Spiele nach Rio schaute, wurden 20 neue Häuser gebaut, die von den verbleibenden Bewohner_innen eine Woche vor Beginn der Olympiade bezogen werden konnten. Ihre selbstkonstruierten Häuser und Gärten haben sie zwar verloren, aber nach drei Jahren Widerstand haben zumindest das Recht gewonnen dort zu bleiben, allen Verdrängungsmaßnamen und finanziellem Kapital zum Trotz.
Literaturverzeichnis
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